Afghanistan-Krise "So kann sich Deutschland doch nicht darstellen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mit einem Zapfenstreich vor dem Reichstag sind die Bundeswehrsoldaten für ihren Einsatz in Afghanistan gewürdigt worden. Zu Recht, betont Grünen-Politiker Erik Marquardt. Doch er warnt davor, die Krise jetzt zu vergessen.
Der 20-jährige Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch ist offiziell zu Ende. Über die Symbolik des Großen Zapfenstreichs vor dem Reichstag wird viel diskutiert. Die desaströse Lage vor Ort in Afghanistan ist hingegen in den Hintergrund gerückt. Der Europaabgeordnete Erik Marquardt engagiert sich selbst in einer Hilfsinitiative – und berichtet über deutsche Versäumnisse und eine drohende Katastrophe.
t-online: Herr Marquardt, wie bewerten Sie die Symbolik hinter dem Zapfenstreich für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan?
Erik Marquardt: Dass den Soldatinnen und Soldaten gedankt wird, die einen hohen Preis für das bezahlt haben, was politisch von ihnen gefordert wurde, finde ich völlig richtig. Diese Veranstaltung gehört ihnen.
Einverstanden. Aber könnte der Zapfenstreich jetzt nicht auch als Schlussstrich unter das deutsche Engagement in Afghanistan gesehen werden?
Das wäre gefährlich. Die Aufgabe in Afghanistan wurde durch den Militärabzug größer und nicht kleiner. Der Einsatz ist vielleicht beendet, das heißt aber nicht, dass das Engagement in Afghanistan beendet sein darf. Es droht dort eine sehr große humanitäre Katastrophe. Wir haben in den letzten Monaten viel über Flucht und Migration diskutiert, aber die eigentliche Gefahr ist nicht, dass sich Menschen aus Afghanistan auf den Weg machen.
Sondern?
Die Gefahr ist, dass wir dort eine unkontrollierbare Krise mit noch nicht absehbaren Folgen haben. Dass Menschen hungern müssen und die Gesundheits- und Stromversorgung nicht sichergestellt werden kann, ist eine Horrormeldung. Mich wundert, dass so wenig darüber berichtet wird und das hängt wahrscheinlich auch mit dem Truppenabzug zusammen.
Mit Blick auf die Ortskräfte der Bundeswehr: Wie ist die Situation zurzeit?
Es melden sich nach wie vor täglich Ortskräfte, die festsitzen. Einige haben zwar Aufnahmezusagen der Bundesregierung erhalten, aber die allein hilft ihnen nicht. Praktisch können sie das Land trotzdem nicht verlassen. Es ist absurd, dass eine zivilgesellschaftliche Initiative wie die Kabul Luftbrücke überhaupt notwendig ist, um die Menschen zu evakuieren.
Tagtäglich melden sich auch neue Menschen, die keine Aufnahmezusage der Bundesregierung bekommen haben. Das Verwaltungsverfahren in Deutschland, das genau überprüft, was für eine Art Arbeitsvertrag die Menschen hatten, passt überhaupt nicht zur Realität. Es gibt Menschen, die zehn Jahre bei der Bundeswehr beschäftigt waren, aber nur einen Werksvertrag hatten und nicht direkt bei ihrem Arbeitgeber angestellt waren. Die dürfen jetzt trotz der Bedrohung nicht nach Deutschland, weil das so in der Verwaltungsvorschrift steht. Die Taliban unterscheiden aber nicht nach deutschem Arbeitsrecht, wen sie verfolgen und wen nicht.
Sie haben die Luftbrücke, für die Sie sich auch selbst engagieren, schon angesprochen. Was würden Sie sich von der Bundesregierung jetzt wünschen?
Auf der einen Seite ist es weniger Bürokratie, aber auf der anderen Seite braucht es auch Politikerinnen und Politiker, die gewillt sind, sich für das Thema einzusetzen. Die gibt es, aber leider nur vereinzelt. Bei der scheidenden Bundesregierung habe ich das Gefühl, sie will nur noch ihre Pokale aus dem Schrank nehmen, abputzen und vernünftig in Kisten verstauen. Dass es so wenig Aufmerksamkeit für diese Katastrophe gibt, ist tragisch. So kann sich die Bundesrepublik Deutschland doch nicht darstellen.
Konkret: Welche Maßnahmen wünschen Sie sich?
Meine Forderung an die Bundesregierung ist, dass mehr Aufnahmezusagen erteilt werden und diese dann auch zu einer tatsächlichen Evakuierung führen. Zivile Hilfsorganisationen wie die Kabul Luftbrücke würden sich darüber freuen, wenn sie sich auflösen könnten, weil sie nicht mehr gebraucht werden.
Wie wollen Sie den öffentlichen Druck denn erhöhen, damit die Bundesregierung dem Thema wieder mehr Aufmerksamkeit schenkt?
Es ist wichtig, dass wir mit dem einbrechenden Winter auf die drohende humanitäre Katastrophe hinweisen. Wir müssen der deutschen Öffentlichkeit klarmachen, dass dort teilweise Kinder ihre Eltern verloren haben und niemand sich um sie kümmert. Es gibt junge Frauen, die sich bei Instagram für Frauenrechte eingesetzt haben und dafür auch von der EU gefeiert wurden. Jetzt werden sie jedoch mit den Taliban allein gelassen und es interessiert fast niemanden mehr, ob sie zwangsverheiratet werden.
Welche Konsequenzen muss die nächste Regierung, wahrscheinlich unter Beteiligung Ihrer Partei, aus dem Einsatz ziehen?
Politik sollte vorausschauend handeln, statt nur der Aufmerksamkeit der Medienöffentlichkeit hinterherzurennen. Es braucht zivile Krisenprävention und gezielte Investitionen in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschland und Europa müssen absehbare Krisen verhindern, anstatt immer nur als Feuerwehr die Brände zu löschen und dann wieder weiterzufahren.
Die Politik wird für Krisenprävention allerdings nicht gefeiert.
Das war sicherlich eines der Probleme des Afghanistan-Einsatzes: Als Reaktion auf die schrecklichen Anschläge des 11. September wurde der Einsatz gestartet ohne eine „Exit Strategie“ zu haben. Es wurde nicht überlegt, wie es der afghanischen Bevölkerung ermöglicht werden kann, sich zu engagieren und ihren eigenen Staat zu gestalten. Die afghanische Regierung hatte kaum Akzeptanz in der Bevölkerung. Das hat der Siegeszug der Taliban gezeigt. Es ist überraschend, dass das 20 Jahre lang nicht gesehen wurde. Man hat eine korrupte Regierung unterstützt, die eigentlich keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatte.
Zudem haben beim Thema Afghanistan in den letzten Jahren auch zunehmend innenpolitische Motive eine Rolle gespielt. Lageberichte waren nicht dazu da, um festzustellen, wie die Lage in Afghanistan tatsächlich ist, sondern um Abschiebungen zu rechtfertigen. Wer aus solchen innenpolitischen Motiven handelt, verliert den realistischen Blick auf die realen Herausforderungen. Das muss sich ändern.
- Interview mit Erik Marquardt