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20 Jahre nach der ICE-Katastrophe: "Wir bleiben, wenn andere gehen müssen"


20 Jahre Eschede-Zugunglück
"Wir bleiben, wenn andere wieder gehen müssen"

InterviewEin Interview von Nils Husmann

Aktualisiert am 03.06.2018Lesedauer: 4 Min.
Interview
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Luftaufnahme der Unglücksstelle in Eschede: Vor 20 Jahren waren die Belastungen bei Einsatzkräften noch nicht so im Blick wie jetzt.Vergrößern des Bildes
Luftaufnahme der Unglücksstelle in Eschede: Vor 20 Jahren waren die Belastungen bei Einsatzkräften noch nicht so im Blick wie jetzt. (Quelle: Ingo Wagner/dpa-bilder)

Bei Katastrophen kümmern sie sich um Opfer und Helfer – so auch beim Zugunglück vor 20 Jahren in Eschede. Ein Notfallseelsorger beschreibt, wie sich seine Arbeit seitdem verändert hat.

Großeinsätze wie in Eschede sind selten. In den meisten Einsätzen unterstützen Notfallseelsorger Menschen in Krisensituationen. Pastor Joachim Wittchen blickt 20 Jahre nach dem Zugunglück in Eschede am 3. Juni 1998, das 101 Menschen das Leben kostete, hinter die Kulissen einer wichtigen Aufgabe.

Würde die Notfallseelsorge heute anders agieren, wenn sich ein Unglück wie in Eschede wiederholt?

Joachim Wittchen: Ja, einiges würde vermutlich anders laufen. Es gäbe mehr Kräfte am Unfallort, weil alle Organisationen, die mit Notfallseelsorge und Krisenintervention zu tun haben, heute anders aufgestellt sind als vor 20 Jahren. Das heißt aber nicht, dass der Einsatz der Seelsorger in Eschede unprofessionell war, im Gegenteil: Etwa 70 Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakoninnen und Diakone waren dort in der akuten Phase der Rettungs- und Bergungsarbeiten vor Ort. Aber damals waren die psychosozialen Belastungen bei Einsatzkräften noch gar nicht so im Blick wie jetzt. Heute haben wir in der Landeskirche Hannovers 54 Notfallseelsorgesysteme, die in den Kirchenkreisen verteilt sind. Dort arbeiten etwas mehr als 1.000 Menschen mit, davon sind 100 Ehrenamtliche. Die anderen 900 sind Geistliche, Diakone, Pastorinnen oder Pastoralreferenten, die zusätzlich zu ihrem Hauptamt Aufgaben in der Notfallseelsorge übernehmen und im Einsatzfall alarmiert werden – das ist ein flächendeckendes System, das es vor 20 Jahren so noch nicht gab. Dazu kommen noch die Kriseninterventionsteams der Hilfsorganisationen, mit denen wir kooperieren.

Der Interviewpartner: Joachim Wittchen ist Pastor und Beauftragter für Notfallseelsorge in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Im Ehrenamt ist er aktives Mitglied einer freiwilligen Feuerwehr – als Fachberater Seelsorge in der Kreisfeuerwehr Hameln-Pyrmont.

Wann weiß ein Notfallseelsorger, dass er zum Einsatz muss?

Wenn ein Unfall passiert, alarmieren die Leitstellen von Feuerwehr und Polizei die Notfallseelsorge. Dann muss man sich anschauen, was los ist, und entscheiden, ob noch Hilfe benötigt wird. Wenn das so ist, würden Kräfte nachalarmiert – immer in Rückbindung zur Einsatzleitung vor Ort. So baut sich ein Einsatz auf. Im Extremfall kämen bei einer Großschadenslage wie in Eschede nach und nach Notfallseelsorger aus den Nachbarkirchenkreisen an den Unglücksort – auch um erschöpfte Kräfte abzulösen. Aber das passiert zum Glück nur sehr selten. Wir hatten im vergangenen Jahr in unserer Landeskirche 1689 Einsätze für die Notfallseelsorge. In 1.266 Fällen sind wir zu den Menschen nach Hause gegangen. Nur 423 Einsätze waren im öffentlichen Bereich, etwa nach schweren Verkehrsunfällen. Das prägt das Bild der Notfallseelsorge. Die Regel sind Einsätze im innerhäuslichen Bereich.

Wie handelt ein Notfallseelsorger, wenn ein Rettungseinsatz läuft?

Die Rettung der Menschen hat immer Priorität! Kein Notfallseelsorger geht in den ungesicherten Bereich einer Einsatzstelle. Normalerweise wird es so sein, dass man Augenzeugen und Leichtverletzte in einen geschützten Raum bringt. Dort findet man heraus, was die Betroffenen brauchen – mit der Frage, die in der Notfallseelsorge immer am wichtigsten ist: „Was kann ich jetzt für Sie tun?“ An dieser Haltung entscheidet sich viel. Die falsche Aussage wäre dagegen: „Ich weiß, was gut für Sie ist.“ Manchmal treffen wir auf Menschen, die schockiert sind. Eine Ansprache erreicht sie gar nicht. Dann setzen wir uns dazu, sorgen für eine Decke und etwas zu trinken.

Die Katastrophe: Der ICE 884 entgleiste, weil ein Radreifen brach. Am Vorabend des Unglücks war im Münchener Betriebswerk aufgefallen, dass das Rad unrund lief. Es herrschte Zeitdruck, niemand ersetzte es. Der Eschede-Prozess wurde gegen Zahlung von je 10.000 Euro durch drei Angeklagte eingestellt, obwohl der Radtyp vor seiner Einführung 1992 offensichtlich unzureichend getestet worden war.

Was ist bei Einsätzen im innerhäuslichen Bereich geschehen?

So ein Einsatz kann unterschiedliche Gründe haben, der Suizid eines Angehörigen, ein Vermisstenfall, ein Gewaltverbrechen. Oft ist ein Mensch tödlich verunglückt oder plötzlich unterwegs verstorben. Die Polizei überbringt die Todesnachricht an Angehörige. Viele Polizeidienststellen holen sich dafür die Unterstützung der Notfallseelsorge. Auch das geht über die Leitstelle, sie ruft den diensthabenden Notfallseelsorger an, der meldet sich bei der Polizeidienststelle. Dort gibt es meist eine kurze Besprechung. Dann macht man sich gemeinsam auf den Weg. Idealerweise sind die Rollen klar verteilt: Die Polizei überbringt die Todesnachricht und vermittelt die wichtigsten Sachinformationen: Was ist passiert? Wo ist der Verstorbene? Was lässt sich über den Unfallhergang sagen? Nach einer gewissen Zeit fährt die Polizei wieder. Dann setzt die eigentliche Betreuung ein. Der Notfallseelsorger kann bleiben, wenn andere wieder gehen müssen.

Was machen Sie dann?

Wir arbeiten in einem methodischen Dreischritt, der uns sehr hilft. Als Erstes wollen wir die Menschen stabilisieren – ganz einfach dadurch, dass man nicht weggeht, dass man fragt, was die Menschen brauchen. Die zweite Phase ist die Orientierungsphase. Es geht für die Angehörigen darum zu realisieren, was überhaupt geschehen ist. Nichts ist mehr so, wie es vor einigen Minuten noch war. Das zu verstehen, braucht Zeit. Dann: Was sind die nächsten Schritte? Angehörige anrufen, Freunde benachrichtigen, den Bestatter informieren – dabei helfen wir. Im dritten Schritt unterstützen wir den Betroffenen, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren. Wenn Familienangehörige und Freunde kommen, ist unser Einsatz fast zu Ende.

Eben noch saß eine Notfallseelsorgerin am Schreibtisch, nun steht sie vor einer Familie, die jemanden verloren hat. Das muss belastend sein. Wer hilft Ihnen, den Helfern?

Wir haben Kolleginnen und Kollegen. Das ist das Wichtigste. Wir gehen zwar meistens allein in den Einsatz. Das ist auch so gewollt, weil das, was wir hören, unter das Seelsorgegeheimnis fällt. Ich hatte vor zwei Jahren einen Einsatz, der sehr schwierig für mich war. Unmittelbar danach habe ich einen Kollegen angerufen: Ich muss reden, nicht irgendwann, jetzt! Das haben wir gemacht, zwei Stunden lang. Was unsere Notfallseelsorger nicht machen sollten: ihre Familien nutzen, um unbearbeitete Ereignisse zu verarbeiten. Meine Frau weiß, wenn ich im Einsatz bin. Sie fragt hinterher auch, wie es mir geht. Aber sie muss nicht jedes Detail wissen. Dafür sind andere da. In unserer Landeskirche bietet der pastoralpsychologische Dienst Supervision und Coaching an. Die Notfallseelsorge ist inzwischen Teil des Zentrums für Seelsorge, was in der Nachbereitung vieles erleichtert. Wir haben ein großes Netzwerk, auf das wir zurückgreifen können.

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Die Bindung der Menschen zur Kirche lässt nach. Spüren Sie das?

Nein, im Einsatz nicht. Ich bin vor kurzem bei einer muslimischen Familie gewesen, und auch dort ging es darum, dem Nächsten ein Nächster zu sein. Die Notfallseelsorge ist ein Angebot der Kirchen für alle Menschen, unabhängig von Konfession und Religion. Wenn mich die Leute fragen, woher ich komme, sage ich: Ich bin Pastor, ich komme von der Kirche. In fast 20 Jahren habe ich es nur ein einziges Mal erlebt, dass jemand sagte: „Mit Kirche kann ich nichts anfangen, gehen Sie bitte!“ Der Normalfall ist eine Dankbarkeit, dass überhaupt jemand da ist. Manchmal werde ich auch auf Glaubensfragen angesprochen. Oder darum gebeten, mit den Menschen ein Vaterunser zu sprechen.

Das evangelische Magazin chrismon ist eine Zeitschrift der evangelischen Kirche und liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen – unter anderem Die Zeit, Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Leipziger Volkszeitung sowie Dresdner Neueste Nachrichten – bei. Das Monatsmagazin kommentiert das aktuelle Geschehen in Politik und Kirche, erklärt Religion in moderner Kunst, bewertet Gottesdienste – und konzentriert sich auf Themen für Menschen, die mitten im Leben stehen. Die erweiterten Ausgabe chrismon plus ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Weitere Informationen zum Thema Notfallseelsorge nach dem Zugunglück in Eschede finden Sie hier.

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