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Todesfahrt in Berlin: Die Katastrophe nach der Katastrophe


Tagesanbruch
Die Katastrophe nach der Katastrophe

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 09.06.2022Lesedauer: 6 Min.
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Einsatzkräfte versorgen Verletzte: Es fühle sich an wie ein "Déjà-vu", sagt die Bezirksbürgermeisterin.Vergrößern des Bildes
Einsatzkräfte versorgen Verletzte: Es fühle sich an wie ein "Déjà-vu", sagt die Bezirksbürgermeisterin. (Quelle: Tantussi/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

gestern raste ein 29-Jähriger mit einem Renault Clio 200 Meter weit über einen Bürgersteig in Berlin-Charlottenburg. Er verletzte mehrere Menschen, darunter auch Schüler, und tötete eine Frau. Sechs Menschen schweben noch in Lebensgefahr.

Die Lage ist noch unklar, wahrscheinlich aber handelt es sich nicht um einen Unfall, sondern um eine Tat mit Vorsatz. Ermittler und Berlins Innensenatorin Iris Spranger gehen von einer Amokfahrt aus. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer Amoktat.

Die meisten Fragen sind bisher ungeklärt, Spekulationen verbieten sich. Fest steht aber: Die mutmaßliche Amokfahrt weckt nicht nur bittere Erinnerungen, sie rührt an ein nationales Trauma. Denn nur wenige Meter vom Tatort entfernt hatte der Terrorist Anis Amri 2016 einen Sattelzug in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gesteuert. 13 Menschen starben, mehr als 60 wurden verletzt.

Seither hat sich der Ort verändert. Ein goldener Riss zieht sich nun über den Platz. Das aus Metall gegossene Mahnmal versucht zu fassen, was nicht zu fassen ist: den Verlust von Leben, den Schmerz der Angehörigen, das verlorene Sicherheitsgefühl einer Nation.

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Mindestens ebenso symbolisch sind die auffälligen Poller und Barrieren, die inzwischen den Breitscheidplatz einzäunen. Sie sollen Fahrzeuge bis hin zur Lastwagen-Schwere stoppen können. Mehr als zwei Millionen Euro hat der Berliner Senat in sie investiert, obwohl klar ist: Wer an diesem symbolischen Ort Böses plant, wird es auf den Platz schaffen – oder eben ein paar Meter entfernt zuschlagen. Die Poller sind ein Zeichen der Hilflosigkeit der Behörden gegenüber der Brutalität von Einzelnen und Gruppen, die auf Massenmord zielen.

Das Problem: Wenn überhaupt, können solche Taten nur durch die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten gestoppt werden, zum Beispiel durch die enge Überwachung von Gefährdern. Sind die Täter vorher nicht polizeibekannt, haben Ermittler kaum eine Chance, präventiv einzugreifen.

Im Jahr 2016 haben die Behörden allerdings gleich doppelt versagt. Es gelang nicht, den Anschlag zu vereiteln. Und anschließend stand der Staat den Verletzten und Hinterbliebenen nicht bei. Opferverbände sprechen von einer "Katastrophe".

"Da sind so viele Fehler passiert, dass wir fassungslos waren", erzählte Bianca Biwer von der Hilfsorganisation Weißer Ring mir gestern am Telefon. 80 Opfer und Angehörige des Breitscheidplatz-Attentats hat der Weiße Ring begleitet, jahrelang. Hat sie psychologisch und juristisch beraten, hat Anträge auf Entschädigung ausgefüllt, hat ihr Leid und ihren Ärger geteilt. Und Ärger und Leid gab es im Überfluss.

Nicht nachzuvollziehen ist, was viele Angehörige erleben mussten: Eltern suchten vier Tage lang in Berlin nach ihrem Kind – weil sie von den Behörden keine Auskunft erhielten. Andere bekamen später kommentarlos blutverschmierte Habseligkeiten ihrer getöteten Geliebten per Post geschickt, die als Beweismittel nicht mehr gebraucht wurden. Rechnungen der Forensik flatterten in die Häuser von Angehörigen – auch hier: ohne Stellungnahme, ohne weitere Angebote zur Unterstützung.

"Das war desaströs", sagt Biwer. "Die Behörden haben massiv unempathisch und völlig behördlich agiert. Das darf sich keinesfalls wiederholen."

Immerhin: Das Bewusstsein in den Behörden scheint – nicht zuletzt dank der Hartnäckigkeit von Organisationen wie dem Weißen Ring – gewachsen zu sein. Biwer formuliert hier vorsichtig, sie will nicht zu früh loben. Doch sie nehme wahr, dass sich "alle darin einig sind, dass das nicht noch einmal passieren darf".

Einige große Baustellen gibt es weiterhin. Das Opferentschädigungsgesetz wurde reformiert – in Kraft treten soll die verbesserte Version aber erst 2024. Immer noch haben nur 14 von 16 Bundesländern einen Opferbeauftragten. Hier ist das so oft gescholtene Berlin vorbildlich. Schon vor dem Amri-Attentat gab es einen Zuständigen, der als Ansprechpartner für Betroffene aller möglichen Gewalttaten agiert und sie zum Beispiel bei Behördengängen unterstützt. Brandenburg und das Saarland arbeiten noch immer an der Einrichtung einer solchen Stelle. Auf Bundesebene gibt es mit Pascal Kober (FDP) seit Januar zwar einen Opferbeauftragten, der sich nach erster Einschätzung von Experten tief in das Thema kniet – der aber ist nur für Terroranschläge zuständig.

Es braucht auch die Öffentlichkeit, um solche Schwach- und Leerstellen rasch zu beseitigen und weitere Verletzungen von bereits tief Verletzten zu vermeiden. Medien müssen berichten – nicht nur in lauten, gut klickenden Überschriften in dieser Woche, sondern über Schicksale und behördliche Brutalität auch noch in einem Jahr. Wir alle müssen hinhören, hinsehen und verstehen: Das da, das könnten auch wir sein.

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Ich habe zur Zeit des Amri-Attentats in Berliner Lokalredaktionen gearbeitet. Das Engagement war oft ausbaufähig bei dem Thema, manchmal schreckte man erst kurz vor dem Jahrestag auf. Und das messbare Interesse der Bevölkerung an Berichten über Behördenversagen und das Schicksal von Angehörigen war, gelinde gesagt, gering.

Das muss sich ändern. Deutschland muss empathischer werden. Wichtiger als jedes Mahnmal sind die Menschen, die bleiben.


Was steht an?

Die Bundesregierung begibt sich auf gänzlich ungewohntes Terrain: Die Republica ist eröffnet – den meisten Bürgern kaum bekannt, ist die netzpolitische Konferenz das größte Event seiner Art in Europa. Auf Bühnen und in Konferenzecken tauschen sich Tausende Blogger, Influencer, Journalisten, Unternehmer und Politiker aus. Dabei immer im Fokus: nicht ausgeschöpfte Potenziale der Digitalisierung und Gefahren für die Zivilgesellschaft, auch durch staatliche Überwachung. In diesem Jahr bekommt das digitale Festival dabei erstmals Besuch von ganz oben: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) soll heute über "Deutschlands und Europas Rolle in einer sich wandelnden digitalen Weltordnung" sprechen. Neben Innenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) wird auch der Verkehrs- und Digitalminister in Personalunion, Volker Wissing (FDP), erwartet. Berechtigte Hauptfrage dürfte sein: Wo hat sie sich versteckt, die Digitalisierung?

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg besucht Berlin und trifft Kanzler Scholz sowie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Sie wollen den Nato-Gipfel Ende Juni in Madrid vorbereiten. Um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird es natürlich auch gehen.

Droht der nächste Tabubruch in Thüringen? Im Streit um die Abstandsregel für Windräder zu Wohngebäuden liebäugelt die Thüringer CDU damit, neben der FPD auch auf die Stimmen der rechtsextremen AfD-Fraktion von Björn Höcke zu setzen. CDU-Chef Friedrich Merz, der bei Amtsantritt noch vehement auf die Einhaltung der Brandmauer zur AfD pochte, scheint den Vorgang jetzt kaum noch zu stören. Man könne ja nun nicht jeden Antrag, den man in der Sache für richtig halte, "davon abhängig machen, ob die AfD dem zustimmt oder nicht", sagte er. Merz verweist wie die Thüringer Parteispitze darauf, dass ähnliche Regeln in anderen Bundesländern bereits beschlossen wurden. Bewegen müssen sich nun statt der Christdemokraten die anderen Parteien: Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) suchte bereits am Mittwoch das Gespräch mit den CDU-Spitzen im Land – und zeigte sich danach zuversichtlich, dass sich ein Debakel, aus dem Höcke und die AfD den größten Gewinn ziehen würden, durch einen Kompromiss noch verhindern lasse. Noch offen ist, wie sehr der Ausbau der erneuerbaren Energien darunter leiden wird.


Was lesen?

Wie haben Augenzeugen die Todesfahrt am Breitscheidplatz erlebt? Welches Bild ergibt sich aus ihren Aussagen für die Ermittler, wie geht es ihnen selbst? Unsere Berlin-Reporter Antje Hildebrandt und Jannik Läkamp haben mit einigen gesprochen.

Geben die Mineralölfirmen den Tankrabatt an Deutschlands Autofahrer weiter? FDP-Mann Michael Theurer hat seine Zweifel – und will deshalb über eine Zerschlagung der Konzerne sprechen, wie er meinen Kollegen Mauritius Kloft und Frederike Holewik hier erklärt. Eine "Übergewinnsteuer" lehnt er indes ab. Doch was würde sie überhaupt bedeuten? Das erklären Ihnen meine Kollegen aus dem Wirtschaftsressort hier.

Normalerweise erhält man seinen Doktortitel eher in jüngeren Jahren. Diese bemerkenswerte Frau holte dies aber erst im Alter von 102 Jahren nach. Warum? Das lesen Sie hier.


Was amüsiert mich?

Die Selbstironie unseres Karikaturisten Mario Lars nach dem ersten großen Auftritt von Angela Merkel nach Ende ihrer Regierungszeit:

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag! Beim nächsten Mal begleitet Sie Florian Harms wieder in den Morgen.

Ihre

Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1

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Mit Material von dpa.

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