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Tödlicher Countdown: Das Ende der Evakuierungen in Kabul naht


Tagesanbruch
Tödlicher Countdown

MeinungVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 25.08.2021Lesedauer: 7 Min.
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US-Präsident Biden: Er hält daran fest, seine Truppen Ende August abzuziehen.Vergrößern des Bildes
US-Präsident Biden: Er hält daran fest, seine Truppen Ende August abzuziehen. (Quelle: Samuel Corum/getty-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es war ein Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit: "Ohne die Vereinigten Staaten können wir die Evakuierungsmission so nicht weiterführen", räumte Kanzlerin Angela Merkel gestern Abend ein. Zuvor hatte sie ausgiebig mit den anderen Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten über die katastrophale Lage am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul beraten. US-Präsident Joe Biden war mit der Ansage in die Gespräche gegangen, den Einsatz seines Militärs am 31. August beenden zu wollen.

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Vor allem Deutschland und Großbritannien wollten Herrn Biden dazu drängen, den Einsatz seiner Soldaten zu verlängern. Das hat offensichtlich nicht geklappt. "Es sind heute keine neuen Daten über das bekannte Datum des 31.8. hinaus genannt worden", musste Frau Merkel auf der anschließenden Pressekonferenz eingestehen. Ob das nun heiße, dass es bei dem Termin in einer Woche bleibe, wurde sie gefragt. Sie habe ihre Worte bewusst gewählt, antwortete Merkel. Fast gleichzeitig berichteten amerikanische Medien aber schon: Joe Biden hält am 31. August fest.

Immerhin ein kleines Hintertürchen ließ der US-Präsident sich offen: Sollten die Taliban nicht kooperieren, könnte der Abzug doch noch mal verschoben werden. Zugleich betonte er aber, dass die Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz "Islamischer Staat" mit jedem Tag wachse. Und auch die Taliban machen Druck: Sollte der Abzug nicht bis zum 31. August erfolgen, wollen sie den Flughafen angreifen.

Um die Dramatik, die in diesem Datum steckt, richtig einschätzen zu können, muss man wissen: Ein Abzug bedeutet nicht, dass an diesem Tag die letzten Rettungsflieger starten können. Außenminister Heiko Maas sagte gestern bereits, die US-Truppen bräuchten ein, zwei Tage für den Abzug. Die Franzosen rechnen deutlich konservativer: Bleibt es beim Abzug Ende August, würden sie schon am Donnerstag die Evakuierung einstellen – also morgen.

Für viele Betroffene ist es nicht nur eine Hiobsbotschaft, es könnte auch ihr Todesurteil sein. Denn um zu erahnen, was ihnen jetzt droht, muss man nicht in die Glaskugel schauen – die Taliban haben es längst demonstriert. Erst gestern bestätigten die Vereinten Nationen Berichte über Massenhinrichtungen: Nicht nur ehemalige Regierungssoldaten, auch Zivilisten sind unter den Opfern. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte bereits vor einigen Tagen von Massakern berichtet, denen Angehörige der Minderheit der Hazara zum Opfer gefallen waren. Und vergangene Woche erschossen Taliban-Kämpfer einen Verwandten eines Deutsche-Welle-Journalisten. Das Grauen hat entgegen aller öffentlichen Beteuerungen der Taliban schon längst Einzug in Afghanistan gehalten.

Diese Gefahr droht nun auch konkret denjenigen, die mit Deutschland zusammengearbeitet haben. Außenminister Heiko Maas kündigte gestern bei Bild TV an, dass in der gegebenen Zeit nicht alle der Ortskräfte, Familienangehörigen, Aktivisten und Journalisten ausgeflogen werden können: "Das gebietet die Ehrlichkeit, das zu sagen." Bisher haben die deutschen Flugzeuge mehr als 4.650 Menschen aus Kabul ausgeflogen – wie viele Ortskräfte zurückbleiben, scheint in der Bundesregierung niemand sagen zu wollen, oder schlicht nicht genau zu wissen. Der Bundeswehroffizier und Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte, Marcus Grotian, sprach gestern von mindestens 8.000 Ortskräften inklusive enger Familienangehöriger.

Allerdings gebietet es die Ehrlichkeit, auch zu sagen: Bei weitem nicht jeder, der mit den Deutschen oder internationalen Organisationen zusammengearbeitet hat oder sich aktivistisch betätigte, steht auf der Evakuierungsliste des Auswärtigen Amts.

Das beklagt auch Bundeswehr-Offizier Grotian. Sichtbar aufgebracht trat er gestern Mittag in Berlin vor die Presse – seine eindrückliche Kritik kam dennoch an. "Wir machen ein kleines Quiz", kündigte er mitten in seinem Vortrag an. "Wer 2018 fürs Auswärtige Amt gearbeitet hat und eine Gefährdungsanzeige gestellt hat, ist visaberechtigt: ja oder nein?" Antwort: "Natürlich nicht. Das Auswärtige Amt hat eine Zweijahresfrist." Nächste Frage: "Wer 2017 für die Bundeswehr gearbeitet hat: Ist der visaberechtigt?" Wieder: "Natürlich nicht, denn er hat keine Gefährdungsanzeige gestellt." So listete er die bürokratischen Tricks auf, derentwegen Menschen nicht auf die ersehnte Liste gelangen. Seine bittere Bilanz: "Sie werden da auch nicht draufkommen, denn das ist bürokratisch nicht vorgesehen."

Nicht nur Herrn Grotians Beispiele zeigen, wie fern der Realität die deutsche Bürokratie in dieser Krise agiert. So warnten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen schon früh davor, dass das Konzept der "Kernfamilie" in Afghanistan nur bedingt anwendbar ist. Viele Familien wohnen mit mehreren Generationen unter einem Dach. Also was tun? Die altersschwache Oma allein zurücklassen? Den erwachsenen Bruder mit geistiger Behinderung? Seit vergangener Woche zählen immerhin auch volljährige, aber unverheiratete Töchter zur Kernfamilie, weil diese Gefahr laufen, mit Taliban-Kämpfern zwangsverheiratet zu werden.

Das wissen auch die Menschen, die nun die Bundesregierung anflehen, ihnen zu helfen. Die folgenden Fälle haben Angehörige und Freunde der Betroffenen in Deutschland veröffentlicht und t-online die Erlaubnis gegeben, sie hier – stark anonymisiert – zu teilen:

Da ist etwa die junge Lehrerin. Mit ihren zwei minderjährigen Kindern und ihrem Mann, der für westliche Hilfsorganisationen arbeitete und sich als Anwalt für Frauenrechte einsetzte, konnte sie gerade noch rechtzeitig vor den Taliban aus ihrem Haus fliehen. Nun fürchtet die Familie in einem Versteck in einer afghanischen Stadt um ihr Leben.

Da ist der Mann, der für eine UN-Organisation arbeitete, mit seiner kranken Mutter in Kabul festsitzt und für den sich keine Regierung verantwortlich fühlt.

Und da sind die Angehörigen eines Afghanen, der eng mit der deutschen Botschaft zusammenarbeitete. Auch sie verstecken sich in einer Wohnung, werden von den Taliban gesucht. Den Frauen droht eine Zwangsheirat, den Männern der Tod, berichtete der Angehörige meinem Kollegen Patrick Diekmann.

Auch für die Menschen, die es auf die Liste geschafft haben oder zumindest die Berechtigung hätten, draufzustehen, endet der Schrecken nicht. Es gibt zahlreiche Berichte von Wartenden, die noch immer auf Antwort von deutscher Seite warten, wie und wann sie nun zum Flughafen kommen sollen. Die Kollegen der "Zeit" haben neun Schicksale zusammengetragen. Dass nun nicht einmal alle auf der Liste notierten Menschen ausgeflogen werden können, ist ein weiterer trauriger Höhepunkt in der ohnehin schon schlimmen Bilanz des Afghanistan-Einsatzes. Es ist womöglich sogar der bitterste: Die Menschen, die sich für eine bessere Zukunft eingesetzt haben, fallen nun denselben Terroristen in die Hände, von denen sie das Land heilen wollten.

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Da hilft es auch nicht viel, dass die G7-Staaten nun die Taliban auffordern, auch nach August Ausreisewilligen die Ausreise zu garantieren. Noch ist zwar schwierig vorherzusagen, wie sich die Taliban verhalten werden. Doch während es gut sein könnte, dass sie Ausländer weiter ausreisen lassen, dürften sie es Afghanen wohl verbieten. Darauf deuten zumindest die Zeichen: Schon jetzt lassen sie ihre Mitbürger nicht mehr zum Flughafen – trotz laufender Verhandlungen mit dem Westen.

In der Rettungsmission läuft nun der Countdown. In dieser verbleibenden Zeit muss sich alles auf diese Rettungsmission konzentrieren – das ist richtig. Aber danach sollte dieses fatale Versagen aufgearbeitet werden, bevor das Thema im Getöse der Bundestagswahl untergeht. Denn hier geht es nicht um verplemperte Steuermilliarden für eine Autobahn-Maut oder windige Beraterverträge. Einige – oder vielleicht auch viele – Menschen werden dieses Desaster mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Der Bundeswehr-Offizier Grotian leitete sein Urteil gestern mit einem Vergleich ein: "Wenn ich als Soldat einen Schnipsel Klebeband vom Dienstherren mit nach Hause nehme, bin ich wegen offensichtlicher Uneignung als Staatsbediensteter aus dem Dienstverhältnis zu entlassen", sagte er, um dann zu seiner Schlussfolgerung zu kommen: "Diebstahl ist eine Straftat. Unterlassene Hilfeleistung auch."


Merkels letzte Regierungserklärung

Als Angela Merkel am 24. Juni im Bundestag über den Zustand der EU sprach, sollte es eigentlich ihre letzte Regierungserklärung sein (darüber berichteten wir damals auch im Tagesanbruch). Doch wie heißt es so schön: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Heute um 12 Uhr stellt sich Merkel also ihrer wahrscheinlich wirklich allerletzten Regierungserklärung. Thema ist die Afghanistan-Krise. Angesichts des offenkundigen Versagens der Bundesregierung dürften dieses Mal wohl nicht so viele freundliche Worte fallen wie beim vorherigen Mal.


Ein letzter Trommelwirbel

Er war der legendäre Schlagzeuger der legendären Rolling Stones: Charlie Watts ist gestern im Alter von 80 Jahren gestorben. "Ursprünglich waren die Stones für mich nur eine weitere Band", sagte er einmal der "Süddeutschen Zeitung". "Ich ging davon aus, dass spätestens nach zwei Jahren alles vorbei sein würde." Doch dann trommelte er sich 58 Jahre lang mit der Rockband um Mick Jagger und Keith Richards zu Weltruhm. "Die Stones ohne ihn – wie soll das gehen?", fragt unser Kolumnist Gerhard Spörl in seinem Nachruf, denen ich Ihnen heute ans Herz lege. Und meine Kollegen Adrian Röger und Sandra Sperling zeigen Ihnen Charlies legendäre Trommelwirbel anhand von Archivaufnahmen.


Funkelnde Eröffnung

Gestern wurden die Paralympischen Spiele in Tokio eröffnet, heute beginnen die ersten Wettbewerbe. Meine Kollegen aus unserer Sportredaktion erklären Ihnen, worauf Sie achten sollten.


Was lesen?

Plötzlich ist die SPD im Aufschwung, eine Umfrage sieht sie nun sogar vor der Union. Einige Genossen können es noch gar nicht recht glauben. Doch dass die Sozialdemokraten am Ende mitregieren, ist keineswegs sicher, schreibt unser Reporter Johannes Bebermeier.


Nach dem Streik ist vor dem Streik? Heute früh ist zumindest die zweite Streikrunde der Lokführergesellschaft GDL geendet, eine Einigung mit der Bahn aber ist nicht in Sicht. Doch eines ist bereits klar: Dieser Streik wird das Unternehmen verändern – und das gesamte Land, meint unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.


Die Corona-Krise rückt vor der Bundestagswahl wieder in den Fokus. Ausgerechnet in NRW sind die Zahlen besonders hoch. Muss CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet Konsequenzen für seinen Wahlkampf fürchten? Meine Kollegin Lisa Becke hat Antworten.


Was amüsiert mich?

Mit schiefen Tönen ins Kanzleramt? Fraglich, ob die Grünen nach ihrem neuesten Wahlwerbespot noch als ernsthafte Konkurrenz wahrgenommen werden. Die anderthalb Minuten geballte Fremdscham finden Sie hier.

Kommen Sie gut durch diesen Tag! Morgen lesen Sie an dieser Stelle wieder von Florian Harms.

Herzliche Grüße,

Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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