Tagesanbruch Wir sind ja selbst schuld
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
oft hilft es ja beim Denken, einfach mal vor die Tür zu gehen. Das ist bei Bundeskanzlern im Allgemeinen nicht anders als bei Bundesbürgern. Ein wenig Frischluft schadet selten. Und wer seinen Schreibtisch verlässt, der lernt manchmal sogar etwas dazu. Oder kann zumindest graue Theorie mit greller Wirklichkeit abgleichen. Was auch schon viel wert ist.
Olaf Scholz ist am vergangenen Freitag vor die Tür gegangen. Der Kanzler hat das Einsatzführungskommando der Bundeswehr besucht, in Schwielowsee nahe Potsdam. Ich war dabei und habe mich schon ein wenig darauf eingestellt, dass Scholz ein Zeichen der militärischen Stärke setzen würde. Immerhin herrscht Krieg in Europa, auf den Scholz gerade erst mit seinen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr reagiert hat. Ein paar kantige Worte in der Schaltzentrale der deutschen Streitkräfte, buchstäblich an der Seite höchster Militärs? Das hätte ziemlich sicher Schlagzeilen gemacht.
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Doch es wurde fast das komplette Gegenteil. Ein Zeichen der Nachdenklichkeit, der Suche, der Verletzlichkeit sogar. Olaf Scholz schloss ziemlich grundsätzlich aus, dass sich Deutschland und die Nato am Krieg in der Ukraine beteiligen. "Wir sind nicht Teil dieser militärischen Auseinandersetzung und werden es auch nicht werden", sagte er. Nur um sich wenig später anzuschauen, was das bedeuten würde: ein Krieg.
Auf dem Gelände der Henning-von-Tresckow-Kaserne liegt nämlich nicht nur das Einsatzführungskommando der Bundeswehr. Seit 2014 gibt es dort auch den "Wald der Erinnerung". Er erinnert an die Bundeswehrangehörigen, die in Auslandseinsätzen ums Leben gekommen sind. 115 Menschen, 115 zu viel. Ihre Namen sind in große steinerne Stelen eingelassen. Bei vielen klemmen ihre Abzeichen daneben, manchmal auch eine kleine Figur mit der Aufschrift: "Du fehlst".
Das stille Gedenken des Bundeskanzlers dort hat keine großen Schlagzeilen gemacht. Das war nicht anders zu erwarten in diesen lauten Zeiten. Aber es war trotzdem beeindruckend. Es ist diese Szene, an die ich nun oft denken muss, wenn mal wieder jemand aus seiner Redaktionsstube heraus ganz genau zu wissen glaubt, dass die Nato jetzt und zwar sofort in der Ukraine eingreifen müsse. Auch wenn das den Dritten Weltkrieg bedeuten würde, egal, muss halt sein.
Man wünscht diesen Kollegen einen Besuch im "Wald der Erinnerung". Oder zumindest ein Fenster auf Kipp.
Dabei stimmt es ja: Natürlich kann man sich auch mit Nichtstun schuldig machen. Aber diese Erkenntnis befreit eben nicht davon, genau zu überlegen, was man tut – und was nicht. Gerade in dieser Situation. Denn durch falsches Tun kann man sich im Zweifel genauso schuldig machen – oder sogar noch schuldiger.
Es ist allzu menschlich, sich angesichts einer solchen Katastrophe nicht hilflos fühlen zu wollen. Aber anders als es die Immerschongesagthaber und Sowiesoallesbesserwisser nahelegen, die es dieser Tage wieder zuhauf gibt, ist es wahrscheinlich ehrlicher zuzugeben, dass wir eben nicht alles in der Hand haben. Und vieles nicht so genau wissen.
Wie hart müssen Wirtschaftssanktionen sein, damit Wladimir Putin einlenkt? Werden Deutschlands 100-Bundeswehr-Milliarden ihn davon abhalten, künftig noch weiter zu gehen? Kann sein, kann nicht sein. Wer weiß schon, was in Putin vorgeht. Versuchen muss man es natürlich, auch weil die Alternative gerade erst in sich zusammengefallen ist: der Wandel durch Handel.
Nur sind es eben alles Rechnungen mit einer großen Unbekannten, und die heißt Wladimir Putin. Wir sollten nicht so tun, als sei das anders.
"Wenn wir diesen Krieg, wenn wir dieses Leiden von Müttern, Vätern, Kindern beenden könnten, dann würden wir es in dieser Minute sofort tun", hat Außenministerin Annalena Baerbock am Sonntagabend bei "Anne Will" gesagt. Aber es gebe eben Momente in der Außenpolitik, "wo man eigentlich nur zwischen Pest und Cholera wählen kann".
Was also ist uns lieber?
Vieles ist in diesen Tagen schwieriger, als es einige gerne hätten, uneindeutiger und unklarer. Aber eben nicht alles. Ziemlich klar ist nämlich leider, dass wir mehr für eine Chance auf Frieden tun könnten, zumindest theoretisch.
Denn unsere fossile Energie, unser Gas, unsere Kohle und unser Öl werden wir weiter von Putin kaufen – sofern er uns denn lässt. Der soziale Frieden im Land sei sonst gefährdet, hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck vergangene Woche gewarnt. Olaf Scholz wurde am Montag in einer eigens verschickten Pressemitteilung sogar noch deutlicher: "Die Versorgung Europas mit Energie", wird der Kanzler darin zitiert, "kann im Moment nicht anders gesichert werden".
Es ist ein schlichter Satz mit einem Eingeständnis, das brutaler kaum sein könnte. Vor allem, weil wir ja selbst schuld sind. Es waren die deutschen Politiker der vergangenen Jahrzehnte, die uns in diese Abhängigkeit geführt haben. Wissentlich und willentlich.
Vielleicht hätten sie mal etwas öfter vor die Tür gehen sollen. Oder zumindest einmal Fenster auf Kipp.
Bloß weg von Putin
Die gute Nachricht ist: In der Politik scheinen nun viele begriffen zu haben, dass sich Deutschland möglichst schnell von Putins Gas, Putins Kohle und Putins Öl unabhängig machen muss. Nur wie soll das genau funktionieren? Darüber dürfte heute bei einem kurzfristig einberufenen Sondertreffen der Energieminister aus Bund und Ländern gestritten werden. Wie sehr, das lässt sich vermutlich schon am Nachmittag erahnen. Dann wird Wirtschaftsminister Robert Habeck nämlich mit dem niedersächsischen Energieminister Olaf Lies vor die Presse treten.
Wie kompliziert diese Operation ist, die vor allem Vizekanzler Habeck jetzt hinkriegen muss, haben mein Kollege Fabian Reinbold und ich für Sie aufgeschrieben.
Historisches Bild des Tages
Nahezu menschenleer war diese Duisburger Straße, als 1921 Soldaten fremder Nationalität einmarschierten. Was passiert ist, lesen Sie hier.
Was lesen?
Russland ist seit dem Angriff auf die Ukraine international weitgehend geächtet. Doch China hält Wladimir Putin trotz des Ukraine-Kriegs weiter die Treue. Dafür zahlt das Land allerdings einen Preis, erklärt der China-Experte Klaus Mühlhahn meinen Kollegen Patrick Diekmann und Marc von Lüpke.
Wladimir Putin hat sich mit seinem Krieg in der Ukraine in eine politische Sackgasse manövriert. Mit jedem Kriegstag, weiteren Todesopfern und scharfen Sanktionen wächst der Druck auf den russischen Präsidenten im eigenen Land, wie mein Kollege Patrick Diekmann beschreibt.
Was amüsiert mich?
Morgen schreibt an dieser Stelle meine Kollegin Miriam Hollstein für Sie.
Ich wünsche Ihnen trotz allem einen guten Dienstag.
Ihr
Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
Twitter: @jbebermeier
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Mit Material von dpa.
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