Martin Schulz nach NRW-Wahl "Bei Homeoffice und Digitalisierung haben die Grünen keine Angebote"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.t-online: Herr Schulz, Ihre Parteivorsitzende Saskia Esken sprach nach den Kommunalwahlen in NRW von einem „enttäuschenden Ergebnis“. War es für Sie auch enttäuschend?
Martin Schulz: Es gab Licht und Schatten. Verglichen mit den Europawahlen haben wir uns leicht erholt, und wir liegen immer noch vor den Grünen. Aber starke lokale Prägungen lassen nur bedingt Vergleiche zu. Ja, es gab für die SPD ernüchternde Ergebnisse, aber im Ruhrgebiet oder im Großraum Aachen haben wir auch sehr gut abgeschnitten.
Die wirklichen Gewinner waren ohne Zweifel die Grünen. Was können sich Sozialdemokraten abschauen?
Wir sollten nicht versuchen, uns etwas bei den Grünen abzuschauen. Die Grünen schwimmen zurzeit auf einer Themenwelle. Der Klimawandel und damit verbundene Fragen werden derzeit mit ihnen verbunden. Wir sollten nicht versuchen, das zu imitieren, sondern wir sollten unsere eigene Kernkompetenz stärken. Die SPD ist die Partei, die große Herausforderungen und großen Wandel sozial gerecht gestaltet. Diesen Ansatz sollten wir klarer herausstellen.
Was heißt das konkret?
Zum Beispiel muss aus unserer Sicht der Kampf gegen den Klimawandel sozial gestaltet werden. Es kann nicht sein, dass Gutverdiener nichts an ihrem Lebenswandel ändern müssen, während sich die Menschen aus anderen sozialen Milieus einschränken sollen. Wie unterschiedlich die Lasten verteilt sind, hat uns doch gerade auch die Corona-Pandemie gezeigt.
Eines der wichtigsten Themen war laut Umfragen der Verkehr. Was muss die SPD da besser machen?
Für viele Menschen ist der Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs ein starkes Anliegen. Wir brauchen auch hier gute Konzepte, etwa die Verkehrsberuhigung sollten wir vorantreiben, gleichzeitig aber immer auch auf die Anbindung und Versorgung der Fläche achten. Viele Menschen sind jedoch auch nach wie vor, auf ihr Auto angewiesen. Wir sollten den Autoverkehr nicht verdammen, wo er notwendig ist.
Bei den jungen Leuten unter 25 kam die SPD noch auf 16 Prozent. Die jungen Menschen und die Städte waren früher Hochburgen der Sozialdemokratie. Was ist da verloren gegangen?
Die Grünen waren in vielen Regionen Nordrhein-Westfalens erfolgreicher als die SPD. Können die Sozialdemokraten also etwas von der politischen Konkurrenz lernen? Der Ex-Kanzlerkandidat und frühere Bürgermeister Martin Schulz glaubt: eher nicht.
Richtig ist, dass es ein urbanes Lebensgefühl gibt, das die SPD nicht mehr ausreichend anspricht. Und der Hinweis stimmt, dass wir da im Moment nicht ausreichend andocken. Aber es geht in den Städten doch nicht nur um hippes Leben, es gibt auch andere Themen: zu hohe Kosten, mangelnder Wohnraum, geringe Einkommen. Oder jetzt seit der Pandemie: Homeschooling, Homeoffice, Digitalisierung; da stehen wir vor epochalen Veränderungen, und da haben die Grünen keine Angebote.
Sollte die SPD in Aachen, Bonn oder Münster, wo es in der Stichwahl um Schwarz oder Grün geht, Wahlempfehlungen für die Grünen-OB-Kandidaten aussprechen?
Das muss die Partei vor Ort entscheiden. Die Situation ist dort oft sehr heterogen. Die Grünen ihrerseits haben sich – siehe zum Beispiel Köln – ziemlich klar auf die CDU fixiert. Das ist auch eine Strategie, die ich auf Bundesebene wahrnehme. Nahe bei der CDU und die SPD als Hauptgegner? Die Grünen werden sich überlegen müssen, wo sie sich verorten.
Im Ruhrgebiet ist die SPD noch eine Macht. Aber auch dort mit teilweise massiven Erosionserscheinungen, wie etwa in Gelsenkirchen.
Auch da sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich. Bei der OB-Wahl in Dortmund liegt die SPD klar vorne, auch in Städten wie Bottrop, Herne oder Hamm haben wir sehr gute Ergebnisse erzielt. Wir haben im Ruhrgebiet nach wie vor eine sehr stabile Basis. Aber richtig ist auch, dass wir bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent große Mobilisierungsreserven haben. Dort, wo wir in zwei Wochen in die Stichwahl gehen, werden wir vor allem an der Mobilisierung ansetzen müssen: Wir müssen unsere Leute an die Urne bringen.
Dort, wo die sozialdemokratischen OB-Kandidaten gut abgeschnitten haben wie in Hamm, Solingen und Remscheid, blieben auch die Stadtratsverluste sehr überschaubar. Wo der OB-Kandidat schlecht abschnitt, verlor auch die Partei.
Natürlich ziehen populäre Spitzenleute immer auch ihre Partei mit. Das zeigt doch vor allem eines: Wo Kandidat, Partei und Programm übereinstimmen, hat die Partei Erfolg. Wenn sich die Partei nicht einig ist, schlägt sich das auch sofort in den Ergebnissen nieder.
Eine gängige Formel lautet: SPD-NRW minus sechs Prozent ergibt den Bundeswert. Mit 24 Prozent in NRW erreicht die SPD im Bund knappe 18 Prozent. Richtig?
Nein. Bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent sind Vergleiche zwischen einer Kommunal- und einer Bundestagswahl nicht statthaft.
Hat das Ergebnis Armin Laschet und seine Ambition gestärkt, CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat zu werden?
Alle sagen jetzt, Armin Laschet sei gestärkt. Mit Verlaub, das ist doch Quatsch. Bei dieser Wahl sind nur knapp mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten zur Wahl gegangen. Die CDU hat dabei das schlechteste Kommunalwahlergebnis nach dem Krieg eingefahren. Das ist auch Teil der Wahrheit. Man kann nach dieser Kommunalwahl weder Armin Laschet zum CDU-Vorsitzenden oder Kanzlerkandidaten ausrufen noch die SPD abschreiben.
Ihre Lehren also aus dieser Wahl?
Im Wesentlichen sind es drei Erkenntnisse: Wo die SPD einig ist, gewinnt sie. Zweitens: In unseren Hochburgen bleiben zu viele unserer Stammwähler zuhause. Und drittens: Die Wähler der Grünen sind sehr diszipliniert, und das stärkt die Partei als Ganzes. Auch wenn man dieses Ergebnis, ich wiederhole mich, im Lichte der geringen Beteiligung von 50 Prozent sehen muss.
Aber auch Wahlbeteiligung und Mobilisierung sind Teil von Demokratie. Auch die Nichtbeteiligung drückt etwas aus.
Vollkommen richtig. Und deswegen werden wir daran arbeiten.
- Interview mit Martin Schulz