Was heute wichtig ist Aufruhr in Amerika
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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WAS WAR?
Stellen Sie sich vor: Sie treten vors Haus, und ein Nachbar hat zufällig gerade die Polizei gerufen. Ab diesem Moment schweben Sie in Lebensgefahr. Ein falscher Tritt, eine unglückliche Handbewegung, ein abruptes Umdrehen genügt – schon strecken Polizeikugeln Sie nieder. Vielleicht wären Sie besser nicht aus dem Haus gegangen, aber nun ist es zu spät, und entgehen können Sie der Gefahr sowieso nicht. Jederzeit, überall, jeden kann sie treffen. Eine absurde Vorstellung für Sie? Natürlich, denn Sie erfüllen die Voraussetzungen nicht. Sie leben nicht als Afroamerikaner in den USA.
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Man würde sich wünschen, dass diese Beschreibung wenigstens ein bisschen übertrieben wäre, aber das ist nicht der Fall. Wenn Sie im Land der unbegrenzten Risiken leben und die "falsche" Hautfarbe haben, ist die Angst Ihr permanenter Begleiter. Seit Generationen geht das schon so. Und seit Monaten versammeln sich Menschen aller Hautfarben deshalb zu Protesten. Heute Abend wollen Tausende bei einem "Marsch auf Washington" gegen Diskriminierung protestieren und an George Floyd erinnern, der von einem Polizisten erstickt wurde. Die Orte wechseln, je nachdem, wo gerade wieder jemand den Ordnungshütern zum Opfer gefallen ist. Gegenwärtig kracht es in Kenosha, Wisconsin, wo sieben Kugeln Jacob Blake niederstreckten, der unter den Augen der Polizei zu seiner Familie ins Auto steigen wollte.
Aber es gibt auch das andere Amerika. Dazu gehört der siebzehnjährige Kyle Rittenhouse. Polizeifan ist er, hat sogar bei einem Kadettenprogramm mitgemacht. Er ist Mitglied einer Bewegung, die den Gesetzeshütern beispringt, weil die zu Unrecht beschuldigt würden und im waffenstarrenden Amerika täglich im Dienst ihr Leben riskieren. Waffen gefallen Kyle sehr, besonders sein Sturmgewehr. Er nahm es mit, um als selbsternannter Bürgerwehr-Cop auf den Straßen von Kenosha Patrouille zu laufen, damit die Protestierenden keinen Unfug anstellen. Kyle ist weiß, Trump findet er toll. In die Kamera eines Reporters sagte er, dass er sich zur Rettung anderer Leute in Gefahr begebe und deshalb seine Waffe brauche. Danach erschoss er zwei Menschen und verletzte einen dritten schwer.
Der Teenager zählt zum Dunstkreis einer gewaltbereiten Szene: rechtsradikale Milizen, die schwerbewaffnet aufmarschieren, wenn Demonstranten ein Ende der Polizeigewalt gegen Schwarze fordern. Die behaupten, Bewohner gegen Plünderer zu schützen, wenn die Demo in Gewalt umschlägt. Im rechten, weißen Trump-Amerika verfangen diese Parolen. Denn zu Plünderungen kommt es tatsächlich immer wieder. Die Milizen und rechten Splittergruppen kommen aber auch sonst bei jeder Gelegenheit. Sie verkörpern das andere Amerika, das sein Recht selbst in die Hand nehmen will. Das sich "verteidigt", indem es die Läufe seiner Waffen auf die Köpfe von vorüberziehenden Demonstranten richtet. So ist das in den USA des Jahres 2020.
Und daran wird sich so schnell nichts ändern. Vergangene Nacht hat Donald Trump mit einer typischen Trump-Rede den Wahlkampf angefacht. Aber selbst wenn er am 3. November nicht wiedergewählt werden sollte, wird sein Vermächtnis noch lange auf Amerika lasten. Die Grenzen des Erlaubten haben sich längst verschoben, nicht nur in der Politik. "Wie schockiert sind wir, dass sich Siebzehnjährige mit Gewehren entschieden haben, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn es sonst keiner macht?", höhnte ein bekannter Rechtsaußen- ja was: Politiker? -Zyniker? -Propagandist? auf "Fox News". Die Mehrheit der Amerikaner stöhnt bei diesen Worten auf. Die Anhänger von Waffen, Milizen und Selbstjustiz applaudieren – und sind selbstbewusst geworden. Präsidenten wechseln. Aber Trumps militantes Amerika ist gekommen, um zu bleiben. Der Brand geht nicht mehr aus.
WAS STEHT AN?
Urteile sind eine Frage der Perspektive. Blickt man durch die Fensterfront des großen Kanzlerinnenbüros auf Deutschland, stößt man vermutlich einen Stoßseufzer der Erleichterung aus, dass man den mächtigen Ministerpräsidenten wenigstens ein paar Zugeständnisse abgerungen hat. Schaut man aus einer Staatskanzlei in München, Düsseldorf oder Magdeburg aufs Land, freut man sich, dass man weiter ungestört seinen eigenen Stiefel machen kann – egal, was die da in Berlin sagt. Sieht man wiederum als Bürger in den Nachrichten, was die Kanzlerin und die Länderchefs sich an neuen Corona-Geboten ausgedacht haben, mag man mit den Schultern zucken oder den Kopf schütteln: Wieso ist es angesichts der größten gesellschaftlichen Herausforderung seit Jahrzehnten so schwer, einheitliche Regeln für alle Zweibeiner zwischen Ost- und Bodensee zu erlassen? Immerhin auf einige Kompromisschen haben sich Frau Merkel und die Länderfürsten gestern geeinigt – doch viele Fragen bleiben offen, und noch mehr bleibt Stückwerk:
Die Maskenregel bleibt verwirrend. Wer in Geschäften, Bussen und Bahnen "oben ohne" unterwegs ist, soll mindestens 50 Euro Strafe zahlen – in vielen Bundesländern sind es aber deutlich mehr, in Bayern 250 Euro. In Sachsen-Anhalt kostet es gar nix, weil Herr Haseloff der Kanzlerin trotzt. Im Nahverkehr sollen Kontrolleure die Verweigerer zur Kasse bitten, aber konsequent wird sich die Maskenpflicht so nicht durchsetzen lassen: Es fehlt überall an Personal.
Die Testpflicht bei der Einreise nach Deutschland wird aufgeweicht. Wer aus Ländern ohne Reisewarnung kommt, muss ab 15. September gar nichts mehr tun. Die Ansage zu Risikogebieten wird dagegen verschärft: Die Regierung fordert alle Bürger auf, Reisen dorthin zu unterlassen. Spanien, große Teile Frankreichs und andere Länder sind spätestens jetzt tabu. Wer trotzdem hinfährt und zurückkehrt, muss zwei Wochen lang zu Hause bleiben – aber kontrolliert wird die Quarantänepflicht auch künftig nicht.
Immerhin bei Großveranstaltungen herrscht Klarheit: Sie sind allesamt bis Ende des Jahres verboten. Ob wieder Zuschauer in Fußballstadien gelassen werden, soll eine Arbeitsgruppe "prüfen", Erfolgsaussichten: gering.
Bei privaten Feiern herrscht dagegen weiterhin Konfusion: Man konnte sich nicht auf eine maximale Personenzahl einigen, stattdessen macht jedes Bundesland weiter, was es will. Die Bürger "werden gebeten, in jedem Einzelfall kritisch abzuwägen, ob, wie und in welchem Umfang private Feierlichkeiten nötig und vertretbar sind." Wenn überhaupt, sollen sie draußen feiern (hier sehen Sie, welche Regeln in Ihrem Bundesland gelten).
Was soll man von all dem halten? Mit diesem Planfragment in den Herbst zu gehen, ist riskant. Trotzdem wäre es vermessen, das Ergebnis in Bausch und Bogen zu verdammen. In Corona-Zeiten sind sowohl die Politik als auch die Bürgerschaft lernende Systeme. Nicht ausgeschlossen, dass die Kanzlerin die Ministerpräsidenten in einigen Wochen wieder zusammentrommelt, um die Regeln zu modifizieren. Weiten wir deshalb lieber den Blick und stellen uns die Frage, was die aktuelle Corona-Phase in unserer Gesellschaft anrichtet. Kaum jemand kann sie so gut beantworten wie der Soziologe Heinz Bude. Zu Beginn der Corona-Krise vor rund sechs Monaten befragte ich ihn schon einmal. Gestern habe ich ihn wieder angerufen:
Herr Bude, wegen der Corona-Krise greift der Staat massiv in das Leben der Menschen ein: mit Regeln, die früher undenkbar erschienen. Verändert sich dadurch das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat?
Ja, denn wir befinden uns gerade an einer Wegmarke: In der ersten Phase der Corona-Bewältigung erkannten viele Menschen, dass der Staat in ihrem Leben eine größere Rolle spielt als gedacht. An der Zahl der Toten konnten sie die Funktionsfähigkeit des Staates ablesen. Aber jetzt beginnen viele Bürger den Staat als eine Instanz wahrzunehmen, die sie nicht nur schützt, sondern vor der sie sich auch fürchten.
Wer empfindet das so?
Vor allem die rund zehn Prozent in der Gesellschaft, die wir als Leistungsindividualisten bezeichnen – also Menschen, die sich kompetent fühlen, die ihr Leben jahrelang im Voraus planen, große Ziele haben und viel leisten. Zum Beispiel Unternehmer, Ingenieure, Selbständige, viele Gutverdiener. Die werden durch die Corona-Beschränkungen ausgebremst und haben das Gefühl, dass der Staat ihr Leben auf einmal massiv einschränkt. Das frustriert sie enorm – auch deshalb, weil sie auf die Politiker, die die Regeln machen, kaum Einfluss nehmen können. Sie empfinden ein aggressives Ohnmachtsgefühl. Das ist explosiv.
Warum?
Weil diese Leute nun beginnen, sich mit einem weiteren Milieu in der Gesellschaft zu solidarisieren: den Selbstverwirklichungsindividualisten wie beispielsweise Impfgegnern, die sagen: Resilienz ist ein viel besseres Mittel gegen Corona als irgendwelche staatlichen Anweisungen. Diese beiden Milieus eint die Skepsis gegenüber den Maßnahmen des Staates. Bei ihnen beobachten wir ein erschüttertes Vertrauen und eine beginnende Abkehr vom Staat. Politisch sind sie heimatlos, sie werden von keiner Partei vertreten, zudem hegen sie ein tiefes Misstrauen gegen viele Medien. Das ist brisant, denn zusammen machen diese beiden Gruppen rund 20 Prozent der Bevölkerung aus.
Wie kann man diese Menschen besser einbinden?
Zu Beginn der Krise haben die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten nachvollziehbar vermittelt, dass wir in einer Zeit der kollektiven Bewährung stecken. Weil der Kampf gegen die Pandemie aber so wahnsinnig lange dauert, beginnt dieses Argument nun zu verblassen. Viele verlieren die Geduld. Deshalb braucht es jetzt ein Konzept, das mehr individuelle Verantwortung zulässt.
Ein Beispiel bitte.
Wenn jemand die Oma besuchen will, weil sie womöglich nicht mehr lange lebt, aber noch ein paar Mal ihre Enkel sehen will, dann muss das möglich sein, wenn die Familie die Verantwortung dafür übernimmt.
Auch in Seniorenheimen und Kliniken, wo andere Menschen durch den Besuch gefährdet sein könnten?
Ja, auch dort – natürlich mit Vorsichtsmaßnahmen und Hygieneregeln. Aber manchmal muss man sich als Bürger gegen staatliche Regeln stellen können. Nicht aus Phlegma oder Ignoranz, sondern indem man individuelle Verantwortung übernimmt. Wir können nicht alle Alltagsprobleme und Situationen auf Dauer staatlich regeln.
Manche Menschen ignorieren die Regeln wie Abstand und Maske ja aber komplett und verhalten sich rücksichtslos.
Richtig, und dagegen wird der Staat nun robuster vorgehen müssen, etwa gegen die demonstrative Sorglosigkeit der Partyszene in Großstädten wie Berlin.
Die Stadt Berlin hat auch die geplante Demonstration von Gegnern der Corona-Maßnahmen am Wochenende verboten. Eine richtige Entscheidung?
Nachdem die letzte Demonstration eindeutig unter einem Nazi-Motto – "Tag der Freiheit" – stattfand, ist es richtig, dass man den Freiheitsfanatikern zeigt, was eine Harke ist, und die Veranstaltung verboten hat. Allerdings sollte man zugleich Gesprächsbereitschaft signalisieren. Wir dürfen nicht alle Gegner der Corona-Politik als Idioten ausgrenzen. Stattdessen sollten wir ihnen signalisieren, dass ihr Ärger ernstgenommen wird und sie natürlich weiterhin zur Gesellschaft dazugehören. Auch das ist Teil unserer Verantwortung.
In unserem letzten Gespräch zu Beginn der Corona-Krise Mitte März haben Sie gesagt: "Wir erleben eine schleichende Desozialisierung, die Menschen ziehen sich mehr und mehr in ihre engsten sozialen Beziehungen zurück. Das stellt unsere sozialen Strukturen ernsthaft auf die Probe." Beobachten Sie diesen Prozess nun, fast ein halbes Jahr später, immer noch?
Ja, aber zugleich sehe ich, dass sich daraus eine neue Form der Fürsorge entwickelt. Das erlebe ich auch selbst, wenn ich mit Freunden unterwegs bin: Man achtet nun selbstverständlich darauf, wo und wie man sich bewegt, damit man sich und andere nicht gefährdet. Man trägt selbst nach einem langen Arbeitstag bei Hitze in der S-Bahn eine Maske, obwohl das unangenehm ist. Dieses Verantwortungsbewusstsein für die Mitmenschen beeindruckt mich sehr.
Kanzlerin Merkel gewährt heute der Hauptstadtpresse ihre traditionelle Sommeraudienz und lässt sich zu allen Themen von Corona- über Innen- bis Außenpolitik befragen.
Die Berliner Polizei erklärt, wie sie das Verbot der Corona-Demonstrationen am Wochenende durchsetzen will. Die Aktivisten haben dagegen geklagt, nun müssen die Gerichte entscheiden.
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof entscheidet über die Rechtmäßigkeit von Markus Söders Grenzpolizei. Die Truppe soll vor allem illegal einreisende Flüchtlinge abwehren.
Auch im Prozess um die tödliche Gleisattacke am Frankfurter Hauptbahnhof wird voraussichtlich das Urteil gesprochen. Der eritreische Angeklagte, der eine Mutter und ihr Kind vor einen Zug gestoßen hatte, wird wohl dauerhaft in der Psychiatrie weggesperrt.
WAS LESEN?
Wie fühlt es sich an, wenn sich Zigtausende Menschen gegen einen Diktator erheben – andere aber nicht? In Belarus wird der Konflikt zwischen den Generationen immer offensichtlicher: Während die Jungen endlich ins 21. Jahrhundert aufbrechen wollen, erinnern sich manche Ältere an die vermeintlich gute alte Sowjetzeit, berichtet unser Reporter Robert Putzbach aus Minsk.
Was ist nun von Donald Trumps Wahlkampfauftakt zu halten? Natürlich lässt sich wunderbar über die schrillen Auftritte beim Parteitag der Republikaner spotten – doch genau damit erfüllt der Präsident seinen Zweck, analysiert unser US-Korrespondent Fabian Reinbold.
WAS AMÜSIERT MICH?
Total sinnvoll, diese Corona-Regeln!
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Und weil der unvergleichliche Helge Schneider am Sonntag seinen 65. Geburtstag feiert, lauschen wir noch rasch in seine frühen Hörspiele aus den Achtzigerjahren hinein. Unübertroffen!
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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