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Kolumne: Der SPD fehlt ein Feuerkopf wie Bernie Sanders


Sozialdemokratie
Der SPD fehlt ein Feuerkopf wie Bernie Sanders

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 20.01.2018Lesedauer: 5 Min.
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Der demokratische US-Senator Bernie Sanders: Im Wahlkampf machter er Hillary Clinton das Leben schwer.Vergrößern des Bildes
Der demokratische US-Senator Bernie Sanders: Im Wahlkampf machter er Hillary Clinton das Leben schwer. (Archivbild) (Quelle: Shwan Thew/dpa)

Was fehlt den Sozialdemokraten? Herzblut, Ideen, Mut. Radikal und couragiert sind heute vor allem ältere Herren wie Bernie Sanders, die uns aufrütteln, damit wir uns empören – über grassierende Ungerechtigkeit und schamlosen Reichtum, selbstherrliche Banken und gezinkte Autos.

Vor ein paar Tagen erschien im "Guardian" ein Artikel von Bernie Sanders, der mir auffiel. Bernie, wie sie ihn in Amerika nachnamenlos nennen, war der linke Präsidentschaftskandidat, der es Hillary Clinton schwer machte. Er ist 76 Jahre alt und ein Feuerkopf. Den Artikel, der eigentlich ein Manifest ist, hat er mit "Lasst uns den Milliardären die Macht entreißen" überschrieben.

Bernie fängt nicht klein an, nicht mit Amerika oder Europa oder China. Er beschäftigt sich mit dem ganzen Planeten, er schaut von hoch oben auf uns herab und was er sieht, ist erschreckend: Die sechs reichsten Erdenbürger haben so viel Geld wie die Hälfte der Menschheit, das sind 3,7 Milliarden Menschen. Jeder siebte Mensch muss von knapp einem Euro leben und 29.000 Kinder sterben an jedem Tag an Brechdurchfall, Malaria und Lungenentzündung. Dann beschreibt er die laszive Protzerei des Sultans von Brunei (500 Rolls Royces und einen Palast mit 1788 Räumen) und setzt die Monarchen im Nahen Osten, die im absurden Überfluss leben, gegen die 29 Millionen Kinder, die in derselben Region in Armut leben.

An Bernie Sanders gefällt mir erstens, dass er groß denkt und die Dinge, die wir ja im einzelnen kennen, in den planetarischen Zusammenhang rückt. Zweitens gibt er nicht auf, gründet seine politischen Vorstellungen unbeirrbar in der Moral und redet uns ins Gewissen.

Warum neigen nur noch ältere Herren zur Radikalität?

Ich frage mich schon lange, warum eigentlich nur noch ältere Herren zur Radikalität neigen. Stéphane Hessel war 93, als er "Empört Euch" schrieb, einen Aufschrei auf 13 Seiten, der von "Occupy" und den Protestbewegungen in Südeuropa gehört wurde. Viele lasen das Büchlein als Testament, das er mit der Autorität eines langen, achtbaren Lebens an die Jüngeren richtete. Auch Bernie Sanders scharte junge Menschen um sich, feuerte sie mit seinem Enthusiasmus an und ließ Hillary Clinton im Wahlkampf so einfallslos und blutleer erscheinen, wie sie dann gegen Donald Trump verlor. Bernie hat die Demokratie verteidigt und hört nicht auf damit.

Stellen Sie sich vor, am Sonntag tritt in Bonn ein deutscher Bernie Sanders auf, der groß denkt und nicht klein. Der mit Leidenschaft seine Überzeugungen vertritt und seiner Partei sagt, wie sie sein soll und wie sie den Kanzler stellen kann, nicht gleich, aber bald. Ich weiß schon, so gewinnt man nicht unbedingt die nächste Wahl, aber die Herzen, was ja schon einmal ein Anfang wäre. Stellen Sie sich vor, die Sozialdemokraten hätten nicht länger Angst davor, eine falsche Entscheidung zu treffen. Auf jeden Fall könnte so eine Haltung verlorene Heerscharen ins Sinnieren bringen, ob sie nicht zurückkommen sollten.

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Erinnern Sie sich noch? Als Martin Schulz Anfang vorigen Jahres aus Brüssel nach Deutschland hereinschneite, da kam er in den Meinungsumfragen schlagartig auf mehr als 30 Prozent, weil er Leute anzog, die die SPD nicht mehr wählten, aber noch erreichbar waren. Sie waren kurz wieder da und dann schnell wieder weg, als er nicht hielt, was er versprach. Vielleicht sind die Abtrünnigen ja in der Warteschleife und kehren zurück, wenn man ihnen einen Grund gibt. Daran ließe sich doch anknüpfen, oder?

Das Land hat der SPD viel zu verdanken

Die SPD war einmal meine Partei. Ich bin nicht Parteimitglied, aber ich habe sie gewählt. Das Land hat ihr viel zu verdanken: Willy Brandt und Helmut Schmidt, die Entspannungspolitik, dieses Mehr-Demokratie-Wagen und die Liberalität, die wir fast zur Staatsraison erhoben haben. Seit den neunziger Jahren ist mir die Partei abhanden gekommen. Björn Engholm. Rudolf Scharping. Oskar Lafontaine. Kurt Beck. Sigmar Gabriel. Martin Schulz. Jeder durfte mal Vorsitzender und/oder Kanzlerkandidat sein und konnte es nicht. Viel Gewusel, viel "Ich sach mal" und "Man muss die Menschen mitnehmen" – ja wohin denn? In die Bürgerversicherung. In frühere Rente. In Steuerhöhungen. In ein wenig mehr Europa, aber nicht zu viel. Bisschen wenig, oder?

Es gibt einiges, worum sich die SPD weniger kümmert, als angemessen wäre. Zum Beispiel um die kollektive Weigerung von Teilen der Automobilindustrie, sich an Regeln und Vorschriften zu halten. Auch gab es noch nicht mal eine minimale Aufregung darüber, dass der VW-Manager Oliver Schmidt, der in den USA zu sieben Jahren Gefängnis wegen der Abgasmanipulation verurteilt worden ist, die wohl kaum seine Erfindung war, auch noch die fristlose Kündigung von seinem Arbeitgeber erhielt. Alles nicht so wichtig, immer weiter so? Welcher alte Mann empört sich in Deutschland, für uns alle?

Oder die Banken: Leitzinsmanipulation. Strafzahlungen in Amerika wegen fauler Kredite. Verstöße gegen US-Sanktionen. Der Fall Kirch. Viele Milliarden an Steuergeldern von der Bundesregierung zur Rettung etlicher Banken, als 2008 die Weltfinanzkrise ausbrach. Ich schaue mir immer mal "The Big Short" an, den besten Film über das zynische Spiel der Banken mit ihren Kunden in Amerika, das 2008 mit der Implosion der Investmentbank Lehman endete. Sehr lehrreich. Vorwärts, und bloß nicht vergessen.

Der schlaue Franz Walter, der in Göttingen Politik lehrte und auch nicht mehr ganz jung ist, hat neulich in der "FAZ" eine Grundsatzbetrachtung über die Irrläufe der SPD seit der Agenda 2010 geschrieben. Ich teile nicht seine Einschätzung, dass Gerhard Schröder damals die Seele der SPD verkauft hat, aber er beschreibt jede Menge Bedenkenswertes, und wenn es mit rechten Dingen zugeht, haben nicht nur Ralf Stegner und Sigmar Gabriel den Aufsatz gelesen.

Auch Walter denkt groß. Er wirft der SPD vor, dass sie kein Verständnis für Kultur hat – für Kultur verstanden als "Inbegriff dessen, was Menschen sind und was ihnen im Leben wichtig ist". Er beklagt, dass sie die Gesellschaft vernachlässigt hat und auf die Wirtschaft fixiert war. Dabei kommt er zu einer spannenden Überlegung: Da Heimat und Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Verwurzelung, Bindung und Anbindung offenbar zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehören, wäre es an der Zeit, dass sich SPD des Wertekonservativismus annimmt. Der war einmal das Primat der Union und wird nun in seiner Schrumpfform, xenophob und deutschtümelnd, von der AfD reklamiert. Globalisierung mit klassischen Werten zu verbinden wäre aller Ehren wert, finde ich.

Kampf um Gerechtigkeit ist nie zu Ende

Es ist ja verständlich, wenn durch Wahlkämpfe und Machtkämpfe, durch Wahlniederlagen und Sondierungsmarathonsitzungen ausgelaugte Sozialdemokraten nicht die Muße zum innigen Nachdenken bleibt. Aber dort draußen, liebe Genossinnen und Genossen, gibt es Überlegungen und Manifeste, die es verdienen, zur Kenntnis genommen zu werden, zumindest von euern Referenten. Sie könnten euch weiterbringen, denn der Kampf um Gerechtigkeit in einer Gesellschaft ist nie zu Ende.

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Bernie Sanders denkt nicht nur groß, er will auch hoch hinauf. Sein Aufschrei über die Ungerechtigkeit der Welt mündet in den Vorschlag, eine internationale progressive Bewegung zu gründen und gegen den "Kult des Geldes" und "das Überleben der Stärksten" anzugehen. Was dazu gehört? Mut, sagt Bernie, und Idealismus, denn der Planet gehöre uns und nicht den Wenigen.

Gut, Bernie, halt uns weiterhin den Spiegel vor.

Weiterführende Informationen:
- Beitrag von Bernie Sanders bei "The Guardian" (englisch)

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