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Was der Fall Boris Palmer über Deutschland aussagt


Corona-Diskussionen
Was der Fall Boris Palmer über das Land aussagt

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 30.04.2020Lesedauer: 6 Min.
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Tübingens Bürgermeister Boris Palmer: Die Reaktion auf seine umstrittenen Äußerungen in der Corona-Krise sei ein gutes Zeichen für die Gesellschaft, findet t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Tübingens Bürgermeister Boris Palmer: Die Reaktion auf seine umstrittenen Äußerungen in der Corona-Krise sei ein gutes Zeichen für die Gesellschaft, findet t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor. (Quelle: Eibner/imago-images-bilder)

Wird Covid-19 zum Totengräber der Religion? Tötet das Coronavirus sie, weil nur noch die Naturwissenschaft zählt? Der Fall Palmer ist ein Indiz dafür, dass das nicht stimmt.

Neulich berichtete mir jemand, in der Corona-Krise könne man den Eindruck bekommen, Kunst, Religion und Philosophie seien plötzlich zur Nebensache geworden, weil nur noch die (Natur-)Wissenschaft Antworten auf die Herausforderungen gebe. Braucht es diese "Nebensache" überhaupt noch? Wozu muss der moderne Menschen sinnieren, wenn er alles wissen kann?

Werden wir uns nach der Krise noch wiedererkennen?

In der Tat. Selbst die Politik hat es derzeit schwer, sich zu behaupten. Fragen Sie mal die Opposition! Dem Philosophieren über Sein oder Nichtsein wird derzeit kaum Raum gelassen. Die existenzielle Frage von Gesundheit und wirtschaftlichen (Lebensgrundlagen) überlagert alles – selbst Grundrechte. Zudem stellt das Coronavirus die Basis von Religionen auf zweierlei Weise in Frage – indem es die Theodizee beschwört: Warum lässt Gott so etwas zu? Und indem es das Göttliche unter die Knute menschlicher Ordnung zwingt: Gottesdienste und Jahrhunderte alte Rituale werden untersagt. Droht Covid-19 Religionen bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren, wenn das zentrale Element des Gemeinschaftserlebnisses entfällt? Werden wir uns nach der Krise noch wiedererkennen?


Die Bedeutung solcher Fragen wird verstärkt, weil das aktuelle Szenario nicht nur einige Regionen betrifft, sondern weltweit herrscht. Corona hat erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine Krise universellen Ausmaßes für die Menschheit ausgelöst. Alle Länder und Regionen der Welt sind betroffen. Das ist neu für uns. Die Krisen, die wir bisher kannten, ließen zumindest theoretisch die Option offen, sich durch Flucht in andere Regionen, Staaten oder Kontinente der Bedrohung zu entziehen. Ferner machen uns geschlossene Grenzen, eingestellter Flugverkehr, Reisebeschränkungen zu Gefangenen; was vielen bisher vielleicht gar nicht bewusst ist.

Naturwissenschaft allein reicht nicht

Wenn wir nun überlegen, von woher wir kommen, ist die aktuelle "Herrschaft der Naturwissenschaft" zunächst sehr positiv zu bewerten. Vor wenigen Monaten erst haben Hunderttausende auf allen Kontinenten teils verzweifelt dazu aufgerufen, der Wissenschaft mehr Gehör zu verschaffen. Die Trumps, Bolsonaros und AfDs dieser Welt haben sie nicht nur in Bezug auf den Klimawandel verächtlich gemacht. Doch die radikale Umkehrung der Verachtung in ihr Gegenteil ist nicht die Lösung. Naturwissenschaft allein reicht nicht. Eine gesunde Gesellschaft muss sich darum bemühen, die Balance zwischen allem, was sie ausmacht, zu bewahren – und dazu gehört definitiv das Transzendente. Alles muss auf ein angemessenes Maß gebracht werden. Zu viel von etwas oder zu wenig ist schädlich und bringt das Gleichgewicht durcheinander.

Insofern ist die Annahme, dass nur noch wissenschaftliches Kalkül zähle, bloß das Ergebnis einer oberflächlichen Betrachtung des Augenblicks. Eiskalte Rationalität würde einem Boris Palmer ansonsten recht geben. Die Natur funktioniert weitgehend im Sinne von Charles Darwins "Survival of the fittest". Sie sortiert Kranke und Alte aus, wer am fittesten ist, überlebt. Wenn der Grünen-Politiker im Sat1-Frühstücksfernsehen sagt: "Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", dann bewegt er sich damit durchaus in naturwissenschaftlichen Vorstellungswelten.

Der Mensch besteht aus mehr als seinem Verstand

Doch das Land ist angesichts der Kälte dieser Überlegung angewidert und aufgeschreckt – obwohl man das von Palmer kennt. Er hat vor der Corona-Krise schon viele solcher Sätze gesagt. Man hätte seinen Einwurf folglich einfach als weitere Provokation eines Berufsprovokateurs abtun können. Wer ist Boris Palmer, dass er so etwas sagen kann? Womöglich sind wir derzeit sogar anfälliger für moralische Krisensituationen und werden dünnhäutiger. Die Empörung über Palmer zeigt, Mitgefühl und selbst Unvernunft sind für eine Gesellschaft wichtig.

Würde der Mensch bloß der reinen Logik der Wissenschaft folgen, würde er zwangsläufig pessimistisch, destruktiv und ein Stück weit depressiv. Pure Rationalität überfordert unsere ethischen Maßstäbe. Kunst, Religion und Philosophie vermitteln dagegen Hoffnung und Optimismus. Die Gewissheit, dass es irgendwie mehr gibt, als der Mensch fassen kann. Ohne Ästhetik, Spiritualität und Transzendenz würden wir mit der Welt und ihren Krisen nicht fertig. Naturwissenschaft sorgt für Befriedigung auf kognitiver Ebene, aber für die affektive Ebene reicht es nicht. Das Herz wird durch sie nicht beruhigt. Der Mensch besteht aus mehr als seinem Verstand. Gleichsam besteht die Welt nicht aus Wissen ODER Glauben, sondern aus Wissen UND Glauben.

In der Religion kennt kein Mensch diese absolute Wahrheit

Manche Menschen wirft die Coronakrise völlig aus der Bahn – vor allem die, die derzeit allein sind und die die Einsamkeit aufrisst. Was hilft ihnen in dieser Lage ihr Verstand? Wie soll ihnen eine Virologin Erleichterung bringen, die ihnen sagt: "Aber das Virus verbreitet sich sonst weiter, wenn du dich nicht isolierst!" Zudem sorgt die Corona-Krise für surreale Szenen. Plätze, die wir nur dicht bevölkert kennen, sind plötzlich gähnend leer. Das Abstandhalten zwingt uns, gegen die menschliche Natur zu handeln. Vertrautes wird fremd. Um diese Surrealität zu begreifen, braucht es ebenfalls mehr als Rationalität. Normalerweise schafft eine Gesellschaft für so etwas Orte der Beruhigung, Einkehr und Zerstreuung. Was für den einen der Gottesdienst ist, ist dann für den anderen der Sportverein.

(Natur-)Wissenschaft, Kunst, Religion und Philosophie passen besser zueinander, als man zunächst vermuten mag. Selbst Wissenschaft und Religion sind sich in einem Punkt gar nicht so unähnlich: Es gibt immer Zeitgenossen, die in der einen oder der anderen die absolute Wahrheit sehen wollen. In der Religion kennt kein Mensch diese absolute Wahrheit – jenseits von Fundamentalisten haben das alle begriffen. Aber auch in der Wissenschaft ist absolute Wahrheit absolute Ausnahme, nur das haben viele bislang nicht begriffen. Albert Einstein gesellte seine Relativitätstheorie der Gravitationstheorie von Isaac Newton hinzu und warf damit Fragen auf. Heute gehört das Mäkeln an Einsteins Relativitätstheorie geradezu zum guten Ton. Selbst "Heilige der Wissenschaft" kannten offenbar nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern lediglich Annahmen. Heute erleben wir tagtäglich die Unterschiede bei den Virologen. Das ist kein Manko, sondern wissenschaftliche Normalität.

Krisen schaffen Helden, und die werden von manchen gehasst

Aus virologischer Unkenntnis schaffen sich Menschen dennoch Kriterien für oder gegen jemanden und hängen sich beispielsweise an Christian Drosten – vielleicht weil er so angenehm ruhig spricht, weil er so kompetent wirkt, weil er ein Chef an der Charité ist. Menschen entziehen sich der Unsicherheit, indem sie Anhänger von jemandem werden; nichts anderes machen religiöse Menschen. Sie fühlen sich wohler und werden sicherer, wenn es jemanden gibt, der sie an die Hand nimmt und ihnen einen Weg durch die Krise weist – sei es die Krise der Pandemie oder die Krise des Lebens. Das ist alles in Ordnung. Problematisch wird es erst an der Stelle, an der Anhänger anfangen, ihre Haltung über die von anderen zu stellen.

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Christian Drosten erhält dieser Tage Morddrohungen. Das war leider total erwartbar, wenn jemand in der Öffentlichkeit so hochgehoben wird. So hoch man einen Menschen hebt, so tief wollen ihn manche fallen sehen. Krisen schaffen Helden, und die werden von manchen gehasst. Heute wird jeder bedroht, der stark in der Öffentlichkeit steht. Im Gegenzug legen einige jener, die Christian Drosten in den sozialen Medien verteidigen, bisweilen geradezu religiösen Eifer an der Tag.

Das Unsichere und Unbekannte treibt uns an – in der Wissenschaft wie im Glauben. Unsicheres und Unbekanntes ist immer da, und das schafft den Platz für Wissenschaft UND Glauben. Naturwissenschaft kann niemals eine existenzielle Bedrohung für Kunst, Religion und Philosophie sein. In der Vergangenheit wurden alle drei Bereiche schon einmal deutlich massiver an den Rand gedrückt als in der Corona-Krise: das Christentum im Römischen Reich, in der islamischen Geschichte gab es Bestrebungen, die Philosophie auszublenden, und die Nazis versuchten, die Kunst zu unterdrücken. Nichts davon war nachhaltig, alle drei erlebten im Nachhinein eine neue Blüte – mit dem ein oder anderen neuen Impuls. Das zeigt: Krisensituationen können sie durchaus neu beleben.

Das Verlangen nach ihnen ist stets vorhanden, auch wenn es mal unter die Oberfläche rutscht, und der Ruf danach wird lauter, wenn man ihnen kein Gehör schenkt. Die Corona-Krise lässt sich nicht bewältigen, ohne das Unvernünftige und Emotionale einzukalkulieren. In erster Linie ist es die Politik, die das nun begreifen muss – zum Beispiel wenn sie zwischen Lockdown und Lockerung zu entscheiden hat. Eine klare Linie pro oder contra kann es da nicht geben. Das lehren uns Naturwissenschaft, Kunst, Religion und Philosophie gemeinsam.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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