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Udo Albrecht: der Neonazi, der zur Stasi floh


Terrorist im Nahen Osten
Udo Albrecht – der Neonazi, der zur Stasi floh

Von Dietmar Seher

22.09.2019Lesedauer: 4 Min.
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Der Neonazi Udo Albrecht auf Polizeifotos, die nach einer Festnahme angefertigt wurden: Welche Rolle spielte er für den Rechtsterrorismus der Siebziger- und Achtzigerjahre?Vergrößern des Bildes
Der Neonazi Udo Albrecht auf Polizeifotos, die nach einer Festnahme angefertigt wurden: Welche Rolle spielte er für den Rechtsterrorismus der Siebziger- und Achtzigerjahre? (Quelle: MDR)

Ein Neonazi hat über Jahrzehnte Banken überfallen, Geld gefälscht und Waffenladungen verschoben – dann packte er bei der Stasi aus. Möglicherweise wurde er schließlich ermordet.

So einen Ermittler-Albtraum hätten selbst Krimiautoren nicht besser erfinden können: Ein mutmaßlicher Bankräuber führt Düsseldorfer LKA-Beamte und einen Staatsanwalt aus Münster an die innerdeutsche Grenze. Der Mann hat ihnen versprochen, auszupacken. Er will den Beamten an diesem 29. Juli 1981 ein Waffendepot in der Nähe des niedersächsischen Büchen zeigen. Er hat es angeblich im Heidesand vergraben.

Auf Nimmerwiedersehen

Nur die Bahnlinie Hamburg–Berlin liegt noch zwischen dem Trupp und der Grenzbefestigung, als die Polizisten ihm die Handschellen abnehmen und tatkräftig zu Hacke und Spaten greifen. Da nähert sich ein Zug. Unter Lebensgefahr springt der Häftling vor der heranrasenden Lok über die Gleise und rennt auf die Grenzabsperrung zu. Der Gangster verschwindet für die Westdeutschen in die DDR. Auf Nimmerwiedersehen.

Udo Albrecht heißt der Mann, dem das Piratenstück gelang. Er ist der am längsten gesuchte Schwerkriminelle der deutschen Nachkriegsgeschichte – das heißt: Er war es. Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat die Fahndung nach Albrecht eingestellt. Aktendeckel von immerhin elf Hauptbänden mit 2.400 Seiten sowie zahlreichen anderen Ordnern, Sonderbänden, Beweismittelakten und weiteren Ermittlungsergebnissen sind in diesem Frühjahr zugeklappt worden, bestätigte die Dortmunder Staatsanwältin Sonja Frodermann t-online.de.

Phantom und Phänomen

Aber ist schwerkriminell der treffende Begriff für den Neonazi und Judenhasser? Drei Banküberfälle, bei denen er mit Vorliebe im Morgengrauen durch den Belüftungsschacht einstieg und auf die Kassierer wartete, sind eher die harmlosen Streiche im Strafregister des ehemals Gesuchten. Albrecht ist – oder war? – zugleich Phantom und Phänomen. Unter anderem der MDR ist den Spuren des Mannes intensiv gefolgt und hat sein Leben im Detail rekonstruiert.

Demnach war Albrecht eine Mischung aus Berufsverbrecher und kleinem Gauner, international operierendem Waffendealer und mörderischem Terroristen. Und auch: eine Schlüsselfigur der Rechtsextremen im alten Westdeutschland, deren tatsächliche Rolle in dieser Szene bis heute im Dunkeln liegt. Schließlich packte er nach seiner Flucht bei der Staatssicherheit der DDR aus – die Frage, ob er vorher oder nachher den Bundesnachrichtendienst belieferte, beantwortete die Bundesregierung vor wenigen Wochen mit Schweigen.

Die Palästinenser

Die bekannten Details seiner kriminellen Karriere: Mit 16 Jahren klaut Albrecht sein erstes Fahrrad. Mit 18 wandert er im niederrheinischen Moers wegen Geldfälscherei in den Arrest. Überfälle auf Geldinstitute bringen ihm mindestens 350.000 Deutsche Mark. Das ist offenbar das Kapital, das er mit seiner Firma "Special Car Service" für Auto- und Leichtpanzerkäufe aus Bundeswehrbeständen nutzt – um sie der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann zuzuliefern, die sie für ihre Kriegsspiele im Libanon braucht und für die er den Kontakt zur PLO geknüpft hat.

Albrecht wirbt Söldner für Nahost-Kriegsschauplätze an, darunter Bundeswehrsoldaten. Auch kämpft er selbst in den Reihen des "Schwarzen September" und gerät in jordanische Gefangenschaft – dort ermöglicht der deutsche Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski dem Rechtsextremisten trotz Bedenken die Ausreise. Ihm erzählt Albrecht zunächst, er sei ein Herr Fischer, dann dreist, er sei ein Herr Kaiser. Noch während der Reise nach Deutschland türmt er bei einem Zwischenstopp in Saudi-Arabien.

Sieben Ausbrüche

Immer wieder verliert sich die Spur des Mannes, mal wird er festgenommen, mal flüchtet er, schließlich wird er sogar aus der westdeutschen Untersuchungshaft entlassen, woraufhin er seine eigene neonazistische Wehrsportlergemeinschaft im Ruhrgebiet gründet. Zusammen 20 Jahre verbringt er in Haftanstalten. Dem "gelernten Flitzer", wie es der Polizeijargon damals nennt, werden sieben Knast-Ausbrüche zugerechnet – bis zu jener abenteuerlichen Szene am Todesstreifen bei Büchen im Juli 1981, mit der er sich endgültig absetzt. Bei der Stasi plaudert er dann über seine angeblichen Netzwerke.

Albrechts zeitweiliger Komplize Willi Pohl alias Willi Voss hat ebenfalls von ihnen erzählt: "Die Organisation Udo Albrechts hatte überall in Europa Depots mit Waffen, Pässen und Geld angelegt. Unter anderem unter dem Sarkophag Mussolinis." Beim Ertasten eines Blanko-Passes unter der Ruhestätte des italienischen Diktators sei er, Pohl, von einer alten Faschistin sogar wütend angeraunzt worden: "Respektieren Sie den Duce!"

Spekulationen über Terroranschläge

Solche Szenen klingen, als stammten sie aus einer bösartigen Komödie. Doch der Polit-Gangster war auch Extremist, war Waffenschieber und Unterstützer von hochgefährlichen Terroristen. War er mitverantwortlich für blutige Terroranschläge? Oft wurde über seine Rolle beispielsweise für das Oktoberfest-Attentat 1980 spekuliert oder über seine mögliche Verwicklung in den palästinensischen Olympia-Anschlag 1972 in München. Auch seine Mitwirkung an der Ermordung eines us-amerikanischen Botschafters steht im Raum.

Anlass dieser Mutmaßungen ist unter anderem seine frühe, enge Verdrahtung mit der obersten Kommandoebene der Palästinensischen Befreiungsfront PLO und ihrer Terrorabteilung El Fatah. Für Abu Daoud, den Cheforganisator des Münchner Anschlags auf die israelische Olympiamannschaft, bereitete er die Rekrutierung deutscher Helfer vor. Doch wie weit ging Albrechts eigenes Zutun zum gefürchteten Terror der Siebziger- und Achtzigerjahre?

Albrecht könnte heute zurückkehren

Möglicherweise wird das nicht mehr geklärt werden. Dass die deutsche Strafverfolgung jetzt auf die Jagd nach dem Mann verzichtet, liegt im Gesetz begründet. Die letzte ihm zugerechnete Straftat ist 40 Jahre her. Das Dortmunder Landgericht hat im April 2019 folgerichtig die absolute Verjährung angeordnet, weil man ihm nie Tötungsdelikte nachwies.

Er könnte heute also an seinen offiziellen Hauptwohnsitz im Ruhrgebiet zurückkehren. Passieren würde ihm nichts. Und auch die Bundesregierung räumte – Stand Juli – auf eine Anfrage der Linkspartei ein, Albrecht werde aktuell in keinem Verfahren als Verdächtiger oder Zeuge geführt.

Brisant dabei: Der tatsächliche Umfang seiner Verbrechen bleibt unter Verschluss. So umfassen die Dortmunder Akten Angaben über "den früheren Lebensweg des Beschuldigten" und "Informationen betreffend den Verlauf der Fahndungsmaßnahmen", bestätigte Staatsanwältin Frodermann t-online.de. "Zahlreiche Aktenbestandteile unterliegen besonderen Geheimhaltungsvorschriften." In Berlin begründet das die Regierung mit Hinweis auf das Staatswohl.


Am Ende ist sogar unklar, ob der Mann überhaupt noch lebt. Die DDR hat ihn kurze Zeit nach seiner Flucht 1981 in den Libanon ausreisen lassen. Er wäre heute 80 Jahre alt. Frodermann sagt dazu: "Aus den Akten ergeben sich gewisse Hinweise auf einen möglichen Tod im Libanon/Nahen Osten, bei denen es sich aber nicht um belastbare Erkenntnisse, sondern letztlich nur um Vermutungen handelt." Auch aus Stasi-Unterlagen geht hervor, das Albrecht schon in den frühen Achtzigerjahren durch die PLO ermordet worden sein könnte. Sicher war sich die DDR-Staatssicherheit da allerdings nicht.

Verwendete Quellen
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