Neuer Sozialstaat Recht auf Arbeit statt Grundeinkommen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die SPD will einen "neuen Sozialstaat" schaffen. Sie will ein Recht auf Arbeit etablieren, den Mindestlohn auf 12 Euro erhöhen – und Hartz IV hinter sich lassen.
Die SPD hat noch immer an den Folgen der Agenda-Reformen aus dem Jahr 2003 zu knabbern. Viele einstige Wähler wendeten sich ab, der SPD hängt das Image der Hartz-IV-Partei an. Zugleich hat sich die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren stark gewandelt – und wandelt sich weiter.
Die SPD will auf diese Entwicklungen mit einem Konzept reagieren, das einen neuen Sozialstaat skizziert. Wie sich die Partei den vorstellt, beschreiben die SPD-Politiker Manuela Schwesig und Kevin Kühnert in diesem Gastbeitrag für t-online.de.
Mit Blick auf eine sich rasant verändernde Arbeitswelt ist es Zeit für eine grundlegende Erneuerung der Absicherung von Arbeit. Es geht um neue Chancen und den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Dazu hat Andrea Nahles als Parteivorsitzende ein Konzept vorgestellt, in dem wir Sozialdemokraten den Sozialstaat neu definieren.
Seit 15 Jahren diskutiert unsere Gesellschaft über Hartz IV. Kaum eine politische Entscheidung hat so sehr mobilisiert, empört, entzweit. Der Name hat sich tief in unsere Sprache hineingefressen. Nachbarn, Freunde und Angehörige wurden zu "Hartz-IV-Empfängern" und "Hartz-Kindern". 2009 wurde "hartzen" Jugendwort des Jahres – es war gleichbedeutend mit Faulenzerei. Für die einen waren die Hartz-Reformen ein Verrat am Sozialstaat, für andere waren sie die logische Antwort auf fünf Millionen Arbeitslose. Vergessen haben wir dabei häufig die Perspektive der Betroffenen, die nicht selten Ausgrenzung und Stigmatisierung erlebt haben. Wir wollen Hartz IV überwinden und schlagen ein Konzept für mehr Chancen und mehr Sicherheit vor.
Manuela Schwesig, 44, ist seit Juli 2017 Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, nachdem Erwin Sellering sich aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen musste. Die SPD-Politikerin war von 2013 bis 2017 Bundesfamilienministerin in der großen Koalition.
Ein Recht auf Arbeit
Der Wandel der Arbeit ist so alt wie die Arbeit selbst. Ganz aktuell fordern uns datenbasierte Geschäftsmodelle und künstliche Intelligenz heraus. Alte Berufsbilder verschwinden, neue entstehen. Die Arbeit wird uns Menschen dabei auf absehbare Zeit nicht ausgehen. Doch sie wird sich ändern, viele Chancen mit sich bringen – und manche vor Herausforderungen stellen. Der verständlichen Sorge vor dieser Entwicklung wollen wir mit einem Recht auf Arbeit begegnen.
Das Recht auf Arbeit ist die Selbstverpflichtung des Staates, jedem Menschen Arbeit und Teilhabe zu ermöglichen. Unabhängig von Alter, Qualifikation und dem bisherigen Lebensweg. Wir wollen nicht, dass die Gemeinschaft sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen von dieser Pflicht freikauft und vor dem Wandel kapituliert. Wir können und wollen den technischen Fortschritt nicht stoppen, aber wir werden in ihm Sicherheit garantieren. Diese Garantie ist Voraussetzung dafür, das Vertrauen in Demokratie und Sozialstaat wieder zu stärken.
In unserem reichen und wirtschaftlich starken Land muss die Abhängigkeit von Sozialleistungen die Ausnahme von der Regel sein. Der Anspruch unserer Politik ist nicht, die Grundsicherung leidlich erträglich zu machen. Anspruch unserer Politik ist vielmehr, den Fall in die Grundsicherung mit aller Macht zu verhindern. Dafür muss zuallererst der Wert der Arbeit gestärkt werden.
Kevin Kühnert, 29, ist Bundesvorsitzender der Jusos, der Jugendorganisation der SPD. Er ist seit 2005 SPD-Mitglied, arbeitet für einen Berliner Landesabgeordneten und ist in Berlin kommunalpolitisch tätig. Er war einer der größten Gegner einer neuerlichen großen Koalition.
Gute Tarifverträge und Familienarbeitszeit
Wir werden helfen, dass mehr Menschen von guten Tarifverträgen und Arbeitsschutz profitieren. Wir werden neue, schlecht regulierte Arbeitsformen besser schützen. Wir werden mit einer Familienarbeitszeit, dem Recht auf mobiles Arbeiten und auf Nichterreichbarkeit die Souveränität über die eigene Zeit stärken. Wir werden ein persönliches Zeitkonto einführen, auf dem Überstunden dauerhaft gesichert, gemehrt und für persönliche Bedürfnisse genutzt werden können.
Wir werden einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und eine Qualifizierungsgarantie einführen, damit aus der Arbeitslosenversicherung endlich eine Arbeitsversicherung wird.
Wir wollen mit einer sozialdemokratischen Kindergrundsicherung dafür sorgen, dass alle Kinder gebührenfreien Zugang zu Ganztagskita und Ganztagsschule haben. Dazu gehört auch Arbeit für Eltern, um Perspektivlosigkeit in Familien zu verhindern und ein Kindergeld, das Armut verhindert.
Mindestlohn von 12 Euro und Bürgergeld statt Hartz IV
Wir streben einen Mindestlohn in Höhe von 12 Euro an und wollen, dass der Staat bei öffentlichen Aufträgen und öffentlicher Beschäftigung mit gutem Beispiel vorangeht. Damit wollen wir verhindern, dass arbeitende Menschen ihre Löhne beim Amt aufstocken müssen. Tarifgebundene Unternehmen wollen wir steuerlich besser stellen, denn die Stärkung der Tarifpartnerschaft bleibt unser Ziel.
Wer seine Arbeit verliert und nicht sofort eine neue findet, der soll sich auf Arbeitssuche und Weiterbildung konzentrieren können – und nicht Existenzängste leiden müssen. Den Anspruch auf Arbeitslosengeld I werden wir deshalb auf bis zu drei Jahre ausweiten. Längere Ansprüche hat demnach, wer wenigstens 20 Jahre Beiträge eingezahlt hat. Mit dem Arbeitslosengeld Q verlängern wir den Bezug auch für diejenigen, die ihr Recht auf Weiterqualifizierung in Anspruch nehmen.
Was heute landläufig als Hartz IV bezeichnet wird, werden wir durch ein Bürgergeld ablösen. Das Recht auf Arbeit gilt auch für dessen Bezieher. Sie erhalten ein Recht auf Nachholen eines Berufsabschlusses und einen Bonus für Weiterbildung. Dabei schützen wir für weitere zwei Jahre das Vermögen und sorgen dafür, dass niemand seine Wohnung verlassen muss.
Weniger Sanktionen und Hilfe bei unvorhersehbaren Anschaffungen
Wir wissen, dass viele Betroffene sich von verschiedenen Widrigkeiten des alten Systems gegängelt fühlen. Sondersanktionen für junge Menschen oder das Sanktionieren der Miete gehören deshalb in unserem Konzept der Vergangenheit an. Nervtötende Rechtsstreitigkeiten mit dem Jobcenter um ein paar Euro vermeiden wir durch eine angemessene Bagatellgrenze. Kaputte Waschmaschinen und Kühlschränke sollen nicht länger zum persönlichen Ausnahmezustand führen. Für solche Fälle werden wir unbürokratische Hilfe vorsehen. Alle Leistungen kommen einfach und verständlich aus einer Hand. Unser Sozialstaat bietet Hilfe offensiv an und versteckt sie nicht hinter Paragrafen.
Das sozialdemokratische Menschenbild ist ein positives, es hat ein erfülltes Leben zum Ziel. Wir wollen keinen Sozialstaat, der misstraut, Angst macht oder jemanden aufgibt. Wir wollen einen Sozialstaat, der individuell schützt, unbürokratisch unterstützt und Vertrauen vermittelt. Einen Sozialstaat, dessen Unterstützung jeder mit erhobenem Haupt annehmen kann, weil das nämlich kein persönliches Versagen bedeutet.
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In der SPD haben wir verstanden, dass im Mittelpunkt unserer politischen Debatte nicht stehen sollte, wer vor 15 Jahren auf einem Parteitag recht hatte. Die Herausforderungen der Gegenwart werden nicht mit Diskussionen von gestern bewältigt, sondern mit Konzepten, die in unsere Zeit passen. Diesen Anspruch löst unser Konzept für einen neuen Sozialstaat ein. Es orientiert sich am Respekt vor Leben und Arbeit eines jeden. Und es rückt damit endlich wieder das Wichtigste in den Mittelpunkt: den einzelnen Menschen mit all seinen Talenten, Bedürfnissen und sozialen Rechten.
Die in Gastbeiträgen geäußerte Meinung ist die der Autoren und entspricht nicht unbedingt derjenigen der t-online.de-Redaktion.