Stehen jetzt die USA vor eine Zeitenwende?
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Sogar der Suizid eines Jugendlichen befeuert die Debatte um ein Verbot von TikTok in den USA. Dabei geht es um viel mehr als nur die Social-Media-App.
Chase Nasca war gerade einmal 16 Jahre alt und kam nie zu Hause an. Der Teenager verlieΓ am 18. Februar 2022 sein Fitnessstudio im US-Bundesstaat New York und machte sich auf den Heimweg. Auf den Eisenbahnschienen aber hielt er an. Einem Freund schickte er noch eine Nachricht: "Ich kann nicht mehr." Ein Regionalzug erfasste den Jungen, der nicht mehr leben wollte.
Ein Jahr spΓ€ter beschΓ€ftigt der Selbstmord von Chase das hΓΆchste politische Gremium der USA. Seine Eltern Dean und Michelle stehen mitten im Zuschauerraum einer AnhΓΆrung im Kongress, die live im Fernsehen ΓΌbertragen wird und die sich letztlich gegen ein anderes Land, gegen China richtet. Vor den Augen der WeltΓΆffentlichkeit brechen Dean und Michelle in TrΓ€nen aus. Chases Vater kann sich kaum auf den Beinen halten. Sein Schmerz lΓ€sst ihn beinahe zusammensacken.
Ein Abgeordneter dankt ihnen fΓΌr ihr Erscheinen und spricht einen Mann an, der in der ersten Reihe sitzt: "Ihre Firma hat ihr Leben zerstΓΆrt." Der angesprochene Mann aus Singapur heiΓt Shou Zi Chew. Er ist der Chef der weltweit bekannten App TikTok, die inzwischen von 150 Millionen Amerikanern und von rund 20 Millionen Deutschen genutzt wird. Stundenlang muss er am Mittwoch den bohrenden Fragen der amerikanischen Abgeordneten Rede und Antwort stehen. Aber was hat Shou Zi Chew mit dem Selbstmord eines amerikanischen Teenagers aus New York zu tun?
Suizid nach App-Konsum
Bevor Chase sich das Leben nahm, hatte er sich ΓΌber mehrere Tage hinweg stundenlang verstΓΆrende Videos auf der Social-Media-Plattform TikTok angesehen, die zum chinesischen Mutterkonzern ByteDance gehΓΆrt. Chases Eltern verklagen TikTok: Das Unternehmen sei verantwortlich fΓΌr den Tod des Sohnes, so ihre BegrΓΌndung. Denn Chase habe nicht selbst nach gewalttΓ€tigen Inhalten gesucht, heiΓt es in der Klageschrift. Im Gegenteil, TikTok habe Chase gezielt mit deprimierenden und suizidbezogenen Videoclips geradezu ΓΌberflutet.
Das Schicksal von Chase Nasca und der fragliche Jugendschutz ist nur einer der VorwΓΌrfe, denen TikTok-Chef Shou Zi Chew in Washington ausgesetzt ist. Die weiteren lauten auf nicht weniger als: Spionage, Zensur, Desinformation und Datenklau im Auftrag von China. Was technisch gesehen ebenso ein Problem bei amerikanischen Datenunternehmen ist, wollen immer weniger US-Politiker bei einem Unternehmen akzeptieren, dessen sensible Daten prinzipiell an die kommunistische Regierung Chinas gelangen kΓΆnnen.
Als die Abgeordnete Cathy McMorris Rodgers den TikTok-Chef anspricht, bringt sie das GrundgefΓΌhl vieler Amerikaner auf den Punkt: "Wir glauben nicht, dass TikTok jemals amerikanische Werte ΓΌbernehmen wird, Werte fΓΌr Freiheit, Menschenrechte und Innovation. TikTok hat immer wieder einen Weg gewΓ€hlt fΓΌr mehr Kontrolle, mehr Γberwachung und mehr Manipulation. Ihre Plattform sollte verboten werden." Shou Zi Chew beteuert, sein Unternehmen tue alles fΓΌr den Schutz seiner Nutzer, insbesondere fΓΌr Jugendliche. Kurz vor seinem Termin im Kongress hatte er ΓΌber TikTok angekΓΌndigt, man wolle ab sofort die Daten von Amerikanern mithilfe einer speziellen Firewall vor Zugriffen aus dem Ausland schΓΌtzen.
Schon Trump wollte die App verbieten
Ausgerechnet die Social-Media-App TikTok wird derzeit zum Symbol einer amerikanischen Zeitenwende, die sich gegen einen wachsenden Einfluss von China richtet. Dabei teilen dort millionenfach vor allem Jugendliche und junge Erwachsene vor allem selbst kreierte Videoclips mit Musik, Tanzen, Rezepten, Parodien und viel unterhaltsamem BlΓΆdsinn. TikTok ist lΓ€ngst zu einem wichtigen Bestandteil der digitalen Popkultur geworden.
Aber die Gefahren fΓΌr die nationale Sicherheit schΓ€tzen immer mehr amerikanische Politiker inzwischen als so hoch ein, dass die App nicht mehr nur auf Diensthandys verboten werden soll. Vor Kurzem wurde bekannt, dass die Biden-Regierung TikTok sogar zum Verkauf seiner chinesischen Anteile zwingen will, wenn das Unternehmen einem Komplettverbot zuvorkommen wolle. Die chinesische Regierung antworte prompt. China wΓΌrde sich "entschieden dagegen wehren", sollten die USA ByteDance zwingen, seine Beteiligung an TikTok zu verkaufen, verkΓΌndete ein Sprecher des Handelsministeriums in Peking.
Solche Verbotsdiskussionen sind in dem Land, in dem Unternehmergeist und freier Markt wichtiger sind als Regulierungen, Γ€uΓerst unΓΌblich. Weil es sich aber um den Rivalen China handelt, kΓΆnnen sich selbst die zerstrittenen Demokraten und Republikaner auf eine radikale Haltung einigen.
Der Streit um chinesische Einflussnahme auf die USA ΓΌber die TikTok-App geht zurΓΌck bis in die Regierungszeit des frΓΌheren US-PrΓ€sidenten Donald Trump. Damals, im Juni 2020, wurde die Plattform zwar von vielen noch gefeiert, weil Tausende Nutzer sich organisiert hatten, um Tickets fΓΌr eine Trump-Veranstaltung zu reservieren. Als Trump dann auftrat, kam aber niemand. Dass der PrΓ€sident der Vereinigten Staaten vor den Augen der WeltΓΆffentlichkeit von Teenagern einer App aus China vorgefΓΌhrt wurde, schmeckte aber bereits damals vielen nicht. Trump selbst wollte einen Verkauf von TikTok erzwingen. Doch dazu kam es nie.
Die Front im Technologie-Krieg
Die Sicherheitssorgen in den USA kommen nicht aus dem Nichts. Ende 2022 wurde etwa bekannt, dass US-Journalisten ΓΌber TikTok ausgespΓ€ht worden sind. Die Unternehmensmutter ByteDance gab schlieΓlich zu, eine interne Untersuchung habe ergeben, dass eigene Mitarbeiter die Daten von amerikanischen TikTok-Nutzern verwendet hΓ€tten. Die Mitarbeiter seien dann entlassen worden. Der Spionageskandal verschwand wieder aus dem ΓΆffentlichen Interesse. Der Argwohn in Amerika aber ist geblieben.
WΓ€hrend die politische Diskussion um TikTok in den USA auf immer neue HΓΆhepunkte zusteuert, hinkt die Debatte in Deutschland Γ€hnlich wie schon bei dem chinesischen Telekommunikationsanbieter Huawei hinterher. Ausgerechnet in der Woche der TikTok-AnhΓΆrung ist auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser in Washington. Ein wesentlicher Grund fΓΌr ihre Reise ist auch die Abstimmung mit der US-Regierung ΓΌber Spionagegefahren durch China.
Eine Grundlage fΓΌr ein generelles Verbot der App sehe sie nicht, sagte Faeser. Man mΓΌsse aber verstΓ€rkt darΓΌber aufklΓ€ren, dass TikTok eine Firma sei, bei der "die Daten natΓΌrlich abflieΓen kΓΆnnen". Auch in Robert Habecks Wirtschaftsministerium soll ein TikTok-Verbot nach Informationen von t-online bislang kein Thema sein.
Je grΓΆΓer der Widerstand gegen TikTok in den USA wird, desto stΓ€rker lobbyiert der Konzern in Washington. Nach t-online-Informationen hat das Unternehmen gerade erst einen Mietvertrag fΓΌr ein groΓes BΓΌro im Stadtteil Noma, in LaufnΓ€he des US-Kongresses, unterschrieben.
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TikTok-Chef Shou Zi Chew lieΓ vor seiner AnhΓΆrung eine groΓe Gruppe von bekannten TikTok-Nutzern vor dem Kapitol aufmarschieren. Viele sehen ihr auf die Plattform gestΓΌtztes Influencer-GeschΓ€ftsmodell bedroht. TikTok baut auf den Druck von 150 Millionen US-Nutzern, welche die App fΓΌr die harmlose Unterhaltung lieben.
Ob TikTok vor Gericht am Ende fΓΌr den Suizid des 16-jΓ€hrigen Chase Nasca mitverantwortlich gemacht wird oder nicht β der amerikanische Tech-Unternehmer Jason Calacanis machte schon 2022 Anti-China-Stimmung, indem er die Regierung verantwortlich fΓΌr den Drogen- und Medienkonsum der Amerikaner machte. Auf Twitter schrieb er: "Fentanyl und TikTok: Wie die Chinesen still und heimlich Amerikaner tΓΆten". Eines ist schon jetzt klar: Γber TikTok verlΓ€uft lΓ€ngst die Front im Technologie-Krieg zwischen den USA und China.
Hinweis: Falls Sie viel ΓΌber den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.
- Eigene Recherchen vor Ort
- forbes.com: TikTok Spied On Forbes Journalists (englisch)
- TikTok-AnhΓΆrung im US-Kongress (englisch)
- Twitter-Acount von Jason Calacanis
- Besuch von Innenministerin Nancy Faeser