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“Lügenpresse“-Vorwurf: So haben wir einem unserer Leser geantwortet


Vorwurf der “Lügenpresse“
So haben wir einem unserer Leser geantwortet

  • Lars Wienand
Von Lars Wienand

07.09.2018Lesedauer: 6 Min.
Nachrichten
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Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

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Foto des Tatorts in Chemnitz: Häufig wird Redaktionen vorgeworfen, Falschmeldungen zu verbreiten oder Informationen zu unterschlagen.Vergrößern des Bildes
Foto des Tatorts in Chemnitz: Häufig wird Redaktionen vorgeworfen, Falschmeldungen zu verbreiten oder Informationen zu unterschlagen. (Quelle: Michael Trammer/imago-images-bilder)

In Chemnitz wurde ein Mensch erstochen, das ist schrecklich. Im Netz wird seitdem fälschlicherweise behauptet, es hätte ein zweites Todesopfer gegeben. Und uns wird vorgeworfen, dies zu verschweigen. Hier ist der Versuch, einen Leser zu überzeugen.

Täglich lesen zehntausende Menschen den "Tagesanbruch" von t-online.de-Chefredakteur Florian Harms. Viele von ihnen schicken anschließend Kommentare und Fragen, Lob und Kritik: im Forum auf der Website, in den sozialen Netzwerken und per E-Mail. Eine dieser E-Mails kam von einem Leser, der zwar zugestimmt hat, dass wir im Folgenden den Dialog mit ihm wiedergeben, aber seinen Namen hier nicht veröffentlicht sehen möchte. Nennen wir ihn Gunnar Schmidt.

Herr Schmidt schrieb an Florian Harms, er lese "täglich, was Sie oder ihre werten Kollegen schreiben." An der Berichterstattung über die Ausschreitungen in Chemnitz hatte er etwas auszusetzen: t-online.de verschweige eine wichtige Information, meinte er. In Chemnitz sei nicht nur der 35-jährige Daniel H. erstochen worden. "Das zweite Opfer in Chemnitz ist auch gestorben", meinte er, und weiter: "Ich bin weder rechts noch links, aber so geht's leider nicht weiter."

Videoblog einer AfD-Frau als Quelle

Herr Schmidt war so freundlich, auf unsere Nachfrage hin seine Quelle für diese vermeintliche Information mitzuschicken: "Anbei der Link vom Video der Martina Böswald, einer AfD-Abgeordneten, die als Anwalt arbeitet." Diese Information ist nicht ganz richtig. Die Anwältin Böswald kandidierte zwar im Schwarzwald für den Bundestag, wurde aber nicht gewählt. Nach eigenen Angaben ist sie jetzt für die bayerische AfD-Landesgruppe tätig. Aber dank dieser Angabe war es leichter, Herrn Schmidt zu antworten.

Unsere Antwort dokumentieren wir hier, weil uns die Frage nach dem vermeintlichen zweiten Todesopfer mehrfach gestellt wurde. Und weil der Fall das tägliche Ringen in vielen Redaktionen dokumentiert, als “Lügenpresse“ beschimpft zu werden und mit wilden Falschbehauptungen konfrontiert zu sein. Für manche Redakteure macht der Umgang damit einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitszeit aus.

Selbstverständlich machen auch Medien Fehler. Auch wir von t-online.de. So haben wir kürzlich einen Artikel unserer Kollegen von watson.de übernommen, der einen gravierenden Fehler enthielt. Wenn so ein Fehler geschieht, entschuldigen wir uns, korrigieren ihn transparent und tun alles, damit er sich nicht wiederholt.

Im folgenden lesen sie unsere Antwort an unseren Leser. Kursive Einschübe sind nachträgliche Ergänzungen, die nicht in der Kommunikation standen, aber hier zum besseren Verständnis eingefügt wurden:

_______

"Sehr geehrter Herr Schmidt,

vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, uns den Link zu schicken, vielen Dank, dass Sie uns die Chance geben, zu solchen Darstellungen etwas zu schreiben.

Frau Böswald selbst, die das Original-Video bei Facebook gepostet hat, hat es wieder gelöscht oder auf “nicht öffentlich“ gestellt. Sie finden den Link noch im Text unter dem YouTube-Video, das sie gesehen haben. Sie hat es in der Erkenntnis gelöscht, dass sie Unfug verbreitet hat, vermute ich.

(t-online.de hat am Dienstag Martina Böswald und ihren AfD-Kreisverband über Facebook angeschrieben, aber bisher keine Antwort erhalten.)

"Wenn wir etwas Falsches sagen, werden wir uns dafür entschuldigen", sagt sie in dem Video – und hat es ohne eine weitere Erläuterung von ihrer Facebook-Seite entfernt. Ich denke, das spricht für sich. Verbreitet wird das Video trotzdem weiterhin, weil andere es kopiert und neu hochgeladen haben.

(Das YouTube-Video wurde unter anderem am 1. September von den AfD-Kreisverbänden Bad Dürkheim, Kyffhäuser-Sömmerda-Weimarer Land und Hersfeld-Rotenburg sowie von einer Viktor-Orban-Fanseite und einer Seite einer Russland-Europa-Allianz geteilt.)

Die beiden anderen Opfer der Messerstecherei in Chemnitz leben, ich stehe in Kontakt mit einer Freundin eines Verletzten. Sie verzweifelte zeitweise an den falschen Darstellungen, dass es einen zweiten Toten gegeben habe.

(Der stellvertretende Vorsitzende der AfD Sachsen, Maximilian Krah, hat trotz eines Hinweises der Polizei bis heute einen Tweet nicht gelöscht, in dem er von zwei Toten schreibt.)

Als Gast in der Live-Übertragung eines anderen Video-Bloggers am 1. September räumt Frau Böswald ein: “Man weiß nichts vom zweiten bis jetzt“. Sie fordert dort: “Man muss die Leute unmittelbar und sachlich aufklären“. Prüfen Sie sich bitte einmal: Ist das, was Frau Böswald macht, sachliche und ehrliche Aufklärung?

(Frau Böswald sagt dort auch wörtlich: "Flüchtling ist ein echtes Schimpfwort geworden. Es beschreibt nämlich einen kriminellen Schmarotzer.")

In dem Gespräch mit dem Video-Blogger räumt sie immerhin ein, dass ihre Angabe zur Zahl der Messerstiche falsch gewesen ist. In dem illegal verbreiteten Haftbefehl, von dem Sie vielleicht auch gehört oder gelesen habe, war zu lesen, dass Daniel H. mit insgesamt fünf Stichen tödlich verletzt wurde. Frau Böswald sprach in ihrem ersten Video von 27 Stichen. In der Korrektur, es seien nur fünfm behauptet sie, von 25 gesprochen zu haben. Beides ist falsch.

(Im Video beschrieb Frau Böswald die Szene so: "Nehmen Sie einfach mal ihre Hand und schlagen Sie 27 mal möglichst schnell auf den Tisch und stoppen Sie, wie lange Sie dafür brauchen." Quelle ihrer Behauptungen ist eine per WhatsApp verbreitete Schilderung in einer Audiodatei.)

Für das schreckliche Ergebnis dieser Bluttat mag es nebensächlich erscheinen, wie oft die Täter auf Daniel H. eingestochen haben. Aber Sie sehen an diesem Beispiel, dass Frau Böswald im Brustton der Überzeugung schlicht falsche Details verbreitet. Und das, nachdem sie vorher ihren Bericht so angekündigt hat: "Damit sie wirklich wissen, was passiert ist, denn von unseren Zensurmedien werden sie es nicht erfahren."

Vielleicht können Sie sich ausmalen, wie es sich als Journalist anfühlt, wenn Sie geradezu stakkatoartig hören, die Presse belüge die Menschen. Ich habe Verständnis für jeden, der dann gar nicht mehr weiß, was er noch glauben soll. Das ist das Ziel vieler Populisten – ganz gleich, welcher politischen Neigung.

Ich verstehe, dass Sie Unmut darüber empfinden, dass sich die öffentliche Debatte über die Ereignisse in Chemnitz kaum noch um das Opfer dreht, sondern die Frage im Vordergrund zu stehen scheint, wie viele Neonazis es in Ostdeutschland gibt. Ich erlebe aber, dass Medien in dieser Frage sehr viel stärker differenzieren, als das was von Menschen dargestellt wird, die das Vertrauen in Medien erschüttern wollen.

Kein ernst zu nehmender Journalist, den ich kenne, würde behaupten, dass im Osten alle Menschen Nazis seien oder auch nur, dass alle, die bei den Protesten dabei waren, Nazis seien.

(Das haben auch wir von t-online.de nicht geschrieben.)

Beim letzten Punkt gab es allerdings mancherorts in der Tat zu wenig Differenzierung, Überschriften wie “600 Polizisten gegen 5000 Neonazis“ (“Süddeutschen Zeitung“) sind falsch – aber das hat die "SZ" gemerkt und die Überschrift geändert.

Es ist unzweifelhaft, dass an den Protesten in großer Zahl Mitglieder diverser Neonazi-Parteien teilgenommen haben, und ich finde es sehr fragwürdig, sich gemeinsam mit diesen Leuten in einen Demonstrationszug zu stellen.

(Das ARD-Magazin “Monitor“ hat recherchiert, wie Teile der AfD in Chemnitz den Schulterschluss mit Rechtsextremen vollzogen haben).

Ich bin aber auch oft ratlos, wie jemand seine Unzufriedenheit noch artikulieren soll. Wobei ich auf der anderen Seite schon denke, dass jeder die Unzufriedenheit verstanden hat, dass aber Lösungen ihre Zeit brauchen. Die Zahl der neu ankommenden Menschen ist schon stark zurückgegangen. Die, die noch ankommen, werden jetzt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ordnungsgemäß erfasst.

Jetzt gibt es Probleme mit der Rückführung, bei den Gerichten gibt es Stau. Diese haben viel zu wenig Kräfte, um schnelle und zugleich rechtsstaatliche Verfahren zu gewährleisten. Da ist noch sehr viel zu tun. Ich persönlich sehe aber nicht, dass Frau Böswald mit ihren einfachen Botschaften Lösungen dafür hat.

Glauben Sie mir bitte: Auch Journalisten haben Kinder, denen sie ein lebenswertes Land hinterlassen wollen. Wir haben nicht vor, "das Volk" zu belügen (so der Vorwurf von Herrn Schmidt) oder etwas zu verschweigen. Medien setzen vielleicht manchmal Akzente falsch, darüber kann man als Leser wütend sein. Aber gelogen wird hier nicht."

Mit freundlichen Grüßen,

Lars Wienand

_______

Herr Schmidt hat auf unsere lange E-Mail kurz geantwortet: "Sorry, aber ich lese euch gerne weiter! Macht weiter so."

Bei der Frage, ob wir den Mailaustausch veröffentlichen dürfen, hat er zugestimmt, aber wieder Zweifel geäußert: "Da ich jetzt schon aus drei verschiedenen Quellen von einem zweiten Toten hören oder lesen musste, frage ich mich ernsthaft ob hier, wie auch immer Zensur durch die Regierung herrscht... Warum kommen die Angehörigen des zweiten Niedergestochenen nicht zu Wort, was denn die wirkliche Wahrheit ist? Sollte er leben, Genesungwünsche!"

Die Polizei Chemnitz hat t-online.de noch einmal bestätigt, dass die beiden anderen Opfer leben. Wegen des Schutzes der Persönlichkeitsrechte könne man keine weiteren Angaben machen.

Eine Analyse eines Experten der Berliner NGO Democracy Reporting International hat unterdessen ergeben: Ein großer Teil der meistgesehenen Videos auf YouTube zu Chemnitz gibt die Sichtweisen von Rechten und Verschwörungstheoretikern wieder.




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