Experte erwartet 60 bis 70 Prozent Infizierte in Deutschland
Berlin (dpa) - In Deutschland werden sich nach Ansicht eines Experten viele Menschen mit dem neuen Coronavirus anstecken. "Es werden sich wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent infizieren, aber wir wissen nicht, in welcher Zeit", sagte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charitรฉ am Freitag.
"Das kann durchaus zwei Jahre dauern oder sogar noch lรคnger", sagte er weiter. Problematisch werde das Infektionsgeschehen nur, wenn es in komprimierter, kurzer Zeit auftrete. "Darum sind die Behรถrden dabei, alles zu tun, um beginnende Ausbrรผche zu erkennen und zu verlangsamen."
Deutschland sei hervorragend auf die Lungenkrankheit Covid-19 vorbereitet. "Wenn das ganze Pandemiegeschehen, bevor das Virus zu einem landlรคufigen Erkรคltungsvirus wird und nicht mehr weiter auffรคllt, sich so in zwei Jahren abspielt, da kรถnnen wir damit umgehen", sagte Drosten. "Wenn es ein Jahr ist, wird es deutlich schwerer, weil wir dann in derselben Zeit deutlich mehr Fรคlle haben." Er mahnte dennoch: Die benรถtigte Zahl der Therapiebetten auf den Intensivstationen kรถnne man schwer vorhersagen, aber, "wenn wir jetzt nichts tun, dann werden die vielleicht nicht ausreichen".
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat angesichts der wachsenden Zahl von Sars-CoV-2-Infektionen das Risiko einer weltweiten Verbreitung des Virus von "hoch" auf "sehr hoch" gesetzt. Noch aber sei der Kampf gegen die Ausbreitung nicht verloren, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. "Die Eindรคmmung beginnt mit jedem Einzelnen", sagte er. "Zusammen sind wir stark. Unser grรถรter Feind ist nicht das Virus. Unsere grรถรten Feinde sind Angst, Gerรผchte und Stigma. Was wir brauchen, sind Fakten, Vernunft und Solidaritรคt."
Die Schweiz griff am Freitag zu einer drastischen Maรnahme und verbot alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern. Das Verbot soll bis mindestens 15. Mรคrz gelten. Das betrifft unter anderem den Genfer Autosalon, der am 5. Mรคrz starten sollte und zu dem jedes Jahr mehr als 600.000 Besucher kommen. Ebenso trifft es die Basler Fasnacht, die an diesem Montag beginnen sollte.
Die Zahl erfasster Infektionen in Deutschland war bis Freitagvormittag nach Angaben des Robert Koch-Instituts auf 53 gestiegen, hauptsรคchlich in den Bundeslรคndern Nordrhein-Westfalen und Baden-Wรผrttemberg. Im Laufe des Tages wurden weitere bestรคtigte Infektionen gemeldet. Betroffen sind auch die Bundeslรคnder Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Hamburg beziehungsweise Schleswig-Holstein.
Allein in dem stark betroffenen Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen stieg die Zahl der Infizierten bis Freitagnachmittag auf 35. Ein Ehepaar dort wird im Krankenhaus behandelt. Alle anderen seien nicht stationรคr aufgenommen worden, sagte Landrat Stephan Pusch (CDU). Der Krankheitsverlauf sei bei ihnen vergleichsweise mild.
Unter den 35 Infizierten sind nach Kenntnis des Landrats bisher keine Kinder. Am Freitagabend wurden aber noch Testergebnisse von Kindern eines Kindergartens erwartet, in dem die 46-jรคhrige Ehefrau als Erzieherin tรคtig ist. Etwa 1000 Menschen befinden sich im Kreis Heinsberg nach Schรคtzungen der Behรถrden in hรคuslicher Quarantรคne.
In Deutschlands zweitgrรถรter Stadt Hamburg hat sich ein Arzt der Kinder- und Jugendmedizin des Universitรคtsklinikums Eppendorf (UKE) aus Henstedt-Ulzburg (Schleswig-Holstein) infiziert. Nach Erkenntnissen der Behรถrden hatte er im privaten und beruflichen Umfeld Kontakt zu etwa 100 Personen. Die Behรถrden seien dabei, diese Personen zu kontaktieren.
Die Kontaktpersonen des Kinderarztes am Klinikum seien alle auf Sars-CoV-2 getestet worden, mit negativem Ergebnis, sagte eine Sprecherin. Unter den Betroffenen seien 16 Kinder, die mit je einem Elternteil auf Station isoliert worden seien, und 12 รคrztliche Mitarbeiter, die zu Hause isoliert seien. UKE-Vorstand Joachim Prรถlร betonte, dass das UKE weiterhin voll handlungsfรคhig sei.
Handelsketten wie Lidl und Aldi Sรผd berichteten am Freitag bei einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur von teilweise deutlich erhรถhten Verkaufszahlen bei Produkten wie Konserven oder Desinfektionsmitteln. Kurzfristig sei es in einigen Lรคden zu Engpรคssen gekommen. Die Supermarktkette Rewe verzeichnete "nicht flรคchendeckend, aber durchaus bundesweit" eine erhรถhte Nachfrage nach haltbaren Lebensmitteln. Der Handelsverband Deutschland (HDE) betonte, die Lieferstrukturen im Handel seien "gut vorbereitet, so dass die Versorgung der Bevรถlkerung gewรคhrleistet ist".
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) plรคdiert beim Umgang fรผr "Maร und Mitte". Es sollten nicht alle Veranstaltungen deshalb abgesagt werden, sagte sie am Freitagabend auf ihrem Jahresempfang in ihrem vorpommerschen Bundestagswahlkreis in Stralsund. Deutschland gehรถre zu den Lรคndern, die die besten Voraussetzungen hรคtten, um mit dem Virus klarzukommen. Zudem kรถnne jeder einzelne etwas dazu beitragen. Sie ging mit gutem Beispiel voran: "Ich gebe heute Abend niemandem die Hand", sagte Merkel.
Laut RKI hat sich die Zahl der Fรคlle weltweit auf mehr als 83.000 Infizierte in 52 Lรคndern erhรถht. Ein Teil dieser Menschen ist lรคngst wieder geheilt oder hatte von vornherein keine oder kaum Symptome, รผberstandene Infektionen bleiben in der Statistik aber weiter erfasst. In Europa sind mehr als 20 Lรคnder betroffen, wie aus der Statistik des europรคischen Zentrums fรผr die Prรคvention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) hervorgeht.
Die meisten Sars-CoV-2-Infizierten haben nur eine leichte Erkรคltungssymptomatik mit Frรถsteln und Halsschmerzen oder gar keine Symptome. 15 von 100 Infizierten erkrankten schwer, hieร es vom RKI. Sie bekommen etwa Atemprobleme oder eine Lungenentzรผndung. Nach bisherigen Zahlen sterben ein bis zwei Prozent der Infizierten, weit mehr als bei der Grippe.
Auch die Wirtschaft bekommt die Furcht vor der Virus-Ausbreitung zunehmend zu spรผren: Der wichtigste deutsche Aktienindex Dax fiel am Freitag um mehr als fรผnf Prozent. Die Sorge um die Folgen der Coronavirus-Ausbreitung belasten seit Tagen die Finanzmรคrkte weltweit und drรผckten am Morgen bereits die Bรถrsen in Asien tiefer ins Minus.
Auch im Sport werden erste Auswirkungen der Coronavirus-Epidemie spรผrbar. In Abu Dhabi und Berlin sitzen Radprofis in Quarantรคne, bei Weltcup-Skirennen in Norditalien wurde Kรถrperkontakt praktisch untersagt und die Schweiz hat aus Sorge vor Covid-19 gleich alle grรถรeren Sportveranstaltungen inklusive Toppartien im Fuรball und Eishockey verboten.