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Ukraine kündigt Gegenoffensive an: "Aus militärischer Sicht spricht alles fürs Warten"


Ukraine kündigt Gegenoffensive an
"Aus militärischer Sicht spricht alles fürs Warten"


11.07.2022Lesedauer: 4 Min.
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Trotz schwerer Attacken: Die ukrainische Armee möchte im Süden mit einer eigenen Offensive Gebiete zurückerobern. (Quelle: Glomex)

Kommt jetzt die große Gegenoffensive in der Südukraine? Das Vorhaben der ukrainischen Regierung könnte auf Probleme stoßen.

Es sind Ankündigungen mit Symbolkraft: Die Einwohner der südukrainischen Gebiete Cherson und Saporischschja sollen dringend ihren Wohnort verlassen, damit sie einer geplanten Gegenoffensive der ukrainischen Armee nicht im Wege stünden. Dazu ruft die ukrainische Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk auf. Und Verteidigungsminister Olexij Resnikow sagte der britischen "Sunday Times", Präsident Wolodymyr Selenskyj habe dem Militär befohlen, mithilfe westlicher Waffen besetztes Territorium im Süden zurückzugewinnen.

Ist das der Start der großen ukrainischen Gegenoffensive im Süden? Ganz so eindeutig ist die Lage derzeit allerdings nicht. Ein militärischer Vorstoß hätte seine Tücken.

Wie ist die Lage im Süden des Landes?

Russland hält große Teile der Südukraine besetzt. Das betrifft vor allem die Regionen Cherson und Saporischschja. In Cherson, das bereits Ende Februar eingenommen wurde, bereiten die Besatzer derzeit die Annexion der dortigen Städte und Gemeinden vor: Russische Pässe werden ausgegeben und der Rubel als offizielle Währung eingeführt. Erst vergangene Woche ernannte Russland einen früheren Agenten des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB zum Statthalter der Region. Nach russischen Angaben sollen die Menschen per Referendum entscheiden, ob sie zu Russland gehören wollen. Ein Referendum unter der Bedingung einer militärischen Besatzung gilt nach internationalen Standards weder als frei noch als demokratisch.

In den vergangenen Wochen jedoch konnte die Ukraine den Druck erhöhen: Einige Orte in Cherson wurden zurückerobert, zudem gelingt es dem ukrainischen Militär offenbar immer besser, gezielt Munitionslager zu zerstören. In der Nacht zu Montag meldete Kiew außerdem einen erfolgreichen Luftschlag auf einen russischen Kommandoposten in der Region Cherson.

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Das Institute for the Study of War (ISW) wertet täglich das Kriegsgeschehen aus und zeigt: Insbesondere in der Nähe der Stadt Cherson gibt es derzeit besonders starke Kämpfe, in der Region Saporischschja hingegen nicht. Auch der Militärexperte Gustav Gressel ist skeptisch, dass die ukrainische Armee in Saporischschja viel erreichen könnte: Zwar gebe es Gerüchte, dass ukrainische Truppen dort einen Vorstoß versuchten, es gebe jedoch zu wenige Truppen, um die eroberten Stellungen zu halten, so Gressel auf Anfrage.

Detaillierte Karten des Frontverlaufs und der Schwerpunkte derzeitiger Gefechte sehen Sie hier:

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Wie steht es um die Operation bei Cherson?

Neu ist die Operation bei Cherson nicht. "Die läuft schon seit drei, vier Wochen", sagt Militärexperte Gressel t-online. Bislang habe sich die Ukraine dort darauf beschränkt, in die Lücken der russischen Verteidigungslinie vorzustoßen. "Für mehr fehlte es ihr an Feuerkraft, zudem sind die russischen Stellungen relativ stark", so Gressel.

Nun seien allerdings schwere Waffen, vor allem Lieferungen aus Polen, Tschechien und der Slowakei auf dem Weg in den Süden. Die zerstörten Munitionslager und Partisanen, die Eisenbahnlinien sabotieren, sorgen zudem dafür, dass es den russischen Truppen an Nachschub fehlt. Das ISW sieht Hinweise dafür, dass den russischen Truppen in der Region die Boden-zu-Boden-Raketen ausgehen.

Ob das allerdings für eine erfolgreiche Gegenoffensive der Ukrainer reicht? Mit solchen Prognosen hält sich Militärexperte Gressel zurück: Zu vage seien die Angaben zur Lage der russischen Truppen, zu wenig gesichertes Wissen gebe es über die Ausstattung der ukrainischen. Denn: Die USA liefern offenbar mehr schwere Waffen, als sie öffentlich kommunizieren. Einen baldigen Durchbruch zumindest bei der Großstadt Cherson, dem administrativen Zentrum der gleichnamigen Region, aber hält Gressel durchaus für möglich. "In dieser Gegend ist ein Erfolg der Ukrainer derzeit am wahrscheinlichsten."

Warum ist der Süden so wichtig?

Cherson hat für Russland eine Schlüsselstellung. Im Süden der Region liegt die Landbrücke zur seit 2014 annektierten Krim. Es ist der einzige natürliche Landweg vom Festland zur Krim. Vom russischen Territorium führt nur eine 2018 eingeweihte Brücke zur Halbinsel. Die russische Führung ist offenbar zunehmend in Sorge, dass diese Brücke angegriffen werden könnte (mehr dazu lesen Sie hier).

Zudem bezieht die Krim einen Großteil ihres Frischwassers aus Cherson: Der Nord-Krim-Kanal lieferte bereits vor 2014 und nun wieder seit Beginn der Besatzung Wasser aus dem Fluss Dnipro auf die Halbinsel. In der Nähe der Quelle des Kanals, bei der Stadt Nowa Kachowka, gibt es derzeit ebenfalls ukrainischen Beschuss. Und auch militärisch ist die Region bedeutsam, etwa als Ausgangspunkt für Angriffe auf Mykolaiw und Odessa, der letzten verbliebenen Hafenstadt der Ukraine.

Die Rückeroberung der Stadt Cherson hätte auch einen weiteren strategischen Vorteil: Gustav Gressel verweist darauf, dass der vormals 300.000-Einwohner-Ort derzeit das einzige russisch besetzte Territorium westlich des Flusses Dnipro ist. Würde die ukrainische Armee die Stadt zurückholen, könnte sie ihre Verteidigungslinie in der Region aufgrund der natürlichen Barriere des Flusses erheblich stärken. Ein Teil der Truppen könnte dann in anderen Teilen der Ukraine eingesetzt werden.

Unstimmigkeiten zwischen Militär und Politik

Der Stadt Cherson kommt als Hauptstadt der gleichnamigen Region auch eine zentrale politische Bedeutung zu. Denn falls Russland Cherson annektiert, würde eine ukrainische Wiedereroberung ungleich schwieriger werden – selbst wenn das mögliche Referendum illegal wäre: "Russland könnte sich einer anderen Propaganda bedienen: Wer Cherson angreift, greift Russland selbst an", sagt Gressel. Zwar steht noch kein Termin für ein Referendum fest, doch die Ukraine könne sich aus diesem Grund dazu gedrängt sehen, lieber früher als später zuzuschlagen.

Nicht nur innerukrainische Gründe sprechen für eine baldige Offensive. Denn auch im Westen steigt der Druck: In den USA stehen im Herbst die Zwischenwahlen an, bei denen sich das Kräfteverhältnis im US-Kongress von den Demokraten hin zu den Republikanern verändern könnte. Die Konservativen sind deutlich zurückhaltender bei Waffenlieferungen. Und auch in Europa stehen schwierige Zeiten an: So könnten die steigenden Energiepreise die Unterstützung für die Ukraine mittelfristig bröckeln lassen. Die Zeit also arbeitet gegen die Ukraine.

Und doch: "Aus militärischer Sicht spricht alles fürs Warten", sagt der Militärexperte Gressel. Würde die Ukraine etwa erst Ende September, Anfang Oktober eine Großoffensive starten, hätte das entscheidende Vorteile: Die Freiwilligen wären besser ausgebildet, die Armee hätte mehr schwere Waffen zur Verfügung. Auch ein weiterer wichtiger Faktor käme dann zum Tragen: In der russischen Armee laufen viele Verträge aus, ganze Verbände müssten ausgetauscht werden, so Gressel: "Die Ukraine könnte Russland dann in seiner Schwächephase treffen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Gustav Gressel am 11. Juli
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