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Messerattacken: Migranten schritten ein – sind sie furchtloser?


Sechs Fälle von Zivilcourage
Migranten als Retter bei Bluttaten: Sind sie mutiger?


Aktualisiert am 28.05.2025 - 21:13 UhrLesedauer: 6 Min.
Muhammad al Muhammad: Der Afghane stoppte die Messerangreiferin vom Bahnhof und steht damit in einer Reihe von Geflüchteten, die bei Bluttaten einschritten.Vergrößern des Bildes
Muhammad al Muhammad: Der Afghane stoppte die Messerangreiferin vom Bahnhof und steht damit in einer Reihe von Geflüchteten, die bei Bluttaten einschritten. (Quelle: privat)
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Hamburg, Aschaffenburg, Siegen, Mannheim, Würzburg: Bei vielen der Angriffe der vergangenen Zeit waren es Migranten, die einschritten. Wer sind diese mutigen Menschen? Und warum griffen ausgerechnet sie ein und nicht andere?

Gewalterfahrungen, sehr traditionelle Männlichkeitsnormen: Davon ist oft die Rede, wenn Migranten schwere Straftaten begehen. Einige Nationalitäten sind dabei überrepräsentiert. Das liegt zum Teil daran, dass der Anteil der Männer aus diesen Ländern im "kriminologisch relevanten" Alter höher ist als in der überalterten deutschen Bevölkerung. Ein weiterer Grund ist, dass sie statistisch häufiger in schwierigen sozialen Verhältnissen und an Brennpunkten leben. Und immer wieder ist eben auch von kulturellen Gründen die Rede, davon, dass die Täter aus Gesellschaften stammen, in denen traditionelle, gewaltbereite Männlichkeitsbilder dominieren.

Das alles könnte aber auch eine Rolle spielen, wenn Migranten die Retter in der Not sind. Denn häufig sind es auch nach Deutschland Geflüchtete, die sich mit Messern bewaffneten Angreifern entgegenstellen, die Amoktäter verfolgen und zu Helden werden. Zuletzt waren es ein Afghane und ein Tschetschene in Hamburg, die eine mutmaßlich psychisch kranke Deutsche stoppten, als diese wahllos am Bahnsteig auf Menschen einstach.

Diese Beobachtung hat auch der Sozialpsychologe Dieter Frey gemacht. Der Professor ist Leiter des Center for Leadership and People Management der LMU München und einer der renommiertesten Forscher zu Zivilcourage und Entscheidungsprozessen: "Mir ist aufgefallen, dass insbesondere Männer mit Migrationshintergrund häufiger eingreifen und in Konfliktsituationen mutiger auftreten", sagt er.

Sechs Fälle machen greifbar, was sich dahinter verbergen kann.

  • Hamburg, Messerattacke an Gleis 14: Täterin am 23. Mai 2025 war die 39-jährige Deutsche Lydia C. Die Männer, die sie aufhielten, waren der aus Afghanistan stammende Muhamad al Muhammad und ein bislang öffentlich nicht bekannter Tschetschene. Lydia C. – in den vergangenen Jahren regelmäßig in psychiatrischer Behandlung – stach auf dem belebten Bahnsteig zwischen den Gleisen 13 und 14 wahllos auf Menschen ein und verletzte 15 Personen, einige davon schwer. Es hätten noch mehr sein können: Doch als die Menschen in Panik wegrannten, lief Muhamad al Muhammad in Richtung der Täterin. Der Tschetschene trat Lydia C. ins Knie, brachte die Frau zu Boden, al Muhammad warf sich auf sie und hielt sie fest, bis Polizisten übernahmen. Bekannt wurde er, weil er dem "Spiegel" von seinem Eingreifen erzählte und dem Magazin ein Foto von sich gab.
  • Mannheim, Amokfahrt am Rosenmontag: Der Täter am 3. März 2025 war der 40-jährige Deutsche Alexander Sch., der Mann, der ihn stoppte, der aus Pakistan stammende Taxifahrer A. Muhammad. Alexander Sch. war mit hoher Geschwindigkeit gezielt in die Menschenmenge am Fastnachtsmarkt in der Mannheimer Innenstadt gefahren, er tötete dabei zwei Menschen, 14 weitere verletzte er. Als Muhammad das mitbekam, fuhr er hupend vom Taxistand los und folgte dem Amokfahrer. In einer Sackgasse verstellte er ihm den Weg. Alexander Sch. stieg aus dem Auto, zog eine Waffe und zielte auf Muhammad. Der floh zunächst, kehrte aber nach wenigen Schritten um – um den Schlüssel aus seinem Taxi abzuziehen, damit Alexander Sch. nicht mit seinem Wagen fliehen konnte. All das habe er getan, weil für ihn als Muslim Eingreifen selbstverständlich sei, sagte Muhammad später bei einer Ehrung. Er gehört der in Pakistan verfolgten Religionsgemeinschaft Ahmadiyya an. Alexander Sch. hat Verbindungen in die Neonazi-Szene, die Tat soll aber nicht politisch motiviert gewesen sein, sondern die Folge einer psychischen Erkrankung.
  • Aschaffenburg, Angriff auf eine Kindergartengruppe: Der Täter war am 22. Januar der Afghane Enamullah O.; verfolgt wurde er vom Somalier Ahmed Mohamed Odowaa.* In einem Park hatte der 28-jährige O. Kindergartenkinder mit einem Messer angegriffen, dabei eine Zweijährige getötet und einen Jungen schwer verletzt. Auch den Familienvater Kai-Uwe Danz, der ihn stoppen wollte, stach er nieder. Odowaa rannte zum Tatort. Gemeinsam mit einem Syrer und einem Deutschen verfolgte er den Angreifer. Odowaa konnte dabei per Handy die Polizei zum Täter lotsen. Trotz persönlicher Dankesworte von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) drohte dem Somalier später die Abschiebung. Eine Petition wurde gestartet – die Behörden erklärten schließlich, alles sei nur ein Missverständnis gewesen. Seine Duldung wurde verlängert, er bekam eine Arbeitserlaubnis. Der Täter, Enamullah O., war ausreisepflichtig, vor der Tat wegen mehrerer Delikte polizeibekannt und mehrfach vorübergehend in einer Psychiatrie untergebracht.
  • Siegen, Messerattacke im Bus zum Stadtfest: Täterin am 30. August 2024 war die psychisch erkrankte 32-jährige Deutsche Lisa C., drei muslimische Frauen und ein Syrer stoppten sie. In einem voll besetzten Shuttlebus, der zum Stadtfest fuhr, hatte Lisa C. versucht, möglichst viele Menschen mit einem Messer zu töten. Sie hatte sich akribisch vorbereitet und wollte im Bus zuerst die kräftigen Personen ausschalten. Eine junge Kosovarin stellte sich ihr aber entgegen, bekam von ihrer Schwägerin, einer Deutsch-Kosovarin, sowie einer weiteren Frau mit deutscher und serbisch-montenegrinischer Staatsangehörigkeit Hilfe. Ein Syrer überwältigte die Frau dann endgültig. Drei lebensgefährlich Verletzte konnten so noch gerettet werden. Die drei Frauen (damals 25, 30 und 22 Jahre alt) und der 25-jährige Syrer wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geehrt – weil sie das so wollten. Lisa C. wurde wegen versuchten Mordes in drei Fällen und gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.
  • Mannheim, tödliche Stiche bei Anti-Islam-Kundgebung: Täter am 31. Mai 2024 war der Afghane Sulaiman A., tragischer Held wurde der Iraker Youssuf Hanash (Name zu seinem Schutz ein Pseudonym). Als der als Islamhasser bekannte Rechtspopulist Michael Stürzenberger auf dem Mannheimer Marktplatz eine Kundgebung vorbereitete, stürzte sich der Islamist Sulaiman A. mit einem Messer auf ihn. Hanash, ein christlicher Kurde, war da gerade auf dem Weg, um einen Anzug für eine Kommunion abzuholen. Er sah die Attacke, griff ein und rang den Täter zu Boden. Ein Deutscher (43), der ebenfalls einschritt, schlug im Durcheinander ausgerechnet auf Hanash ein. Der Täter konnte sich daraufhin befreien, stach Hahnash in den Rücken und verletzte den hinzugekommenen Polizisten Rouwen Lauer tödlich. Im Prozess gegen A. sagte Hanesh aus: "Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um dann in so einer Situation nichts zu machen." Er berichtete zugleich, dass er heute unter psychischen und physischen Probleme leide und arbeitsunfähig sei. Seine Anwältin hat eine Spendenkampagne gestartet.
  • Würzburg, tödliche Messerstiche im Kaufhaus: Der Täter am 25. Juni 2021 war der Somalier Abdirahman Jibril A. Gestoppt wurde er unter anderem vom Iraner Chia Rabiei. A., damals 23 Jahre alt, hatte in einem Kaufhaus drei Frauen erstochen und sieben weitere Menschen dort und anschließend auf der Straße verletzt. Der Taxifahrer Raiei stellte sich A. in den Weg und hielt ihn mithilfe seines Rucksacks in Schach. Auch andere schritten ein: Hossein Moradi aus dem Iran, Ahmed Hirsi Mohamed aus Somalia und der Deutsche Peter Thoma-Vogt eilten mit Stühlen und Besen zu Hilfe. So retteten sie vermutlich mehreren Menschen das Leben. Sie alle wurden später dafür geehrt. A. wurde später im Prozess wegen paranoider Schizophrenie als schuldunfähig eingestuft und unbefristet in die Psychiatrie eingewiesen. Der zum Christentum konvertierte Kurde Rabiei erhielt im September 2022 einen Abschiebebescheid, klagte erfolgreich dagegen und musste nicht zurück in den Iran.

Dieter Frey von der Ludwig-Maximilian-Universität sieht eine Vielzahl von Gründen, warum Migranten in kritischen Situationen auffällig oft Hilfe leisten. Viele dieser Menschen hätten in ihrem bisherigen Leben häufiger persönliche Erfahrungen mit Ungleichbehandlung, Diskriminierung, verbaler oder sogar physischer Aggression gemacht. "Das macht sie oftmals sensibler für solche Situationen und befähigt sie, sich besser in andere hineinzuversetzen."

Die Sozialisation spiele ebenfalls eine große Rolle: "In vielen Kulturen wird von Männern erwartet, Stärke zu zeigen und sich durchzusetzen. Das kann dazu führen, dass sie sich im Durchschnitt sicherer fühlen, wenn es darum geht, in potenziell gefährlichen Situationen einzugreifen."

In Familien mit Migrationsgeschichte tausche man sich auch häufiger darüber aus, wo man wieder benachteiligt oder ungerecht behandelt wurde – und wie man sich beim nächsten Mal besser zur Wehr setzen kann. "Daraus entsteht bei vielen jungen Männern die Überzeugung: 'Ich muss mich wehren, sonst gehe ich unter.'" Das Empfinden, sich behaupten zu müssen, könnte auch zu selbstständigerem Handeln führen: "Dafür spricht, dass Menschen mit Migrationshintergrund auch oft Gründer von Start-ups sind."

Deutsche ohne Migrationshintergrund seien jedoch nicht per se weniger mutig, so Frey. "Möglicherweise nehmen sie sich aber selbst in solchen Situationen weniger als potenziell betroffen wahr. Es fehlt dann an eigener Betroffenheit oder Erfahrung mit Bedrohung."

*An dieser Stelle stand zunächst, Odowaa habe den Täter gestoppt. Richtig ist, dass er ihn bis zur Festnahme durch die Polizei verfolgt hat.

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