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China: Die neue Nummer Eins


Tagesanbruch
Die neue Nummer Eins

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 09.02.2022Lesedauer: 7 Min.
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Angestellte einer Regierungsbehörde in Peking.Vergrößern des Bildes
Angestellte einer Regierungsbehörde in Peking. (Quelle: F. Harms)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Olympioniken haben nicht geliefert, und sie entschuldigten sich mit Tränen in den Augen. Das Team und die gesamte Nation hätten sie enttäuscht, gestanden sie wehklagend, und auch ihr Publikum sah das so: Scharen von Fans hauten den Sportlern deren Niederlage um die Ohren. "Wie kannst du es wagen, nach einem verlorenen Match ein Selfie zu posten?", zeterte einer nach dem Wettkampfdebakel. In den sozialen Medien war die Hölle los, im ganzen Land geißelte man das unpatriotische Versagen. Welch eine Schmach! Eine nationale Schande! Die beiden Athleten hatten schließlich bloß eine läppische ... Moment, ich sehe noch mal nach ... oh, eine Silbermedaille haben sie geholt.

Im Sommer vergangenen Jahres ist das gewesen, bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio. Schnee von gestern also, könnte man meinen, solange man sich nur für die sportlichen Leistungen des chinesischen Teams interessiert, das beim gemischten Tischtennis-Doppel im Finale gegen Japan verlor. Der Wind allerdings, der den unglücklichen Athleten nach ihrer Niederlage ins Gesicht blies, weht schon etwas länger und hat mit Sport nichts zu tun. Chinas Selbstverständnis hat sich gewandelt – geplant, gewollt, und inzwischen tief verankert in weiten Teilen der Bevölkerung. Das Bild, das die überwältigende Mehrheit der Chinesen von ihrem Land hat, lässt sich auf eine einfache Formel bringen: China ist die Nummer eins. Danach kommt lange nichts. Der zweite Platz kann deshalb nur ein Ausrutscher unpatriotischer Versager sein. Egal, in welcher Disziplin.

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Auf der Suche nach Bestätigung kommen chinesische Nationalisten nicht ins Schwitzen. Ausgerechnet die Covid-Katastrophe, die der Herrschaft des allmächtigen Präsidenten Xi Jinping anfangs sogar gefährlich wurde, gilt inzwischen als Beleg für die Überlegenheit des chinesischen Systems. Nur wenige Tausend Tote in China – Millionen anderswo. Entschlossenes Handeln der Kommunistischen Partei – hilfloses Herumrudern im Rest der Welt. Einfach waren die zwei Jahre der Pandemie auch für die Chinesen nicht, aber man durfte sich im Reich der Mitte sicher fühlen. Und überlegen.

Der erfolgreiche Kampf gegen das Coronavirus bestätigte nur, wovon die meisten Menschen im Land schon vorher überzeugt waren. Auf 5.000 Jahre Geschichte glaubt China zurückblicken zu können, was es zur ältesten Zivilisation der Welt erhebt (auch wenn unter der scharfen Lupe der Wissenschaft ein bis zwei Jahrtausende davon gleich wieder verschwinden). Nach eigener Lesart rutschte das Riesenreich nur selten vom Siegertreppchen. Europäische und japanische Eindringlinge haben China im vergangenen Jahrhundert gedemütigt – eine einmalige Abweichung vom Sollwert, die sich niemals wiederholen darf und sich (der Partei sei Dank) auch nicht wiederholen wird. Unter ihrer vorausschauenden Führung hat China seinen wahren Platz in der Welt wieder eingenommen: ganz oben. Vor allen anderen.

Natürlich ist das Propaganda, und zu deren Eigenschaften gehört, dass sie nicht jeder glaubt. Dass der entfesselte Nationalismus sich trotzdem, gerade unter jungen Chinesen, den führenden Platz erobert hat, geht auf die jahrzehntelange Arbeit der Kommunistischen Partei zurück. Im Krisenjahr 1989 ließen die Parteibonzen Panzer auffahren und die Massenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zusammenschießen. Niemals hätte eine solche Bewegung überhaupt entstehen dürfen, fanden die Hardliner, und bauten daraufhin die Lehrpläne in Schulen und Universitäten um: Mehr Mao, mehr Marx, mehr Hurra-Patriotismus bildeten die Grundlage der Indoktrinierung, die inzwischen um die Unterweisung in "Xi-Jinping-Gedanken" erweitert worden ist. Bis heute wird nachgesteuert und ausgemistet: Präsident Xi hat bereits kurz nach seinem Amtsantritt westliche Ideen aus dem Unterricht tilgen lassen, angefangen bei unwillkommenen Demokratiemodellen, bis hin zu – igitt! – universellen Menschenrechten.

Außerhalb der Klassenzimmer bekommt die durchinszenierte Weltsicht kräftig Nachhilfe. Chinas Internet ist längst zu einem Intranet geschrumpft, das vom freien weltweiten Netz mit der berüchtigten Großen Firewall abgeschottet ist. Außerhalb toben sich ungefilterte Meinungen, drinnen die staatlichen Zensoren aus. Funk, Fernsehen, Zeitungen und Online-Medien zensieren sich in der Regel gleich selbst und beugen sich vorauseilend den Wünschen der Partei. Berichterstatter aus dem Ausland werden gegängelt, behindert und schikaniert. Xi Jinpings Regime ist allumfassend.

Was folgt daraus? Lässt man die geballte Macht der chinesischen Propaganda- und Unterdrückungsmaschinerie Revue passieren, könnte man auf den Gedanken verfallen, das System habe Generationen von linientreuen Jasagern hervorgebracht. Aber so einfach ist es nicht. Gewiss, wer die Vorherrschaft der Partei infrage stellt, wird postwendend mundtot gemacht. Aber 1,4 Milliarden Menschen lassen sich nicht auf einen einfachen Nenner und noch viel weniger auf eine parteikonforme Einheitsmeinung bringen – erst recht nicht der selbstbewusste, hochqualifizierte Mittelstand, der das Land am Laufen hält. Und genau diese Leute machen ihrem Unmut nun Luft.

Die einen stöhnen über die Knochenmühle des Arbeitslebens, bei dem an sechs von sieben Tagen rangeklotzt wird, oft 70 Stunden in der Woche oder mehr. Andere haben die Nase endgültig voll. Sie pfeifen auf ihre Karrieren und ziehen auf der Suche nach einem besseren Leben aufs Land. Überkommene Werte gehen reihenweise über Bord: Geheiratet wird immer später, Kinder müssen warten, Frauen bescheiden sich als junge Mütter nicht mehr mit einer Hausfrauenrolle. Noch sind es vor allem die städtischen Eliten, die sich solche Eskapaden leisten, aber auch am unteren Ende der Einkommensskala gibt es neue Trends. Die Zahl der jungen Wanderarbeiter, die es aus den Provinzen in die Mega-Citys an der Küste zieht, hat sich im vergangenen Jahrzehnt nahezu halbiert.

Seit den Achtzigerjahren überschlägt sich die Entwicklung in China, und noch immer verändert sich das Land im Expresstempo. Jede neue Generation wird in eine Welt geboren, die sich von der ihrer Eltern drastisch unterscheidet. Mit den Kindern wachsen stark veränderte Erwartungen und Ansichten heran. Eine Jugend, die nach Freiheit lechzt und nur darauf wartet, die Diktatur der Partei endlich abzuschütteln, ist jedoch nirgendwo zu sehen. Junge Erwachsene ringen um soziale Freiräume, doch die Verbrechen an den Minderheiten in Xinjiang und Tibet dringen den meisten Chinesen nicht ans Ohr oder werden als Hetzkampagne aus dem Ausland abgetan.

Wir Europäer müssen uns bewusst sein, wie wir im Reich der Mitte wahrgenommen werden, und zwar nicht nur während Olympia: als Stimmchen vom Rand. Um Gehör zu finden, muss die EU deshalb laut und deutlich sprechen. Das geht nur geeint. Alleingänge, auch von superschlauen deutschen Politikern, Wirtschaftskapitänen und Journalisten, werden vom neuen Riesen im Osten allenfalls mit einem müden Lächeln quittiert. Von Einzelstimmen bleibt in China nicht viel übrig – höchstens ein Gemurmel. Unten auf dem zweiten Platz.

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Was amüsiert mich?

Der hat raffinierte Ideen, der Olaf Scholz.

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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