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Afghanen protestieren gegen Heiko Maas: "Mein Sohn darf dort nicht sterben"


Afghanen demonstrieren gegen Maas
"Mein Sohn darf dort nicht sterben"


Aktualisiert am 26.08.2021Lesedauer: 6 Min.
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Dramatische Szenen aus Afghanistan: Tausende warten vor den Mauern des Flughafens in Kabul, um einen Flug in sichere Gebiete zu bekommen. (Quelle: reuters)

Sie sind hier, doch ihre Familien schweben in Afghanistan in Lebensgefahr: Eine Gruppe von Afghanen demonstriert seit Tagen vor dem Außenministerium. Sie sind wütend auf die Taliban – und auf die Deutschen.

Es ist die Verzweiflung, die Samim J. und seine Frau nach Berlin getrieben hat. Eigentlich führen sie mit ihren zwei Töchtern ein – mittlerweile – beschauliches Leben in Kassel. J. arbeitet als Gabelstaplerfahrer, seine Frau bekommt bald ihr viertes Kind. Doch einer fehlt: der zehnjährige Sohn. Er ist noch in Kabul, lebt dort bei den Großeltern. Seit Jahren versuchen die Eltern, ihn nach Deutschland zu holen, doch die Bürokratie macht es schwierig. J. hat eine Duldung, seine Frau darf lediglich nicht abgeschoben werden. In diesem Status hat man kein Recht auf Familiennachzug – selbst wenn es sich um einen Zehnjährigen handelt.

Die Familie hat sich einem kleinen Protest von Afghanen angeschlossen. Seitdem die Taliban Kabul eingenommen haben, stehen sie gegenüber vom Auswärtigen Amt und fordern Hilfe. Für ihre Angehörigen, die noch in Afghanistan sind und bald den Taliban in die Hände fallen könnten. Und für alle anderen, die nun um ihr Leben fürchten müssen.

Denn die Bedrohungslage ist real. Längst gibt es bestätigte Berichte, nach denen die Taliban Zivilisten hinrichten und Andersdenkende verfolgen. Auch deswegen sind die Namen der Demonstranten in diesem Text verkürzt, sie selbst auf den Bildern unkenntlich gemacht.

Samim J. steht an diesem Mittag hier mit seiner jüngeren Tochter. Der berühmte Bärenbrunnen, den sonst Touristen fotografieren, dient als Hintergrund für J.s Fotoausstellung. Zwei gerahmte Bilder zeigen seinen Sohn – als Kleinkind und als Zehnjährigen. Auf dem neueren Bild hält er seinen Pass in die Kamera. In der oberen Ecke klebt ein kleiner Zettel mit krakeliger Schrift: "Helfe mein Bruder Behroz. Afghanistan ist nicht sicher. In Afghanistan ist Krieg." Er stammt von der siebenjährigen Tochter.

Es ist eine Geschichte wie von so vielen Geflüchteten, deren Familien in den Fluchtjahren zerrissen wurden. J. machte sich als Erster auf den Weg, zunächst in die Türkei. Er hatte Korruption von offiziellen Stellen dokumentiert und gemeldet, und wurde dann selbst zur Zielscheibe. 2015 kam der heute 35-Jährige in Deutschland an. Dann bekam seine Tochter Krebs, die Mutter durfte mit ihr nach Deutschland. Zurück konnten sie nicht, die Tochter musste weiter behandelt werden. Nur der Sohn bekam keine Erlaubnis, einzureisen. Die Situation für ihn ist fatal: Samim J.s Eltern sind krank, der Vater könnte als ehemaliger Angehöriger der afghanischen Armee jede Stunde ins Visier der Taliban geraten. Und die Schwestern dürfen allein nicht einmal mehr auf die Straße, um Lebensmittel einzukaufen.


Wer soll sich so um seinen Sohn kümmern? Samim J. ist bewusst, dass sich das Zeitfenster bald schließt. Die Bundeswehr wird wohl bereits am Freitag ihre Mission beenden. Zwar war sein Sohn schon einmal am Flughafen, doch er steht nicht einmal auf einer Liste – weil seine Eltern keine anerkannten Flüchtlinge sind. J. spielt bereits Szenarien durch, wie er seinen Sohn rausschmuggeln lassen und an einer Landgrenze in Empfang nehmen könnte. "Mein Sohn darf dort nicht sterben", sagt er. Nur bräuchte J. für eine Ausreise die Erlaubnis des deutschen Staates. Seine Geschichte belegt auch ein Brief der Caritas. Eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation hat ihn vergangene Woche an Behörden verschickt, damit der Familie geholfen wird – ohne Erfolg.

Zu seiner Verzweiflung gesellt sich Wut, wenn er über die Taliban spricht. Schon als Kind erlebte er mit, wie ein Talib seine Mutter mit einem Stock auf den Kopf schlug. Sie hatte in einem Lebensmittelladen kurz ihren Schleier gehoben, um am frischen Obst zu riechen. "Ich hasse die Taliban", sagt J. "Und ich schäme mich dafür, dass sie nun wieder unser Land regieren."

Das kleine Protestcamp mit bunten Plakaten auf der einen, die gläserne, graue Fassade des Auswärtigen Amts auf der anderen Seite. Polizisten stehen davor, schauen ab und an rüber. Ansonsten: Keine Interaktion. Er sei einmal zu den Polizisten gegangen, sagt Samim J. "Ich will den Außenminister Maas sprechen", habe er ihnen gesagt. Sie hätten nur gelacht. J. irritiert das. Er habe immer gedacht, in Deutschland könne man mit den Politikern sprechen. Dass aber Heiko Maas nicht einmal herausgekommen sei, enttäuscht nicht nur ihn. Nur einmal sei ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts gekommen. Antworten auf die Fragen der Demonstranten hatte der aber nicht, erzählen andere Protestler, die nur ein paar Meter weiter stehen.

Die drei jungen Männer haben Transparente über den beiden Bänken ausgebreitet. "Rettet meine Frau und Familie aus Afghanistan", steht auf dem einem. Ein anderes ziert die Zahl Sieben mit einem großen Frage- und einem kleinen Ausrufezeichen – eine Anspielung auf die Evakuierungsmission der Bundeswehr, die in ihrem ersten Flug nur sieben Passagiere mitnahm.

Sie stellen sich zu einem Foto zusammen, besprechen sich kurz und holen von der Seite noch schnell ein Gemälde. Es zeigt zwei lachende Mädchen, mit locker um den Kopf gebundenen Tuch – ein Kontrast zu dem gesichtslosen Frauenbild der Taliban. "Lang lebe Afghanistan", steht über ihren Köpfen. Das müsse mit auf das Foto, sagen die drei Männer.

Neun Jahre habe er für die Bundeswehr und die Internationalen Schutzgruppen (ISAF) gearbeitet, erzählt Ahmad A., der rechts im Bild steht. "Und nun sind alle in Lebensgefahr." Mit "alle" meint er seine Eltern, seine Frau, seine Schwestern und seinen Bruder, die noch in Afghanistan sind. Seine Heimatstadt ist klein. "Nach einem Tag weiß jeder, dass du für die Ausländer arbeitest", sagt er. Das ist gefährlich: Schon seit Jahren werden Menschen wie er immer wieder Ziel von Anschlägen der Taliban. Er habe es damals trotzdem gewagt, wollte so seine Familie unterstützen. Und er hatte das Gefühl, das richtige zu tun.

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Offiziell hat er den Soldaten die Haare geschnitten. Aber so, erzählt er, hat er ihnen oft weitergeholfen. Gezeigt, welche Wege sicher und welche gefährlich sind, wo Hinterhalte lauern könnten. "Ohne uns wären die Deutschen verloren gewesen", sagt er. Als er den Vertrag unterschrieben habe, sei ihm gesagt worden: "Falls es hier gefährlich wird, kümmern wir uns um dich."

Taliban töteten Freund von A.

Doch dass dieses Versprechen nicht gehalten wird, hat er schon nach seiner Ankunft vor sechs Jahren mit seinem damals noch minderjährigen Bruder Abul A. (links auf dem Bild) merken müssen. Zuerst bekam er nur eine Duldung, dann wurde sein Asylantrag abgelehnt. Er sei nicht mehr gefährdet, hieß es. Seine Anwältin bestätigt das, selbst das BAMF habe festgestellt, dass A. tatsächlich neun Jahre für die Bundeswehr und die internationalen Schutztruppen (ISAF) tätig war. Sie hat Einspruch für ihn eingelegt, derzeit wird sein Verfahren neu aufgerollt.

Vor allem aber sind ihre Gedanken bei Freunden und Familie in Afghanistan. Ein Freund von Ahmad A. wurde schon getötet, dessen Frau sitzt nun mit sieben Kindern auf der Straße. Helfen kann ihr keiner, sagt Ahmad A. Die Taliban bestrafen jeden, der das tue. Andere halten sich versteckt. Die größten Sorgen aber macht er sich um seine Eltern, seine Frau und seine Geschwister. Eine Schwester arbeitete als Ärztin, eine als Ingenieurin, die andere studierte. Seit vergangener Woche ist das Vergangenheit.

Ahmad A. hat mehrere Wohnungen angemietet, in der sich seine Familie nun reihum versteckt. Denn: "Den Taliban ist es egal, ob du selbst oder nur dein Bruder für die Deutschen gearbeitet hat", so A. Die gesamte Familie gelte dann als unrein. "Die Deutschen haben uns gebraucht, aber uns hilft niemand."

Afghanistan wird "Friedhof aus Erde"

A. hat ebenso wie Samim J. keine rechtliche Grundlage, sie nach Deutschland nachzuholen. Er ist – nach derzeitigem Stand – abgelehnter Asylbewerber. Seine Geschwister und Eltern gehören nicht zu Kernfamilie. Sie können also nicht auf die aktuelle Evakuierungsliste gesetzt werden. Gefährdet sind sie, nach allem was Menschenrechtsorganisationen berichten, dennoch.

Für die Brüder ist klar, was Afghanistan nun droht. In ein paar Monaten, so prophezeien sie, ist das Land nur noch ein "Friedhof aus Erde". Abul A. öffnet auf seinem Smartphone ein Video, das zeigt, wie die Taliban mit einem Kran das Ghazni-Tor einrissen. Es wurde von der vorherigen Regierung erbaut, als Zeichen der islamischen Kultur. "Sie reißen symbolische Bauten ein und fackeln die Krankenhäuser und Apotheken ab, wenn die mit westlichem Geld gebaut werden", sagt Abul A.. Denn auch die gelten dann als unrein.

Ahmad A. war 17 Jahre alt, als er begann für die Bundeswehr zu arbeiten. Er und die Deutschen, sie seien Freunde gewesen, sagt er. Zwei, drei Mal die Woche habe seine Mutter Essen gekocht, das er dann auf den Stützpunkt mitnahm. Ihm habe es so leidgetan, die Soldaten zu sehen, die so weit weg von ihren Familien waren. Dann bricht seine Stimme. Nun ist er es, der allein ist, weit weg von seiner Heimat. Mit dem Unterschied: Seine Familie könnte getötet werden. Wenn das passiere, sagt A., dann sei es seine Schuld. Weil er mit den Deutschen gearbeitet hat.

Verwendete Quellen
  • Besuch im Protestcamp am 25. August 2021
  • Telefonat mit der Anwältin von Ahmad A.
  • Brief einer Caritas-Mitarbeiterin über Samim J.s Familie
  • Eigene Recherche
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