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Berlin ist Deutschlands Prügelknabe – Abneigung gegen die Hauptstadt


Abneigung gegen die Hauptstadt
Warum Berlin Deutschlands Prügelknabe bleiben wird

MeinungEin Gastbeitrag von Lukas Haffert

Aktualisiert am 18.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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Berlin-Kreuzberg (Archivbild): Die deutsche Hauptstadt ist für viele Nicht-Berliner immer wieder Objekt der Kritik.Vergrößern des Bildes
Berlin-Kreuzberg (Archivbild): Die deutsche Hauptstadt ist für viele Nicht-Berliner immer wieder Objekt der Kritik. (Quelle: Wolfram Steinberg/dpa-bilder)

Deutschland streitet gern, doch in einer Beziehung sind sich viele Menschen einig: in der Abneigung gegen die sogenannte Berliner Blase. Warum der Hauptstadt so viel Abneigung entgegenschlägt, erklärt Politologe Lukas Haffert.

Bei keiner Bundestagswahl war der Stadt-Land-Graben so tief wie bei der im September 2021. Während die Grünen in vielen Großstädten triumphierten, zog die AfD ihre Kraft verstärkt aus dem ländlichen Raum. Längst hat dieser Graben nicht nur die Wahlergebnisse erfasst, sondern prägt auch unseren politischen Diskurs.

So gehört es in Teilen des politischen Spektrums mittlerweile zum guten Ton, über die "urbanen Eliten" zu schimpfen, die in der "Berliner Blase" längst vom Latte Macchiato zum Flat White übergegangen sind, den sie dann auch noch auf Englisch bestellen. "Das ist hier nicht Berlin-Kreuzberg", erklärte Friedrich Merz seinem Publikum im thüringischen Apolda, "das ist mitten in Deutschland" – und klang damit tatsächlich ein wenig wie der deutsche Donald Trump, als der er gerne karikiert wurde.

Lukas Haffert, Jahrgang 1988, ist Ökonom und Politikwissenschaftler, er lehrt und forscht an der Universität Zürich. Zuvor verbrachte Haffert Forschungsaufenthalte an der Georgetown University und der Harvard University in den USA. Gerade erschien mit "Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung" sein neuestes Buch.

Das Schreckensszenario, mit dem Jens Spahn 2021 in den Wahlkampfendspurt zog, lautete, eine SPD-geführte Regierung werde aus Deutschland "ein großes Berlin-Mitte machen". Warum brechen sich die wachsenden politischen Gegensätze zwischen Stadt und Land gerade auf diese Weise Bahn? Woher kommt diese symbolische Aufladung, und warum macht sie sich so sehr an Berlin fest?

Selbst Donald Trump wurde kritisiert

Zunächst kann man festhalten, dass die große Stadt nicht nur in Deutschland ein populäres Ziel politischer Attacken ist. Insbesondere in rechtspopulistischen Narrativen verkörpern Metropolen gerne all das, was in der Gesellschaft vermeintlich falsch läuft. So musste sich ausgerechnet Donald Trump 2016 im innerparteilichen Vorwahlkampf vorwerfen lassen, er habe "New York Values".

In dieser Kritik ist New York eine Chiffre für ganz unterschiedliche Gruppen: für Vegetarier und Fahrradfahrer, für Einwanderer, Waffengegner, Abtreibungsbefürworter und vieles andere mehr – für all diejenigen also, mit denen das "wahre" Amerika außerhalb der Metropole nichts zu tun haben möchte. Solche Kritik soll dazu dienen, eine diverse Anhängerschaft durch einen Appell an ihre geteilte Abneigung gegenüber einem gemeinsamen Gegner zusammenzuführen und politisch zu mobilisieren.

Dabei erlaubt Großstadtkritik, zwei Gegner gleichzeitig zu markieren, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben. Die Metropole repräsentiert die politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten, sie repräsentiert aber gleichzeitig auch die "Einwanderer", das andere große Feindbild des Rechtspopulismus. Außerdem ruft diese Kritik einige weitere traditionelle Kassenschlager des Rechtspopulismus auf.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen modifizierten Auszug aus dem neuen Buch "Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung

So erscheinen Großstädte häufig als Horte der Kriminalität und der politischen Korruption. Und die Erzählung vom faulen Berlin, das dem Rest des Landes auf der Tasche liege, fügt sich exzellent ein in die rechtspopulistische Unterscheidung zwischen den produktiven, hart arbeitenden "Makers" und den "Takers", die auf die eine oder andere Weise von Steuergeld leben.

Großstadtkritik ist immer en vogue

Schließlich passt die Metropolenkritik ganz vorzüglich in die Strategie, die vermeintliche Elite durch Grenzüberschreitungen, Geschmacklosigkeiten oder Tabubrüche zur Selbstentlarvung zu bringen: Indem man die Provokation kritisiert, gibt man sich als Teil der Elite zu erkennen und belegt damit vermeintlich, wie treffend die Kritik war. Da die meisten Produzenten öffentlicher Deutung selbst in Großstädten leben, funktioniert dieser Mechanismus bei kaum einem anderen Thema so gut wie bei Großstadtkritik.

Seit jeher ist in Deutschland Berlin die Metropole, die zur Zielscheibe solcher Kritik wird. Nur in den wenigen Jahrzehnten der deutschen Teilung firmierte West-Berlin in der bundesrepublikanischen Rhetorik als "Leuchtfeuer der Freiheit", das "den Westen" und seine Werte symbolisierte. Ansonsten hieß es in der politischen Rhetorik meistens: Ich bin kein Berliner.

Dabei zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen den aktuellen Attacken und früheren Wellen der Berlinkritik. Diese Kritik setzte mit der Reichsgründung 1871 ein, als Deutschland mit der neuen Hauptstadt zum ersten Mal eine echte Metropole bekam. Ihren Höhepunkt erreichte diese vor allem aus nationalistischen und rechtskonservativen Kreisen kommende Kritik aber in der Weimarer Republik.

In den 1920er-Jahren wurde Berlin zum Symbol für die neue politische und gesellschaftliche Ordnung und all das, was mit ihr einherging. Die Hauptstadt, so der Journalist und Autor Jens Bisky, verkörperte symbolisch die gesamte Gesellschaft: "Wie man zur Republik stand, zur neuen Kulturindustrie, zur neuen Baukunst, zu Volk oder Revolution – all das ließ sich leicht am Urteil über die Hauptstadt ablesen. Und auf ein solches wollten die wenigsten verzichten."

Das Chicago Europas?

Dass die Berlinkritik gerade in den 1920er-Jahren einen Höhepunkt erreichte, hat zweifellos mit den besonderen politischen Bedingungen der Zeit zu tun. Die junge Republik war von Beginn an revisionistischen Angriffen von rechts ausgesetzt, die in Berlin eine willkommene Zielscheibe fanden. Zur Intensität der Kritik dürfte aber auch beigetragen haben, dass die ökonomischen und kulturellen Unterschiede zwischen Berlin und dem Rest des Landes selten so groß waren wie in den 1920er-Jahren.

Angetrieben von AEG und Siemens war Berlin seit dem späten 19. Jahrhundert weltweit führend in der Elektrotechnik. 1923 wurde der Flughafen Tempelhof eröffnet, 1924 fand die erste Internationale Funkausstellung statt. Im selben Jahr wurde die erste Ampel am Potsdamer Platz aufgestellt. Währenddessen waren ländliche Regionen noch immer fast vollkommen agrarisch geprägt.

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Berlin zog auch deshalb eine so scharfe Polemik auf sich, weil die ökonomischen und kulturellen Veränderungsprozesse der Zeit hier kaum durch länger bestehende Strukturen aufgehalten oder gebrochen wurden. Das einzigartig rasante Wachstum des 19. Jahrhunderts hatte aus einer mittleren Residenzstadt binnen weniger Jahrzehnte eine Weltstadt gemacht.

Mark Twains berühmte Charakterisierung Berlins als "europäisches Chicago" brachte gerade dieses für europäische Städte untypische Fehlen tiefer historischer Kontinuitäten zum Ausdruck. Entsprechend war eine Attacke auf Berlin tatsächlich eine Attacke auf eine reine, kaum durch Ablagerungen früherer Epochen verdeckte Moderne.

CDU-Chefin im Abseits

Betrachtet man die Welle der Berlinkritik des Kaiserreichs und der 1920er-Jahre vor dem Hintergrund dieser strukturellen Besonderheiten, dann zeigen sich erstaunlich viele Gemeinsamkeiten mit der Gegenwart. Zunächst einmal betrifft das die Kritik selbst: Der Historiker Ralf Stremmel identifiziert in einer Studie fünf "Grundtendenzen" der konservativen Berlinkritik der Weimarer Republik.

Diese bezog sich demnach erstens auf die Internationalität der Stadt, zweitens auf den dort herrschenden Individualismus, drittens auf Kriminalität und fehlende Moral, viertens auf die Dominanz der politischen Linken und fünftens auf die Modernität des Alltagslebens.

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Praktisch alle diese Motive tauchen auch heute wieder auf: In Jens Spahns Klage, man könne in Berlin Mitte in vielen Restaurants nur noch auf Englisch bestellen, in der Angst vor der Clan-Kriminalität, in Hans-Georg Maaßens Twitter-Polemik gegen das "sozialistische Berlin" oder in Annegret Kramp-Karrenbauers verunglückter Karnevalsrede über "die Latte-Macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das dritte Geschlecht einführen" wolle.

Den rhetorischen Gemeinsamkeiten entsprechen strukturelle Parallelen. Wenngleich in anderer Form als 1871 stellten auch die Wiedervereinigung und der Hauptstadtumzug für Berlin einen grundlegenden Neustart dar. Deshalb konnten viele gesellschaftliche Entwicklungen der letzten 30 Jahre, die an anderen Orten in bestehende Strukturen eingepasst und durch diese gedämpft wurden, sich hier ganz frei entfalten.

Berlin holt auf

Berlin ist heute vielleicht nicht das Shenzhen Europas, aber verglichen mit anderen europäischen Städten relativ frei von historischen Pfadabhängigkeiten. Selbstverständlich ist Berlin eine zutiefst von Geschichte durchzogene Stadt. Aber seine Sozial- und Wirtschaftsstruktur sind viel weniger historisch vorgeprägt als in westdeutschen Städten. Berlin repräsentierte in den 1920er-Jahren die Quintessenz der Gegenwart und war deshalb besonders angreifbar. Genau das ist auch heute wieder in vieler Hinsicht der Fall.

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Das hat damit zu tun, dass der Aufstieg Berlins sehr ungleichmäßig verlief. Während Berlin sich in den zwei Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung zu einer politischen und kulturellen Metropole entwickelte, kam die Stadt ökonomisch kaum vom Fleck. Seit etwa zehn Jahren ist allerdings ein massiver ökonomischer Aufholprozess in Gang gekommen. Nachdem jahrelang kein einziges Berliner Unternehmen im DAX vertreten war, sind es nach dessen Aufstockung auf 40 Unternehmen mittlerweile vier – Delivery Hero, Deutsche Wohnen, HelloFresh und Zalando.

Wie diese Namen schon zeigen, ist dieser Aufschwung allerdings kein Ausdruck eines verspäteten Aufstiegs zur Metropole der Deutschland AG. Stattdessen stehen im Zentrum des Berliner Wirtschaftsmodells die Kreativwirtschaft und der Digitalsektor. Insbesondere wurde Berlin zur deutschen Start-up-Metropole. Wie in den 1920 er-Jahren ist die Struktur der Berliner Wirtschaft heute deshalb wenig repräsentativ für große Teile des Landes.

Zugleich hat sich Berlin seit der Wiedervereinigung zu einer Metropole der Deutungshoheit entwickelt. Berlin setzt heute die Themen für die gesellschaftlichen Debatten und gibt diesen Debatten eine Richtung, die wiederum selbst von den Besonderheiten der Entwicklung Berlins geprägt ist.

Verkörperung der Unterschiede

Diese Mischung aus ökonomischer Sonderentwicklung und kultureller Dominanz gibt der heutigen Berlinkritik ihre spezifische Form. Die fehlende wirtschaftliche Potenz der Stadt verhindert, dass "Berlin" in gleicher Weise wie "London", "Wien" oder "Paris" als Chiffre für alle Mitglieder der Elite dienen kann. Gleichzeitig trägt sie aber dazu bei, dass die Berlinkritik besonders scharf ausfällt und sich einseitig auf kulturelle Aspekte konzentriert.

Die Intensität dieser Berlinkritik dürfte auch kaum nachlassen, wenn der ökonomische Aufschwung der Start-up-Hauptstadt anhalten sollte. Denn er mag zwar dazu beitragen, dass Berlin irgendwann nicht mehr der größte Empfänger des Länderfinanzausgleichs ist. Sowohl kulturell als auch mit Blick auf die Wirtschaftsstruktur vergrößert er die Unterschiede zwischen Berlin und dem Rest des Landes aber sogar noch. Viel spricht deshalb dafür, dass Polemiken gegen Berlin auch weiter Konjunktur haben werden.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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