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Friedrich Merz als Kanzler: Das sind die drängendsten Herausforderungen


Deutschland nach der Wahl
"Das erklärt so einiges"

InterviewVon Marc von Lüpke

25.02.2025Lesedauer: 7 Min.
Olaf Scholz und Friedrich Merz: Der CDU-Politiker übernimmt zahlreiche politische Baustellen.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz und Friedrich Merz: Der CDU-Politiker übernimmt zahlreiche politische Baustellen. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)
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Die Deutschen haben gewählt, schnell will Friedrich Merz Kanzler werden. Was sind die drängendsten Herausforderungen, wie könnten die Probleme Deutschlands gelöst werden? Historiker Michael Wolffsohn analysiert die Lage.

Die Wahlen sind vorbei, das Ergebnis freut vor allem die AfD – auch wenn Friedrich Merz und seine Union nun die stärkste Kraft im Bundestag sind. Nun braucht Deutschland schnell eine neue handlungsfähige Regierung angesichts der außenpolitischen Herausforderungen und Bedrohungen. "Die Alarmglocken läuten", warnt Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist.

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Was sagt das Wahlergebnis über Deutschland und seine Gesellschaft aus? Wie lässt sich die AfD erfolgreich eingedämmen? Und wieso könnte die Bildung einer Minderheitsregierung durch Merz der Schlüssel zum Erfolg sein? Diese Fragen beantwortet Michael Wolffsohn im Gespräch.

t-online: Professor Wolffsohn, Deutschland hat gewählt, vom Stimmenzuwachs her gesehen darf sich die AfD als Gewinnerin fühlen. Was sagt das Wahlergebnis insgesamt aus?

Michael Wolffsohn: Das Wahlergebnis spiegelt den gesellschaftlichen Zustand: Es herrscht eine große Orientierungslosigkeit. Die deutsche Gesellschaft ist eine Gesellschaft im Umbruch, dies zeigt sich auch im Wandel des Parteiensystems, sprich der Fragmentierung, die eine Reaktion darauf darstellt. Deutschland befindet sich zudem nicht nur in einer Wirtschaftskrise, sondern auch in einer ideologischen Krise. Außerdem haben wir es mit einer völlig neuen Demografie – verglichen mit der der frühen Bundesrepublik – zu tun.

Die SPD hat ein historisch schlechtes Ergebnis erzielt, die CDU blieb hinter ihren Erwartungen zurück, während die FDP gleich ganz aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Alte politische Patentrezepte funktionieren nicht mehr?

Die alten Wahrheiten gelten nicht mehr, die ebenso alten Parteien haben an Attraktivität verloren, ohne dass erkennbare pragmatische Alternativen vorhanden wären. Das erklärt so einiges, denn die rechten und linken Ränder bieten Parolen und keine solide Orientierung.

Moment! Die AfD hat immerhin mehr als 20 Prozent der Stimmen gewonnen.

Der Zuspruch für die AfD nährt sich aus verschiedenen Quellen. Ein Grund besteht darin, dass offenbar sehr viele Menschen in Deutschland mit dem traditionellen Politikangebot unzufrieden sind. Dazu kommt noch etwas anderes: In Teilen der Öffentlichkeit wird die AfD als ein Underdog wahrgenommen, der von der übrigen Politik und einem Großteil der Medien angegriffen wird. Daraus erwächst Solidarisierung – und auch Sympathie – für die AfD.

Zur Person

Michael Wolffsohn, 1947 in Tel Aviv geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Heute ist der Autor zahlreicher Bücher publizistisch und als Vortragsredner tätig. Wolffsohn hat im Laufe der Zeit vielfach Ehrungen und Preise erhalten, so kürte ihn der Deutsche Hochschulverband 2017 zum Hochschullehrer des Jahres. 2023 erschien sein Buch "Eine andere Jüdische Weltgeschichte", am 11. März 2025 veröffentlicht Wolffsohn sein neues Buch "Feindliche Nähe. Von Juden, Christen und Muslimen".

Was ist Ihre Empfehlung für den künftigen Umgang mit der AfD, die nun die zweitstärkste Kraft im Bundestag ist?

Ich bin wahrlich kein Anhänger der AfD. Aber dieses ganze Brandmauer-Gerede zementiert nur den vermeintlichen Märtyrerstatus dieser Partei. Davon profitiert die AfD. Bei der Analyse politischer Entscheidungen hilft Nüchternheit weiter: Was ist? Warum ist es so? Wie kann ich es ändern, wenn es mir nicht gefällt? Das sind die drei entscheidenden Punkte. Wenn wir die Wahlergebnisse der AfD 2021 und 2025 vergleichen, zeigt sich: Die Brandmauer-Strategie ist völlig gescheitert.

Was nun?

Wenn ich mehrmals einen Fehler begangen habe, muss ich mir überlegen, wie ich es anders machen kann. Friedrich Merz hat es mit den Abstimmungen zur Migration kurz vor den Wahlen versucht, bei der die AfD mit seiner Union gestimmt hat. Als Reaktion darauf gab es große Demonstrationen, die nichts anderes als eine Selbstbestätigung der Anhänger der Brandmauer gewesen sind. Das Ergebnis war, gemessen am Ziel, allerdings praktisch null: Nämlich die AfD bei der Wahl möglichst kleinzuhalten. Im Bundestag nun wäre die Bildung einer Minderheitsregierung durch die Union unter Friedrich Merz ein vernünftiger Schritt.

Das dürfte allerdings unrealistisch sein. Welchen Vorteil sehen Sie in einer Minderheitsregierung, die in Deutschland eher unüblich ist?

Eine Minderheitsregierung der Union mit wechselnden Mehrheiten würde es Merz ermöglichen, Mehrheiten für ganz konkrete Themen zu erzielen, um eine Politik zu machen, die dem jeweiligen Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht. In der Migrationspolitik würde die Union auf Stimmen der AfD zählen können, in der Sozialpolitik auf die der SPD. Gegenüber Amerika sollte uns an einer guten transatlantischen Bindung gelegen sein, wozu sich ebenfalls mit der SPD Mehrheiten finden ließen.

Die Union würde auf heftige Kritik stoßen, wenn sie erneut auf die Stimmen der AfD hofft.

Dieses Jammern über den Erfolg der AfD hilft wirklich niemandem. Politisch kann ich das Entsetzen über die AfD nachvollziehen, aber das lenkt nur vom Problem selbst ab: Diese ganze sogenannte Brandmauer ist eine völlig fehlgeschlagene Strategie, ich wundere mich, dass man dieses Fehlverhalten immer noch nicht eingesehen hat. Wenn etwas Richtiges gemacht werden soll und auch die AfD dafür stimmt, geht die Welt davon nicht unter. Besser noch: Man nimmt der AfD das Thema aus der Hand und schwächt sie. Wer nur jammert, verliert. Dass ein Instrument wie die Minderheitsregierung in Deutschland so unpopulär ist, spricht Bände.


  • Podcast: Anderer Meinung in Bezug auf die AfD, ist der jüdische Publizist Michel Friedman:
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Bände wofür?

Für unsere Unfähigkeit zur Innovation, die wiederum so wichtig ist für die gesellschaftliche und politische Weiterentwicklung. Damit sind wir beim Grundthema der deutschen Befindlichkeit angelangt, nicht nur der Parteien, sondern der Gesellschaft insgesamt. Wenn wir uns in Bildung, Wissenschaft und Wirtschaft umschauen, wo und wie Deutschland bei der Innovation steht, kommen wir schnell zu der Erkenntnis: Wir gehören nicht mehr zur Spitzengruppe. Die Unfähigkeit oder auch die Unwilligkeit zur Innovation im Denken, Lehren und Lernen ist eines der großen Probleme unserer Gesellschaft. Daraus resultiert auch die Unfähigkeit zur politischen Innovation. Wir reagieren auf neue Probleme mit den immer gleichen, alten Lösungsansätzen. So fährt man in die Sackgasse.

War das der Grund für das miserable Wahlergebnis der SPD?

Einer von vielen. Die SPD ist eine ehrenwerte Partei, aber selbstverschuldet hat sie ihre traditionelle Anhängerschaft verloren; die oft unterbezahlten Fleißigen, die malochen und unser Sozialsystem tragen, das von zu vielen In- und Ausländern missbraucht wird. Deshalb laufen sie der SPD weg. Wir brauchen neue Antworten auf neue Herausforderungen. Da reichen die alten Rezepte nicht. Deswegen empfehle ich die Minderheitsregierung, für die es in Skandinavien erfolgreiche Beispiele gab und gibt. Ich weiß, Politiker sagen immer wieder, dass die Kalkulierbarkeit einer Mehrheitsregierung wichtig ist. Aber diese Form der Kalkulierbarkeit kann nur da herrschen, wo auch große Gemeinsamkeit insgesamt herrscht. Ein solches Paket der Gemeinsamkeiten ist in dieser Fülle nicht mehr vorhanden. Ich plädiere für Mut zu neuen Lösungen.

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Deutschland ist im Inneren gesellschaftlich polarisiert, von außen bedroht durch Russlands Neoimperialismus und Donald Trumps zunehmend nationalistischeren Kurs. Haben Sie Hoffnung, dass Deutschland sich unter einer neuen Regierung wappnen kann?

Es wird nicht genug über innovative Problemlösungen nachgedacht in Deutschland. Unser Denken ist verfettet. Noch geht es den meisten hierzulande gut, dem jahrzehntelang aufgebauten Wohlstand sei gedankt. Aber nun droht der Abstieg. Die Angst davor zeigt sich im Wahlergebnis. Wegen der Trumps, Putins, Xis, Erdoğans und ihresgleichen läuten die Alarmglocken schon länger. Nach der Wahl noch lauter. Wollen wir sie weiter überhören? Das Potenzial Deutschlands ist riesig, man muss es aber aktivieren.

Trauen Sie dies Friedrich Merz von der Union oder Lars Klingbeil von der SPD zu?

Merz ja. Bevor Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, haben ihn selbst ernannte Intellektuelle als Deppen der Nation dargestellt. Dann stellte sich heraus, dass dieser vermeintliche Hinterwäldler ein höchst erfolgreicher Kanzler wurde. Menschen wachsen in Aufgaben hinein, manche wachsen auch an den Herausforderungen. Warum sollte das neben Merz nicht auch Klingbeil gelingen?

Allerdings regiert Merz nicht allein, sondern es braucht an allen Schaltstellen der Politik dringende Reformen.

Sagen wir es ganz offen: Deutschland verfügt derzeit mehrheitlich bestenfalls über durchschnittliches politisches Personal. Das ist üblich in guten Zeiten. Nun wissen wir aus der Geschichte, dass charismatische Persönlichkeiten am ehesten in Krisenzeiten eine Chance bekommen. Franklin Delano Roosevelt, Winston Churchill oder Charles de Gaulle sind positive Beispiele, aber wir kennen auch die negativste Figur der Geschichte: Adolf Hitler. Trump ist ebenfalls ein Charismatiker.

Haben Sie bereits jemanden als charismatische Führungspersönlichkeit bei uns ausgemacht?

Wir haben eine Krise, aber noch keine entsprechenden charismatischen Persönlichkeiten. Jedenfalls sind sie bislang nicht ohne weiteres erkennbar. Ich bin in diesem Punkt gar nicht so pessimistisch, was die Zukunft und vor allem Friedrich Merz betrifft.

Ihr Ratschlag lautet, aus alten Denkmustern auszubrechen. Wie soll das gelingen?

Nehmen wir die Wirtschaftskrise als Beispiel, die genau genommen eine Innovationskrise ist. Die Wirtschaft hängt von fähigen Köpfen und Händen ab. Werden diese ausreichend gefördert in der Ausbildung, in den Betrieben, an den Universitäten? Und das Gleiche gilt auch für Journalisten. Sie stammen häufig aus den Geisteswissenschaften, also meinen Disziplinen. Wenn dort an den Universitäten allerdings mehr Aktivismus als Wissenschaft betrieben wird, dann haben wir ein Problem: Denn dann haben wir Leute, die lediglich ihre Meinung kundtun, aber nicht zur Analyse imstande sind. Das gilt weniger für die Natur- und Ingenieurswissenschaften, aber da fehlt der Nachwuchs. Woher soll also Innovation für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik kommen? Aus einem kranken Bildungs- und Wissenschaftssystem?

Nun garantiert das Grundgesetz die Freiheit von Forschung und Lehre.

Das ist auch gut und richtig so. Aber Aktivismus ist keine Wissenschaft. Es existiert eine virulente Unfähigkeit und Unwilligkeit, differenziert zu denken. Herbert Marcuse, ein linker, überaus kluger Philosoph, hat in den Sechzigerjahren das Buch "Der eindimensionale Mensch" geschrieben: Es ist eine böse und sehr gescheite Kritik der Eindimensionalität, sprich des Schwarz-Weiß-Denkens, bei dem nur ein Faktor gilt. Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist nicht nur auf Linke oder auf Rechte begrenzt, sondern auf viel zu viele Menschen in der Gesellschaft, nicht nur in Deutschland. Die Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Innovation, das ist die eigentliche Ursache für die Krise der Bundesrepublik. Die AfD ist ein Symptom dieser Krise.

Halten Sie es für realistisch, dass Merz die AfD tatsächlich eindämmen kann bis zur nächsten regulären Wahl des Bundestags 2029?

Er hat eine reelle Chance. Die Bundesrepublik und ihre Parteien waren durchaus immer wieder erfolgreich dabei, die politischen Ränder einzufangen und zu integrieren. Bei den Abstimmungen zur Migration vor einigen Wochen hat Merz Bereitschaft gezeigt, in diesem Bereich zu tun, was er für richtig hält. Nur, wenn er Kurs hält und Ergebnisse liefert, wird die CDU mehrheitsfähig bleiben. Dafür braucht es aber Innovation und den Mut, Denkblockaden zu überwinden.

Professor Wolffsohn, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Michael Wolffsohn via Videokonferenz
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