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Klimakrise: Die Schuld der Alten


Die Schuld der Alten

Von Florian Harms

Aktualisiert am 22.11.2022Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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US-Präsident Biden, Indiens Premier Modi: Halbherziger Klimaschutz.Vergrößern des Bildes
US-Präsident Biden, Indiens Premier Modi: Halbherziger Klimaschutz. (Quelle: Dita Alangkara/Reuters)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat schon der alte Marx gewusst: Unsere Entscheidungen werden nicht in erster Linie durch unseren Intellekt geprägt, sondern durch unsere Lebenswelt. Selbst der größte Visionär ist letzten Endes ein Produkt seiner Umwelt und sein Antrieb bestimmt von der Gesellschaft, in der er sich bewegt. Weil das so ist, erkennen wir Menschen die wahre Dimension globaler Herausforderungen meistens erst dann, wenn es fast schon zu spät zum Reagieren ist: Wir schlittern fröhlich in die Krise hinein, weil sich das Leben halt gerade noch recht angenehm anfühlt – selbst wenn sich am Horizont bereits dunkle Wolken ballen.

Der dialektische Materialismus, mit dem Karl Marx das menschliche Sein, Streben und Scheitern erklärte, hat allerdings Schwächen. Die auffälligste liegt in der Lebenszeit: Wer länger auf dem Planeten wandelt, verhält sich anders als jemand, der erst kürzlich angekommen ist. Anders gesagt: Junge Menschen machen nicht nur andere Erfahrungen als alte. Sie denken und handeln auch aus einer ganz anderen Perspektive.

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Aha, denken Sie nun vielleicht, na und? Bevor also dieser Text in ein soziologisches Proseminar ausartet, stellen wir ihn lieber vom Kopf auf die Füße und schnappen uns ein handfestes Beispiel. Das macht das Ganze anschaulicher. Dafür braucht es erstens ein Thema, das alle Menschen etwas angeht, und zweitens handelnde Akteure.

Beides ist in bewegten Zeiten wie diesen schnell zu finden. Die Erderhitzung und ihre Folgen sind nach einhelliger Meinung der Wissenschaft die größte Herausforderung, der sich der Homo sapiens je gegenübersah: jahrelange Dürren und Wassermangel hier, Anstieg des Meeresspiegels und Überschwemmungen dort, Artensterben überall, Stürme, Orkane und Tsunamis. Es wird rund um den Globus immer ärger. Wir sind drauf und dran, die Lebensgrundlagen für Milliarden Menschen, Tiere und Pflanzen zugrunde zu richten, und die soeben beendete Weltklimakonferenz in Ägypten hat einmal mehr gezeigt, dass wir noch nicht einmal dann entschlossen umsteuern, wenn wir die Katastrophe bereits am Horizont erkennen können: Das 1,5-Grad-Ziel ist de facto nicht mehr zu erreichen, unser Planet wird sich sehr viel stärker erhitzen, mit brutalen Folgen.

Frustriert vom enttäuschenden Gipfelergebnis stellen die europäischen Staaten China, Russland und Saudi-Arabien an den Pranger: Die fördern und fackeln einfach weiter Öl und Gas ab, Frechheit! Der deutsche Klimaforscher .

Was man in Europa hingegen nicht so gern dazusagt: Dass auch Deutschland, Frankreich, Italien und der Rest der scheinheiligen Samariterstaaten wieder auf fossile Energie setzen. Sie baggern wieder mehr Kohle, bauen Flüssiggasterminals, erschließen neue Gasfelder vor der Küste Afrikas, verfehlen ihre Klimaziele. Statt die Frage zu stellen, welche Produkte, Dienstleistungen und Annehmlichkeiten in Zeiten knapper Energie verzichtbar sind, tun sie alles, um die zerstörerische Überflussgesellschaft am Leben zu erhalten. So haben sie ihre Glaubwürdigkeit bei den Schwellenländern im Rekordtempo zerstört, da helfen auch Frau Baerbocks Krokodilstränen nicht.

Warum ist das so? Warum bekämpfen Politiker die eine Krise (den Energiemangel), indem sie die andere Krise (die Erderhitzung) noch viel schlimmer machen? Die Entscheidungsträger auf dem Gipfel in Scharm el-Scheich und in den Regierungszentralen in Washington, Berlin, Peking, Delhi, Moskau, Tokio, Paris und so weiter sind nicht willens oder nicht fähig, die größte Bedrohung unserer Zivilisation abzuwenden. Oder wenigstens entschlossene Schritte zu unternehmen, um die Bedrohung so weit einzudämmen, dass das Zusammenleben von mehr als acht Milliarden Menschen und der Natur auch in 15, 25, 50 Jahren noch stabil, harmonisch und berechenbar bleibt.

Sie entscheiden nicht lang-, sondern nur kurzfristig. Sie ziehen nicht die Notbremse, sondern streiten darüber, wer als Erster den Fuß vom Gas nehmen und wer dafür wem wie viele Dollars rüberschieben soll. Zeitgleich demonstrieren auf den Straßen junge Menschen, starten Klimaaktivisten fragwürdige Protestaktionen mit Klebstoff auf Straßen oder Farbe in Museen und sehen sich prompt geballter öffentlicher Empörung ausgesetzt: Drehen die jungen Leute jetzt völlig durch?

Dabei ist es ganz einfach: Man kann die Protestaktionen von Klimaaktivisten mit Fug und Recht verurteilen – aber nur dann, wenn man die Aktionen der älteren Damen und Herren, die in Regierungszentralen und auf Gipfeln hocken, nach demselben Maßstab beurteilt. Und da muss man leider sagen: Sie sind keinen Deut besser. Durch die kollektive Weigerung, die Erderhitzung endlich entschlossen aufzuhalten, versündigen sich die Politiker am Leben von Abermillionen jüngeren Menschen. Das tun sie natürlich nicht aus Böswilligkeit. Sondern weil sie eben älter sind – und damit sind wir wieder beim alten Marx und seinem berühmten Wort vom Sein, das das Bewusstsein prägt.

Joe Biden, der nach vorherrschender Meinung mächtigste Mensch der Welt, ist soeben 80 Jahre alt geworden. Selbst wenn man ihm noch viele weitere Lenze gönnt, mehr als 15 werden es nach menschlichem Ermessen wohl nicht werden. Xi Jinping ist bald 70, auch er kann sich seine verbleibende Zeit hienieden ausrechnen. Frank-Walter Steinmeier, der als Bundespräsident kürzlich eine viel beachtete Rede hielt und dabei den Klimaschutz beiläufig streifte, wird im Januar 67. Indiens Regierungschef Narendra Modi ist 72, Wladimir Putin 70. Im Vergleich dazu wirkt Olaf Scholz mit seinen 64 Jahren fast wie ein Jungspund, hat die Mitte seines Lebens jedoch ebenfalls bereits deutlich überschritten.

Alle diese und viele weitere ältere Männer haben als Regierungschefs oder politische Autoritäten großen Einfluss auf die Entscheidung, ob die Menschheit die Klimakrise bewältigt oder dies wenigstens ernsthaft versucht. Und allesamt scheitern sie bislang an dieser Aufgabe, weil sie das Problem nur als eines unter vielen betrachten, andere Dinge wichtiger nehmen oder sich selbst und ihren Landsleuten keine allzu großen Entbehrungen zumuten wollen. Für die Verzweiflung und die Wut der jungen Leute auf den Straßen haben sie im besten Fall ein paar joviale Sätze übrig, im schlechtesten schlagen sie mit Präventivhaft (Bayern) oder Knüppeln (China, Russland) zu.

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Nun sollte man sich hüten, einen Demokraten wie Olaf Scholz vorschnell in einen Topf mit einem Diktator wie Xi Jinping zu werfen, doch in diesem Fall ist die Parallele augenfällig: Alle genannten Senioren werden die schlimmsten Folgen der menschengemachten Klimakrise nicht mehr selbst erleben. Wenn jahrelange Dürren, Hungersnöte, Überflutungen, ständiges Extremwetter und Massenmigration das Leben nicht nur in Ostafrika und Pakistan, sondern in weiten Teilen der Erde zu einem täglichen Kampf machen werden, haben sie das Zeitliche längst gesegnet. Deshalb tun sie heute so wenig gegen die Klimakrise: Sie empfinden diese nicht als Problem, das ihre eigene Existenz bedroht. Sie sind nicht persönlich berührt.

Anders die jungen Leute, die immer verzweifelter an unsere Entschlossenheit appellieren: Die wissen, dass sie noch jahrzehntelang auf dem Misthaufen leben müssen, der mal ein intakter Planet war. Auch sie werden irgendwann alt sein. Hoffentlich haben wenigstens sie dann so viel gelernt, dass sie den alten Marx endlich widerlegen können.


Grüner Haushalt

Auch Umweltministerin Steffi Lemke hat aus ihrer Enttäuschung über die lauen Kompromisse bei der Klimakonferenz in Scharm el-Scheich keinen Hehl gemacht: "Das Ergebnis der COP27 insgesamt bleibt hinter dem Notwendigen zurück", erklärte die Grünen-Politikerin. "Das ist extrem bitter." Immerhin: Wenn die Ressortchefin heute zu Beginn der Haushaltswoche im Bundestag ihren Etat für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz zur abschließenden Debatte stellt, kann sie mit einem Plus planen. Insgesamt sind in ihrem Geschäftsbereich für das kommende Jahr Ausgaben von 2,45 Milliarden Euro vorgesehen – 280 Millionen Euro mehr als 2022.

Bemerkenswert: Allein für die Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle sind 1,16 Milliarden Euro eingeplant – fast die Hälfte des Gesamtetats.


Entscheidung über Mali-Einsatz

Seit 2013 ist die Bundeswehr in Mali für die UN im Einsatz. Die Mission gilt als gefährlichste der Vereinten Nationen und ist in der Ampelkoalition umstritten. Schließlich ist in dem westafrikanischen Krisenstaat seit vergangenem Jahr eine Militärjunta an der Macht, die enge Beziehungen zu Russland zu pflegt. Zudem hat Frankreich seine Soldaten bereits aus Mali abgezogen, und Großbritannien hat den Truppenabzug angekündigt, was die militärische Ausstattung des Einsatzes stark beeinträchtigt. Heute wollen Kanzler Scholz, Außenministerin Baerbock und Verteidigungsministerin Lambrecht bei einem Spitzentreffen klären, wie es für die Bundeswehr in Mali weitergeht. Das Mandat für bis zu 1.400 Soldaten gilt derzeit bis Mai. Eine Verlängerung ist unwahrscheinlich. Die größte Bedrohung liegt jetzt nicht mehr im Süden, sondern im Osten.


Ein bisschen Glanz in Katar

Heute starten gleich zwei Titelfavoriten ins Fußball-Weltmeisterschaftsturnier: Um 11 Uhr trifft Superstar Lionel Messi mit Argentinien auf Außenseiter Saudi-Arabien (nur im Bezahlfernsehen – aber kostenlos im Liveticker auf t-online). Um 20 Uhr tritt Titelverteidiger Frankreich gegen Australien an (live im ZDF). Zwischendrin kickt Dänemark gegen Tunesien (14 Uhr im ZDF) und Polen mit Robert Lewandowski gegen Mexiko (17 Uhr im ZDF).


Was lesen?

Heute vor 30 Jahren verübten Neonazis den ersten rassistischen Mordanschlag im wiedervereinten Deutschland: In der norddeutschen Kleinstadt Mölln starben drei Menschen, viele weitere wurden schwer verletzt. Mein Kollege Carsten Janz hat den Überlebenden Ibrahim Arslan gefragt, wie er heute auf die Gewalttat schaut – und Erschütterndes erfahren.


Joe Biden ist alt und unbeliebt – und könnte dennoch als sehr erfolgreicher US-Präsident in die amerikanische Geschichte eingehen. Warum, hat Harvard-Professor Karl Kaiser unserem USA-Korrespondenten Bastian Brauns erklärt.


Nix mit Toleranzbinde am Arm des Kapitäns: Die deutsche Fußballnationalelf lässt sich von der Fifa vorführen. Absolut jämmerlich, kommentiert unser Sportchef Andreas Becker.


Was amüsiert mich?

Wenn alte Leute Klimapolitik machen.

Ich wünsche Ihnen einen dynamischen Tag und bitte alle Senioren um Nachsicht, die den heutigen Tagesanbruch als Affront empfinden.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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