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Ergebnisse der Bundestagswahl: Ein tückischer Triumph von Olaf Scholz


Tagesanbruch
Ein tückischer Triumph

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.09.2021Lesedauer: 8 Min.
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Olaf Scholz hat mit der SPD die Wahl gewonnen. Eine Garantie auf das Kanzleramt ist das aber nicht.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz hat mit der SPD die Wahl gewonnen. Eine Garantie auf das Kanzleramt ist das aber nicht. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

das Volk hat gesprochen – und es hat den politischen Parteien eine vertrackte Aufgabe gestellt: Nach Angela Merkels fast 16-jähriger Dauerkanzlerschaft verlangen die Bürger einen Aufbruch. Das ist das wichtigste Signal dieser Bundestagswahl. Die Deutschen wollen neue Prioritäten im Regierungshandeln, und sie stören sich dabei nicht an Experimenten: Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik könnte die Regierung künftig von drei Bundestagsfraktionen getragen werden – und wäre damit auf großes Vertrauen, ständige Absprachen und komplizierte Kompromissfindung angewiesen.

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Nach einem merkwürdigen Wahlkampf, der sich zu lange Zeit um Nebensächlichkeiten drehte, in dem Schnappschüsse enorme Wucht entfalteten und sich die Zukunftsdebatten häufig in Schlagworten wie "Kohleausstieg" und "Digitalisierung" erschöpften, aber wenig über langfristig erfolgreiche Konzepte diskutiert wurde, liegt der Ball nun paradoxerweise nicht bei den Parteien mit den meisten Stimmen – sondern bei den Dritt- und Viertplatzierten Grünen und FDP. Sie schlüpfen in die Rolle der Königsmacher. Weil die Union und die SPD erkennbar wenig Lust an einer Neuauflage der großen Koalition zeigen, können die beiden kleineren Parteien entscheiden, wem sie das Kanzleramt offerieren: Olaf Scholz oder Armin Laschet. Doch allein schafft es keine der beiden Parteien, sie müssen sich verbünden. Das ist eine neue Machtarithmetik in der Geschichte der Republik – und der Auftakt zu Wochen des Feilschens und Verhandelns. Kanzler wird, wer dabei die stärksten Nerven zeigt. Darüber wird in den kommenden Tagen viel zu reden und zu schreiben sein. Vorher aber werfen wir einen Blick auf die Sieger und Verlierer dieser Bundestagswahl:

Was hat sie nicht alles durchgemacht: Krachende Wahlniederlagen, Mitgliederschwund, Grabenkämpfe, Spott von Journalisten, Mitleid politischer Gegner – die SPD war in den vergangenen Jahren nicht zu beneiden. Und jetzt das: Im Bund gewinnen die Sozialdemokraten deutlich hinzu und überflügeln die Union, bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern triumphieren sie haushoch, und auch in Berlin dürfte es zum Sieg reichen. Es ist ein spektakuläres Comeback, das die Genossen sowohl ihrer Geschlossenheit als auch ihren geschickten Kampagnen, vor allem aber den Fehlern ihrer Konkurrenten verdanken. Zugleich liefern sie den Beweis, dass es sich lohnt, in tiefen Krisen nicht aufzugeben, sondern hartnäckig weiterzuackern. Das ist eine ermutigende Botschaft an alle, die sich in der Politik engagieren, egal, für welche Partei. Entsprechend groß war der Jubel gestern Abend im Willy-Brandt-Haus.

Knapp 26 Prozent erringt die SPD bei der Bundestagswahl, damit liegt sie knapp vor CDU und CSU und kann das Kanzleramt beanspruchen. Vor 16 Jahren hätten die Roten über so ein Ergebnis geweint, heute versetzt es sie in Partylaune. Die traditionellen gesellschaftlichen Milieus sind erodiert, die Bindungskraft der ehemaligen Volksparteien ist passé. Stammwähler gibt es kaum noch, zwei Drittel der Wahlberechtigten neigen mal der einen, mal der anderen Partei zu. Entsprechend zersplittert ist die politische Landschaft, im neuen Bundestag werden sich acht Parteien tummeln – aber selbst in dieser komplexen Lage schneidet die SPD am wenigsten schlecht ab. Ein gutes Viertel der Stimmen genügt, um die Richtungswahl am Ende der Ära Merkel und nach der Corona-Jahrhundertkrise zu gewinnen. "In Deutschland hat sich etwas gewaltig verschoben", schreiben unsere Reporter Annika Leister, Johannes Bebermeier und Tim Kummert, "das Land ist nach links gerutscht".

Damit hat Olaf Scholz gute Chancen, sich zum neunten Bundeskanzler aufzuschwingen. Er hat die notorisch streitlustigen Genossen hinter sich vereint, er hat einen pannenfreien Wahlkampf absolviert und dabei trotz seiner nüchternen Art manchmal sogar einen Anflug von Emotion gezeigt. Vor allem aber hat er den Bürgern erfolgreich suggeriert, dass sie mit ihm keine Überraschungen zu erwarten haben. Er verspricht einen verlässlichen Kurs und sitzt sogar Skandale in Seelenruhe aus, siehe Cum-Ex, siehe Wirecard. Dickfelligkeit hilft, um an die Spitze zu gelangen, auch das ist eine Lehre aus diesem Wahlkampf.

Vollständig wird der rote Erfolg aber erst durch die Wahlsiege in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin: Rund 40 Prozent holt Manuela Schwesig an der Küste, an der 47-Jährigen führt nun in der Bundespolitik kein Weg mehr vorbei. Gut vorstellbar, dass ihr in absehbarer Zeit auch der SPD-Vorsitz zufällt, falls sich Saskia Esken lieber auf ein Ministerinnenamt konzentrieren möchte. Franziska Giffey wiederum scheint das Kunststück gelungen zu sein, trotz der Skandale um ihre akademischen Plagiate im Hauptstadtwahlkampf die stolzen Grünen zu überflügeln. Sie profitiert von ihrem natürlichen Umgang mit Bürgern und verspricht eine soziale Politik ohne Extreme, also mehr Wohnungsbau, aber keine Enteignung von Wohnkonzernen. Erst einmal wird die nächste Regierende Bürgermeisterin aber das Verwaltungschaos in der Hauptstadt aufräumen müssen: Gestern scheiterten die Behörden schon daran, die Wahl zu organisieren, womöglich muss sie deshalb wiederholt werden.

In der bald 160-jährigen Geschichte der SPD markiert der 26. September 2021 eine Zäsur: Die von vielen Unkenrufern totgesagte Sozialdemokratie ist wieder da und erhebt den Anspruch, Deutschland anzuführen. Selbstbesoffenheit wäre allerdings fehl am Platz. Es warten harte Sondierungsgespräche, noch härtere Koalitionsverhandlungen und dann große Aufgaben vom Klimaschutz über die Digitalisierung von Verwaltung, Schulen und Verkehr bis zu einer selbstbewussteren europäischen Außenpolitik.

Und die Grünen? Erzielen das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte – bleiben aber trotzdem weit hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück. Die Rolle als Kanzlerkandidatin war erkennbar zu groß für Annalena Baerbock, sie räumte gestern Abend selbstkritisch Fehler ein und klammerte sich in der TV-Elefantenrunde bei fast jeder Antwort an ihren Co-Chef Robert Habeck. Ohne den geht bei den Grünen nichts mehr – und auch er gießt Wasser in den Wein: "Die Freude bleibt im Hals stecken", kommentierte er das Ergebnis seiner Partei, der Wahlkampf sei "ein Gewürge" gewesen.

Womit wir bei den Verlierern der Bundestagswahl sind: Armin Laschet kassiert das schlechteste Bundestagswahlergebnis für die Union seit Bestehen der Republik. Fast neun Prozentpunkte unter dem schon miesen Resultat von 2017, in den meisten Großstädten abgeschlagen, im Osten nur noch dritte Kraft: Es ist eine brutale Klatsche, und sie rührt an die Existenz der CDU. Entsprechend groß war die Enttäuschung gestern Abend im Konrad-Adenauer-Haus. "Für die Union kommt das bescheidenste Resultat ihrer Geschichte einem Desaster gleich", schreibt unser Politikchef Sven Böll in seinem Leitartikel und urteilt: "Dieser Sonntag markiert eine Zeitenwende, das Ende der alten Bundesrepublik."

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Es kommt nicht von ungefähr. Armin Laschet hat sich von dem alten Fuchs Wolfgang Schäuble die Kanzlerkandidatur zuschanzen lassen, aber er konnte in den Wahlkampfmonaten nie vergessen machen, dass er hinter dem eloquenten Instinktpolitiker Markus Söder nur die zweite Wahl war. Sein Gekicher im Hochwassergebiet kostete ihn viel Sympathie, hinzu kamen die haarsträubenden Fehler seiner Presseleute, doch sein größtes Problem war ein anderes: Der fröhliche Rheinländer hatte erkennbar keinen Plan, wohin er Deutschland eigentlich führen will. Erst in den letzten zwei, drei Wochen des Wahlkampfs drehte er auf, zeigte Leidenschaft und Angriffslust. Viel zu spät. Die programmatische Leere der CDU, die Mängel der Wahlkampagne und die nach den langen Machtjahren ausgedünnte Personaldecke konnte er damit nicht verhüllen. Die Wähler haben diese Schwachstellen gesehen, und sie haben sie bestraft. Deshalb ist dieses Debakel nicht nur eine Niederlage für den Kanzlerkandidaten, sondern für alle Unions-Granden, allen voran Herrn Schäuble: Er ist nicht nur als Strippenzieher, sondern auch als politisches Vorbild gescheitert. Seine Zeit ist vorbei, Hinterzimmerkuppler wie er sind nicht mehr zeitgemäß.

Geschlagen geben sich CDU und CSU aber noch nicht. Der Abstand zur SPD ist nur knapp, als Zweitplatzierte könnten sie womöglich doch noch eine Regierung bilden. Nun kommt es darauf an, wie sich die Grünen und die FDP positionieren – in ihrer Hand liegt die Entscheidung, ob Olaf Scholz oder Armin Laschet Kanzler wird. Dabei wäre es für CDU und CSU wohl am fruchtbarsten, würden sie sich nach der Merkel-Ära in der Opposition erholen, um sich programmatisch und personell zu erneuern. Armin Laschet müsste dann allerdings damit rechnen, in der politischen Versenkung zu verschwinden. Dagegen wird er sich wehren, indem er den Grünen und den Liberalen große Zugeständnisse macht. Und Markus Söder wird ihm nicht in den Rücken fallen, solange noch eine Chance besteht, das Kanzleramt zu verteidigen. Erst wenn auch dieser Kampf verloren gehen sollte, werden in der Union die Messer gezückt. Dann allerdings könnte es ein Hauen und Stechen geben.


Der Koalitionspoker beginnt

Wie geht es nach der Wahl nun weiter? Heute Vormittag tagen die Bundesvorstände der Parteien. Dabei werden sie erstens versuchen, die Deutungshoheit über das Wahlergebnis zu erringen, und zweitens die Fühler nach möglichen Bündnispartnern ausstrecken. Drittens bringen sich all jene Politiker in Stellung, die auf ein bestimmtes Amt schielen – nicht nur in der Bundesregierung, sondern auch in den Parlamentsfraktionen und im Schloss Bellevue, denn im Februar wird der nächste Bundespräsident gewählt.

Viele Gespräche also – vor den Mikrofonen und Kameras, vor allem aber hinter verschlossenen Türen. Welche möglichen Koalitionen sich dabei abzeichnen, unterliegt nun allein dem Verhandlungsgeschick der Parteistrategen. Anders als in vielen anderen Ländern gibt es hierzulande keine gesetzlichen Vorschriften für Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen. Jeder kann mit jedem sprechen, und Regierungschef wird, wer am Ende bei der Kanzlerwahl im Bundestag eine Mehrheit erhält. Deshalb tun die Parteien gut daran, gleichzeitig alle Optionen auszuloten – eine Ampelkoalition (SPD, Grüne, FDP), ein Jamaika-Bündnis (Union, Grüne, FDP) und eine Große Koalition (SPD und Union). All diese Bündnisse sind nun möglich, so wollen es die Wähler; nur das viel beschworene Linksbündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei hat wohl keine Mehrheit.

Und worin liegt am Ende der Erfolg? Wenn sie klug sind, suchen die möglichen Partner nicht bei jedem Thema den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern wenden das Modell Schleswig-Holstein an: Dort regiert CDU-Ministerpräsident Daniel Günther geräuschlos mit den Grünen und der FDP, weil jede Partei ihre Herzensprojekte verfolgt und die Partner die Pläne der anderen jeweils mittragen. So kommen echte Fortschritte zustande, und jede Regierungspartei kann sich profilieren.


Was lesen?

Die CDU steht vor dem größten Umbruch in ihrer Geschichte. Was dabei geschehen kann, erklären Ihnen meine Kollegen Titus Blome und Tim Kummert.


Wie will sich Olaf Scholz nun das Kanzleramt sichern? Unser Reporter Johannes Bebermeier hat in die SPD hineingehört.


Olaf Scholz gegen Annalena Baerbock, Kevin Kühnert gegen Renate Künast, Hans-Georg Maaßen gegen den Sportler Frank Ullrich: Wer hat in den spannendsten Wahlkreisen gewonnen? Hier erfahren Sie es.


Wenn Christian Drosten ein Interview zur Corona-Lage wärmstens empfiehlt, darf man es als lesenswert bezeichnen. So hat er es mit dem Gespräch getan, das meine Kollegin Sandra Simonsen mit der Virologin Jana Schroeder geführt hat: Hier erklärt sie, wann wir endlich zur Normalität zurückkehren können – und was es dafür braucht.


Was amüsiert mich?

Erstaunlich, wer bei der Bundestagswahl so alles um Stimmen buhlte. Werfen Sie mal einen Blick auf dieses Plakat, dann schließen Sie die Augen und wiederholen in fünf Sekunden, wie die Dame heißt und was sie will. Na?

Kein Problem, ich habe es auch nicht geschafft. Ist aber auch nicht so wichtig wie das, was die Wahlsieger und ihre möglichen Verbündeten nun vorhaben. Darüber halten wir Sie heute den ganzen Tag über auf t-online auf dem Laufenden. Ich empfehle Ihnen besonders unsere Livesendung ab 7 Uhr, in der Politiker aller Parteien gemeinsam mit unseren Reportern die Ergebnisse analysieren und Ausblicke auf die nächsten Schritte geben.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen erhellenden Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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