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China an der Schwelle: Allmachtsfantasien — wie lange geht das noch?


Tagesanbruch
China an der Schwelle

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 20.01.2022Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Chinas Staatschef Xi Jinping inspiziert ein Aufforstungsprogramm im Norden des Landes.Vergrößern des Bildes
Chinas Staatschef Xi Jinping inspiziert ein Aufforstungsprogramm im Norden des Landes. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

überall Probleme, egal wohin man schaut: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. Die Gesellschaft altert rasant. Kinder und Jugendliche daddeln am Handy, bis die Hälse steif, die Augen schlecht, die Hirne leer und die Bäuche dick sind. Die Macht der Hi-Tech-Konzerne durchdringt alle Lebensbereiche, der Einkauf findet online statt, die Bezahlung digital, undurchsichtige Algorithmen bestimmen die Spielregeln auf Social Media. Das Wirtschaftswachstum steht auf wackeligen Füßen, die Immobilienblase droht zu platzen. Omikron zerrt an den Nerven, Hunderttausende sitzen in Quarantäne. Von welchem Land die Rede ist? Von China.

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Das Reich der Mitte schickt sich an, zur beherrschenden Macht des 21. Jahrhunderts aufzusteigen. So erwarten es politische Beobachter auf allen Kontinenten, mal mit Sorge, mal in freudiger Erwartung, in Peking vor allem mit Selbstverständlichkeit. Eine Nation von 1,4 Milliarden Menschen, die zugleich Industriehochburg und Hi-Tech-Schmiede ist: Was sollte sie aufhalten? Selbst die Probleme, mit denen die Führung in Peking sich herumschlagen muss, sind ein Beleg dafür, wie gewaltig die historische Umwälzung ist. Zu Beginn der Wirtschaftsreformen in den Achtzigerjahren herrschte ein Surren und Klingeln auf den Straßen, die von Fahrrädern beherrscht und nahezu frei von Autos waren. Qualmende Lkw schleppten sich röhrend über leere Landstraßen. So radikal hat das arme Entwicklungsland sich seitdem verwandelt, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist: Heute sind die Städte Metropolen, mal glitzernd, mal grau, aber immer proppenvoll mit Menschen, Autos, Business.

Die steile Linie dieses Aufstiegs ist beeindruckend, und es liegt nahe, sie schnurgerade in die Zukunft zu verlängern. Sobald man aber Bücher aufschlägt, in denen Ökonomen ihr Wissen ausbreiten, stößt man schnell auf andere Linien: vor allem gekrümmte. Das rasante Wachstum zu Beginn der Modernisierung flacht im Laufe der Zeit ab, lernen wir in den Wälzern, weil die einfachsten Möglichkeiten für die Steigerung von Produktion, Wirtschaftlichkeit und Wohlstand nach und nach ausgeschöpft sind. Wer den Pflug gegen den Trecker tauscht, macht einen Riesensprung. Wer den alten Trecker durch einen moderneren ersetzt, macht hingegen nur noch einen kleinen Schritt. Sobald das neue Vehikel sich nur noch dadurch auszeichnet, dass es die Dicke des Matschs auf den Reifen per Bluetooth ans Handy überträgt, beginnt der Produktivitätszuwachs zu schwächeln.

Auch China kann sich dem Bluetooth-Reifen, Pardon, dem abflachenden Wachstum auf lange Sicht nicht entziehen. Gegenwärtig ist von Schwächeln zwar nichts zu hören, stolze 8,1 Prozent ist die Wirtschaft im vergangenen Jahr gewachsen – allerdings im Vergleich zum Corona-Krisenjahr 2020. Eine Weile wird die chinesische Wachstumsstory noch weitergehen, aber Fehler kann sich die Kommunistische Partei nicht mehr erlauben. Im Herbst steht der große Parteikongress an, auf dem sich Chinas Alleinherrscher Xi Jinping eine dritte Amtszeit an der Spitze von Staat und Partei gönnen will. Das hat es seit Maos Tod nicht mehr gegeben. Ein historischer Moment, eingebettet in Ruhm und Erfolg. Krisensymptome passen da überhaupt nicht ins Konzept.

Entsprechend betriebsam geht es zu. Zinsen werden gesenkt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Großangelegte Investitionsvorhaben werden vorgezogen. Vorsichtig schraubt man am heiklen Immobiliensektor herum, der ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung ausmacht. Wenn nötig, werden auch mal ein Dutzend Hochhäuser in die Luft gejagt, die zu viel gebaut worden sind (hier das Video). "Gemeinsamer Wohlstand" heißt Xi Jinpings Antwort auf die großen Fragen der Zeit. Der Grundgedanke: Einige Leute sind auf dem Weg des Fortschritts vorangegangen und reich geworden. Das war okay und gut für alle. Doch nun ist es Zeit, für Ausgleich zu sorgen – und zwar mit Karacho!

Rigoros stutzt der Staat nun Hi-Tech-Giganten und deren mächtige Geschäftsführer zurecht. Zu groß, zu einflussreich, Ende Gelände. Es hagelt Auflagen und Regularien, Milliardenstrafen folgen auf dem Fuße. Florierende Großunternehmen und superreiche Chefs werden genötigt, den sozialen Ausgleich mit wohltätigen Spenden zu fördern. Auch um das seelische Wohl der Jugend kümmert sich der Präsident persönlich: Nur noch an drei Tagen pro Woche für höchstens eine Stunde dürfen Jugendliche ihre Onlinespiele daddeln, Termine schreiben die Behörden minutengenau vor. Selbst vor den Schlafzimmern macht die Partei nicht Halt: Die Ein-Kind-Politik hat sie schon vor fünf Jahren kassiert, seit einem Dreivierteljahr dürfen Familien sogar wieder drei Kinder in die Welt setzen. Trotzdem registrieren die Behörden so wenig Geburten wie noch nie seit 1978. Die Leute haben zu viel Stress und zu lange Arbeitszeiten. Kinderbetreuung, Ausbildung und das Leben in den neuen Metropolen sind teuer. Alles also wie in anderen Industriestaaten. China ist oben angekommen – nur lässt sich die Gesellschaft jetzt nicht mehr so einfach lenken, wie der oberste Lenker sich das wünscht.

Die Allmachtsfantasien des Präsidenten werden für China zum Ballast. Staat und Partei geraten an ihre Grenzen, wenn sie überall die Richtung vorgeben und bei jeder Entscheidung mitmischen wollen. China muss sich mit den Risiken und Nebenwirkungen einer schnell wachsenden, immer moderneren Wirtschaft herumschlagen, deren Komplexität zunimmt, deren Innovationsbestrebungen man nicht abwürgen darf, die aber zugleich paternalistisch kontrolliert sein soll. Geht das? Vielleicht ist das die falsche Frage. Die richtige könnte lauten: Wie lange geht das noch?

Der Wettstreit mit China ist für den Westen die größte geopolitische Herausforderung des Jahrhunderts. So sagt es US-Präsident Joe Biden, und viele geben ihm recht. Es geht um mehr als nur Macht. In Peking herrscht ein moderner Kaiser, und der Kaiser ist nicht zimperlich. Oppositionelle landen im Kerker. Uiguren landen im Gulag. Wer zu lange am Handy herumdaddelt, bekommt Ermahnungen, denn der Kaiser hat seine Augen überall. Gegen so jemanden möchte man im Ringen der Systeme lieber nicht verlieren.

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Die gute Nachricht ist: Präsident Xi muss sich daheim mit immer mehr Herausforderungen herumschlagen. Leichter werden sie nicht. China wird deshalb langfristig Kompromisse machen müssen, innen wie außen. Und wer Kompromisse macht, mit dem kann man sich arrangieren.


Termine des Tages

Wie viel wusste der spätere Papst Benedikt XVI. vom sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche? Heute wird ein lang erwartetes Gutachten zum Erzbistum München und Freising vorgestellt. Immer noch wirkt die Kirche wie eine kriminelle Organisation, die Verbrecher deckt.

Next stop Berlin: US-Außenminister Antony Blinken wird in der Hauptstadt erwartet, um mit Außenministerin Baerbock über die nächsten Schritte in der Ukraine-Krise zu beraten. Ein russischer Angriff hätte einen "hohen Preis", warnt Bundeskanzler Olaf Scholz. Doch die meisten Optionen dürften wirkungslos sein, analysieren meine Kollegen Johannes Bebermeier und Patrick Diekmann.

Österreichs Parlament stimmt über die allgemeine Corona-Impfpflicht ab 18 Jahren ab. Anders als in Deutschland geht das Projekt in unserem Nachbarland weitgehend reibungslos über die Bühne, im Nationalrat zeichnet sich eine breite Mehrheit ab.

Klimaminister Robert Habeck besucht in München Markus Söder: Er will die Bayern beknien, endlich mehr Windräder zu bauen. Passenderweise werden heute die Zahlen veröffentlicht, wie viele Anlagen im vergangenen Jahr bundesweit errichtet wurden. Sie dürften ernüchternd sein. Womöglich hat Herr Habeck heute aber ganz andere Sorgen: Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn, Annalena Baerbock und vier weitere Bundesvorstände der Grünen.

Die Klimakrise hat Folgen: Indonesien startet ein Mammutprojekt und verlegt seine Hauptstadt von Jakarta auf der Insel Java nach Borneo. Neben dem chaotischen Verkehr der wichtigste Grund: Jakarta sinkt und könnte bis 2050 weitgehend überflutet sein. New York, Hamburg, Mumbai und vielen anderen Städten droht absehbar dasselbe Schicksal.


Die gute Nachricht

Die Messenger-App Telegram ist ein wichtiges Rekrutierungsinstrument von Rechtsradikalen und von militanten Impfgegnern. Die alte Bundesregierung hat das nie begriffen. Anders die neue Innenministerin: Nancy Faeser will hart gegen den Betreiber vorgehen und die App von Smartphones verbannen.


Was lesen?

Ein halbes Jahr nach der Flutkatastrophe ist die Lage im Ahrtal immer noch schlimm. Unser Reporter Tobias Christ war mit freiwilligen Helfern unterwegs.


Wäre amerikanisches Flüssiggas ein Ersatz für das russische Erdgas? Meine Kollegin Nele Behrens macht eine teure Rechnung auf.


Wo steigen die Omikron-Infektionen besonders schnell, wo nicht? Martin Trotz und Arno Wölk zeigen Ihnen, wie sich die Corona-Lage in Deutschland entwickelt.


Heute vor einem Jahr zog Joe Biden ins Weiße Haus ein. Warum er seither so wenig erreicht, hat der Historiker Christof Mauch meinen Kollegen Bastian Brauns und Marc von Lüpke erklärt.


Was amüsiert mich?

Sie haben heute noch nicht herzhaft gelacht? Dann schauen Sie doch mal hier hinein (Ton unten rechts anklicken).

Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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