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Angela Merkels Abschied in Berlin: Das war ihre große Stärke


Merkels Abschied
Die Königin der Selbstverleugnung

MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 07.12.2021Lesedauer: 4 Min.
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Angela Merkel: Wie man aus ihrer Umgebung hört, fällt ihr der Abschied als Kanzlerin weniger leicht, als sie gedacht hätte.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel: Wie man aus ihrer Umgebung hört, fällt ihr der Abschied als Kanzlerin weniger leicht, als sie gedacht hätte. (Quelle: Belga/imago-images-bilder)

"Sie kennen mich" war Angela Merkels berühmtes Motto. Aber vielleicht war ihr umwerfender Pragmatismus ja nur eine Anpassungsleistung, weil sie einsehen musste, dass sie den Deutschen keinesfalls zu viel zumuten durfte.

Ich muss gestehen, ich habe Angela Merkel oftmals bewundert. Für ihre Selbstbeherrschung. Für das Aushalten. Von Horst Seehofer. Von Markus Söder. Für das Ertragen. Von Trump, Xi Jinping, Putins Hund.

Wer im Kanzleramt sitzt, hat einen Höllenjob. Niemand fragt danach, wie viele Stunden man geschlafen hat, ob man erkältet ist, Ärger zu Hause hat oder abends zuvor zu viel getrunken hatte, ob man mürbe ist oder verzweifelt oder einfach mal keine Lust zum Arbeiten aufbringt. Willy Brandt nahm sich melancholische Auszeiten, zog sich in Krankheiten zurück und war ein paar Tage lang nicht zu sprechen. Goldene Zeiten waren das damals, als der Medienwahnsinn noch nicht allgegenwärtig war. Heute wären solche kleine Fluchten undenkbar.

Einmal weinte Angela Merkel im Kabinett, als ihr ein Projekt abgeschmettert worden war. Lange her, da war sie Umweltministerin. Vermutlich nahm sie sich damals vor: Nie wieder passiert mir das, nie wieder weine ich vor diesen Männern, die nur darauf warten, dass ich die Nerven verliere. Daraufhin legte sie sich einen inneren Raum zu, in dem sie unerreichbar blieb von den Zumutungen, Schmähungen und Gemeinheiten aus München und anderen Weltregionen. Jeder, der Kanzler werden will, zum Beispiel Olaf Scholz, kann von dieser Einrichtung einer unerreichbaren Schutzzone lernen.

Der Mensch als roboterähnliches Wesen

Wer im Kanzleramt sitzt, muss sein Gemüt einhegen, damit es kein Eigenleben führt und im Gesicht ablesbar wird: als schlechte Laune, als innere Abwesenheit, als Energielosigkeit. Macht sich ausgesprochen schlecht auf Fotos. Deshalb ist Ausdruckslosigkeit das Ziel. Nicht das Herz, das zerebrale Nervensystem wird in diesen Sphären gebraucht. Der Verstand muss ein jederzeit verfügbares Instrument sein.

Die Utopie ist die Verwandlung des Menschen in ein roboterähnliches Wesen, aufnahmefähig schon vor dem Aufwachen und konzentrationsstark bis tief in die Nacht bei endlosen Konferenzen mit Menschen, die man nicht leiden kann. Selbstverleugnung gehört zu den unerbittlichen Anforderungen des Metiers. Angela Merkel hat es in dieser Disziplin am weitesten unter den Kanzlern gebracht.

Die Tugend der Selbstverleugnung

Mit meiner partiellen Bewunderung habe ich mir unter meinen Freunden nicht unbedingt Freunde gemacht. Die einen stießen sich nämlich an ihrem Gleichmut und ärgerten sich über ihre Raubzüge am Ideengut der SPD. Die anderen monierten ihre Anwandlungen an Spontanität, die zum ultraschnellen Verzicht auf die Kernenergie führte. Manche unter meinen Freunden entwickelten sich über die Jahre zu Fundis und sahen in dieser Kanzlerin nichts als eine Totalversagerin, einen Irrtum der Geschichte.

Na ja, gemach Freunde. Interessant an dieser Kanzlerin ist eher die Tugend der Selbstverleugnung. Es hatte durchaus etwas Giftiges, als sie im Jahr 2003 auf dem Parteitag in Leipzig durchblicken ließ, dass auch der Westen Reformen vertrüge, nicht nur der Osten. Die CDU widmete sich damals unter ihrer Führung einem Programm, das den Namen wirklich verdiente; von so viel achtbarer Konsequenz können die Herren Merz/Röttgen/Braun heute nicht mal träumen.

Merkel blieb unter ihren Möglichkeiten

Angela Merkel wollte ursprünglich viel, wollte hoch hinaus, sie war aber wie Ikarus, der der Sonne zu nahe kam. So fing sie 2005 als Kanzlerin an, mit knapper Mehrheit gewählt und somit erheblich unter ihren Möglichkeiten geblieben.

Zu gerne wüsste ich, wer ihr damals die Eigenheiten des Westens nahebrachte. Bloß nicht zu viel wollen, bloß nicht den Bürgern zu viele Reformen abverlangen, sie keinesfalls mit Politik überfordern. Daran war Helmut Schmidt nach sieben Jahren gescheitert. Weil er die gewünschte Schonhaltung gewährte, hatte hingegen Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Und weil sie sich Zurückhaltung auferlegte, konnte Angela Merkel den Fluch Gerhard Schröders abschütteln, sie werde nie und nimmer Bundeskanzlerin werden. Ohne die umfassende Arroganz ihres Vorgängers wäre sie vielleicht nicht einmal seine Nachfolgerin geworden.

Merkel übte Verzicht auf Eigensinn

Das Spröde, Nüchterne, das durch und durch Pragmatische waren, so gesehen, nichts als Anpassungsleistungen. Sie durfte nicht wollen, was sie sich eigentlich vorgenommen hatte. Anstatt die Macht zu gefährden, übte sie folglich Verzicht auf Eigensinn.

Was Angela Merkel 2005 einsah, mussten die Grünen 2021 einsehen. Sie schnurrten wegen ihrer Zumutungen für die Bürger auf Normalmaß zurück, ganz zu schweigen davon, dass Annalena Baerbock ohnehin nicht in die Nähe des Kanzleramtes gekommen wäre. Und Olaf Scholz, der seine Pappenheimer kennt, darf jetzt werden, was nur er sich zugetraut hatte.

Eine erstaunliche Leistung

Politik ist ein Lernprozess, was denn sonst. Und wir Journalisten können ungestraft Maximalansprüche an Kanzler stellen, wenn es uns gefällt. An unseren Irrtümern werden wir ja nicht gemessen.

Angela Merkel ist ab übermorgen vom Kanzlerinnensein erlöst. Von sich aus geht sie, keinem ihrer Vorgänger ist das gelungen. Wie man aus ihrer Umgebung hört, fällt ihr der Abschied weniger leicht, als sie gedacht hätte. Ist eigentlich kein Wunder, nach 16 Jahren. Sollte sie ab Donnerstag jammern, werden wir es nicht erfahren, dafür sorgt schon die Diskretion, mit der sie ihr Ego bezähmte. Eine erstaunliche Leistung.

Mögen ihr gute Jahre beschieden sein.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen
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