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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ausnahmezustand in Los Angeles "Mir fehlen die Worte, um diese Nation zu beschreiben”
In Los Angeles eskalieren die Proteste gegen Trumps Massenabschiebungen. Zwischen Tränengas, nächtlichen Plünderungen und wachsender Verzweiflung zeigt sich, wie tief gespalten die USA in der Migrationsfrage sind und wie brüchig der Rechtsstaat ist.
Bastian Brauns berichtet aus Los Angeles
Plötzlich hagelt es Kugeln an diesem Nachmittag. Sie klacken auf den Boden, abgefeuert aus den Waffen der Nationalgardisten vor dem Bundesgefängnis in Los Angeles. Laut ist der Knall. Grell das gleißende Licht. Ätzend das reizende Gas, das aus den platzenden runden Patronen auf die Straße strömt.
Die Menge der Demonstranten läuft in Panik auseinander. Einige reiben sich die Augen, obwohl es das nur schlimmer macht. Andere husten, weil ihnen der Atem stockt. Ein Mann brüllt die Soldaten an: "Was zum Teufel tut ihr da? Das ist ein friedlicher Protest. Wechselt euren Beruf! Ihr steht auf der falschen Seite der Geschichte."
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- Proteste gegen Migrationspolitik: Texas kündigt Einsatz von Nationalgarde an
Die Soldaten der kalifornischen Nationalgarde verziehen keine Miene. Auch Scharfschützen haben ihre Positionen auf dem Dach bezogen. Sie haben ihre Befehle. Eine echte Eskalation scheinen sie trotz der aufgeheizten Stimmung aber vermeiden zu wollen. Als sich die Tränengas-Wolken lichten, ziehen sie sich wieder zurück. Reporter und Demonstranten bekommen deutliche, aber freundliche Hinweise, sich nicht mehr weiter zu nähern.
Seit Stunden heißt es in regelmäßigen Abständen: "Bitte aus dem Weg!" Immer dann, wenn eine Wagenkolonne der Abschiebe-Behörde ICE mit verdunkelten Scheiben von der Straße einbiegt, um auf das Gefängnisgelände zu fahren.
"Sie bringen Kinder, Frauen und Menschen, die hier einer ehrlichen Arbeit nachgehen", ruft KC. Die junge Frau ist Amerikanerin, aber stolz auf ihre mexikanischen Wurzeln. "Unsere Nachbarn werden wie Tiere behandelt und einfach von der Straße, aus Schulen, Kirchen und aus ihren Häusern geholt", sagt sie. "Mir fehlen die Worte, um diese Nation noch zu beschreiben." Die USA, sagt KC, seien für sie inzwischen eine Diktatur.
Das marode US-Einwanderungssystem
Was in Kaliforniens größter Stadt mit rund 4 Millionen Einwohnern und einem hohen Anteil an Einwanderern seit Tagen geschieht, bringt ein ganzes Land in Aufruhr: die martialischen Massenverhaftungen der ICE-Beamten, der Einsatz der tausenden Nationalgardisten gegen die eigenen Bürger, sogar die Entsendung von Infanteristen der U.S. Marines. Die Folgen der lange angekündigten, rigorosen Abschiebepolitik der Trump-Regierung werden für immer mehr Menschen sichtbar. Dabei wird offensichtlich, wie marode das amerikanische Einwanderungssystem in Wahrheit ist.
Denn tatsächlich halten Millionen von illegalen Einwanderern die Wirtschaft dieser Nation am Laufen. Sie zahlen Steuern und Sozialabgaben, ohne damit Ansprüche zu erwerben. Und obwohl das Land ohne die vielen billigen Gärtner, Gastronomen, Handwerker und Feldarbeiter über Nacht zum Stillstand kommen würde, werden die meisten von ihnen nie über einen legalen Status verfügen. Für den amtierenden US-Präsidenten und seine Regierung sind sie trotzdem das erklärte Ziel massenhaft angekündigter Abschiebungen.
"Eine Nation in Not"
"Wen die Abschiebebehörde ICE in militärischer Manier in diesen Tagen in die Finger bekommt, ist nicht unbedingt ein Gewalttäter", sagt Sergio, der neben seinem Sohn Quentin vor dem Bundesgefängnis in Los Angeles steht. In ihren Händen halten sie eine riesige, aber umgekehrte US-Flagge. "Jeder im Land weiß, was diese Symbolik zu bedeuten hat", sagt Sergio. "We are a nation in distress", also eine Nation in Not.
Er sei wie jeder andere Demonstrant hier dafür, dass illegale Ausländer, die in Amerika Verbrechen verüben, abgeschoben werden. "Das steht für mich vollkommen außer Frage", sagt Sergio. Doch das seien nicht die Leute, die die Trump-Regierung hinter die Gefängnismauern bringe. Stattdessen treffe es Menschen, die nichts verbrochen hätten, außer einst illegal ins Land gekommen zu sein. "Imperien im Niedergang", sagt Sergio, "suchen sich immer die Fremden als Sündenböcke."
Zu glauben, es werde nur die Ausländer treffen, sei ein gefährlicher Irrtum. "Heute sind es die Illegalen, morgen seid ihr es selbst", mahnt Sergio – und warnt vor der Abschaffung rechtsstaatlicher Prinzipien. "Die müssen selbst für Verbrecher gelten, sonst verlieren auch wir unsere Rechte", sagt er. Dass Trump nun auch noch das Militär gegen die eigenen Bürger und die Arbeitskräfte dieses Landes einsetzt, hält er für einen Fehler historischen Ausmaßes.
"Plötzlich müssen wir mit allem rechnen"
Hinter den schmalen, hohen Fenstern der großen Haftanstalt im Hintergrund regen sich die neuen Gefangenen. Mit kleinen Handspiegeln und LED-Taschenlampen versuchen sie, die Menge auf der Straße auf sich und ihre Situation aufmerksam zu machen. Wer Geld und Beziehungen hat, kann zumindest auf Kaution vorerst wieder freikommen. Doch nur wenige haben diese Möglichkeit. Ihre Zukunft und die ihrer Familien ist ungewiss. "Ihr seid doch selbst zur Hälfte Mexikaner" wirft ein Mann im Rollstuhl den Polizisten entgegen, die einen äußeren Ring um den Komplex gebildet haben. "Ihr solltet auf unserer Seite stehen", ruft er.
"Migranten sind in diesem Land nicht mehr sicher", sagt Dylan. Auch er hat sich vor dem Gefängnis eingefunden. Er fühlt sich persönlich betroffen. Seine Freundin stammt aus Vietnam und kann dank eines Visums in den USA leben. "Plötzlich müssen wir mit allem rechnen. Wer weiß, ob sie morgen einfach gehen muss", sagt Dylan. So wie ihm würde es vielen seiner Freunde gehen. Irgendetwas müsse er einfach dagegen tun. Und darum sei er hier.
Verkehr kommt zum Erliegen, Solidarität zum Vorschein
Ein paar Kilometer weiter treffen mitten in der Innenstadt von Los Angeles zwei spontane Protestzüge aufeinander. Es sind inzwischen Tausende, die plötzlich auf die Straßen strömen. Menschen, die zunächst nur zuschauen, reihen sich dann ein. "Wohin wir gehen, wissen wir nicht", sagt ein Pärchen. Sie hätten die Demo zufällig gesehen und seien dann einfach mitgelaufen. Die meisten von ihnen gehen zu Fuß, aber viele kommen auch mit ihren Fahrrädern, Rollern und Motorrädern. Die Motoren aufgemotzter Geländewagen heulen auf.
Der große Pulk bringt den Feierabendverkehr der Auto-Metropole zum Erliegen. Aber viele Fahrer scheint diese erzwungene Verzögerung nicht groß zu stören. Neugierig filmen sie aus ihren Autofenstern. Viele drücken auf ihre Hupen, nicht aus Wut, sondern aus Solidarität. Es geht in dieser liberalen und von Einwanderern geprägten Stadt für viele gegen den gleichen Feind: Donald Trump und die Abschiebebehörde ICE. Auf einem Plakat werden deren einschüchternde Methoden mit jenen der Gestapo im Nationalsozialismus verglichen.
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Wenn Proteste zu Plünderungen werden
Ein paar Demonstranten rufen "Fuck the LAPD!" Nicht nur Trumps Truppen sind ihr Feindbild, sondern auch die Polizeibehörde von Los Angeles. Hunderte Festnahmen gab es in den vergangenen Tagen, an denen der meist friedliche Protest vor allem in den Abend- und Nachtstunden in gewaltsamen Ausschreitungen ausartete. Es sind dann oft ganz andere Gesichter als jene, die mittags am Gefängnis stehen und um ihre Nachbarn und Familien bangen.
Vielfach sind es jugendliche Banden, die mitten in der Nacht durch die Innenstadt der Metropole am Pazifik ziehen. Angestachelt vom Ausnahmezustand erzwingen sie ihren Willen mit Gewalt. Zu Hunderten rotten sie sich zusammen. Maskiert reißen sie gemeinsam selbst schwere Metallgitter von den Ladenzeilen. Dann schmeißen sie die Schaufenster der Geschäfte ein und schlüpfen blitzschnell ins Innere. Während die Alarmsirenen ringen, rennen ganze Horden davon – mit ihrer Beute unter den Armen.
Es trifft nicht nur einen Apple Store und den Flagship-Store von Adidas im Zentrum der Stadt. Noch Stunden später liegen die entleerten Kartons auf der Straße. Im Jewelry District ist ein ganzer Häuserblock verwüstet. Kleine, inhabergeführte Geschäfte mit Parfüm und Schmuck liegen in Trümmern. Vor seinem Laden in der Olive Street steht Monty und wirkt verzweifelt und desillusioniert. Freunde helfen ihm, die Scherben zusammenzukehren und die verbogenen Gitter zumindest wieder vor die Scheiben zu stellen.
"Im letzten Jahr wurde ich viermal ausgeraubt. Heute ist es das fünfte Mal", sagt er. Die Versicherung habe ihm längst den Vertrag gekündigt. "Ich habe keine Ahnung, wer für meinen Schaden aufkommen soll." Sein Kollege, der gerade eine Metallplatte vor dem klaffenden Loch in der Scheibe anbringt, sagt: "Alleine die Zerstörung der Ladenfront dürfte uns 54.000 Dollar kosten." Der leer geräumte Warenraum sei da noch gar nicht mitgerechnet.
Migranten gegen Migranten
Zwei, die ihre Wohnungen über dem Geschäft von Monty haben, sind wütend, wollen ihre Namen aber nicht nennen. "Was sollen das für Proteste für die Rechte von Migranten sein?", sagt der eine. "Wir sind Migranten", sagt der andere. "Ja, aber wir sind die Migranten, die arbeiten", ergänzt der Erste. "Wenn es nach mir geht, sollten die alle noch heute abgeschoben werden", sagt der Zweite.
Er zeigt dabei auf eine Gruppe von Jugendlichen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Und dann ein Video, das er mit seinem Smartphone aufgenommen hat. Er will es nicht versenden, weil es ein Beweismaterial für die Polizei sein soll. Mehr als hundert Menschen sind auf der Aufnahme zu sehen. Sie stürmen den Laden von Monty. Darunter ein Mann, der eine mexikanische Flagge in den Händen hält, obwohl er selbst kein Mexikaner ist.
"Dieser Typ steht gerade auf der anderen Straßenseite und lacht uns aus. Die Polizei tut nichts", sagt der Helfer mit dem Handy und deutet auf die Kreuzung hinter ihm: Dort steht der Mann von dem Randale-Video und schwenkt die mexikanische Fahne, die in diesen Tagen nicht nur für Solidarität, sondern auch für Anarchie zu stehen scheint. Ein Polizist sitzt in seinem Wagen und macht sich Notizen. Seine Einheit traf erst ein, als es längst zu spät war. "Sie schaffen es nicht, uns zu beschützen", sagt Monty. Es sei schlicht hoffnungslos.
Die Läden um die Ecke sehen nicht besser aus. Ihre Besitzer kehren die Scherben auf und wirken dabei so, als müssten sie sich nun an diese neue Normalität gewöhnen. Ein paar Männer stehen gegenüber im Halbdunkel, mit ihren Gesichtern zur Wand. Ihre Arme haben sie hinter dem Rücken verschränkt, gefesselt mit glänzenden Handschellen. Ein paar der Täter konnten die Polizisten offenbar doch fassen. Der Mann mit der mexikanischen Flagge steht nur rund 20 Meter entfernt und ruft den Beamten entgegen: "Lasst sie gefälligst gehen. Sie sind unschuldig. Ich war den ganzen Tag mit ihnen unterwegs." Dann zieht er weiter.
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Ausgangssperre, um die Kontrolle wiederzuerlangen
Die nächste Nacht in L.A. soll anders verlaufen. Nach Tagen der scheinbaren Gesetzeslosigkeit hat die Bürgermeisterin eine kollektive Ausgangssperre für Teile der Innenstadt verhängt. Ab 20 Uhr Ortszeit darf sich in der Innenstadt niemand mehr draußen blicken lassen. Auch Supermärkte müssen früher schließen. Am Nachthimmel kreisen laut brummend die Helikopter der Polizei. In den Straßenschluchten hallt das Knallen von Böllern und Blendgranaten.
Los Angeles bleibt eine Stadt im Ausnahmezustand. Der US-Präsident ist überzeugt: "Wenn wir die Nationalgarde nicht entsandt hätten, würde Los Angeles jetzt brennen." So lautet Donald Trumps Einschätzung seines eigenen Handelns an diesem Tag. In der liberalen Millionenstadt und ihrem großen Bundesstaat sehen die meisten das gänzlich anders. Für sie ist Trumps aggressives Vorgehen, von den Abschiebungen bis zum Militäreinsatz, der Grund für das kriminelle Chaos und die Unruhen. Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom warnt daher am Abend vor diesem Präsidenten: "Die Demokratie wird angegriffen."
- Eigene Beobachtungen, Recherchen und Gespräche vor Ort