Tagesanbruch Das Duell des Jahrhunderts
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
als ich vor gut zwei Wochen nach langer Zeit wieder einmal in Deutschland landete, war ich nicht in Fußballstimmung. Nach drei Jahren als Korrespondent in den USA bin ich nicht nur geografisch, sondern auch sportlich weiter weg. Zwar steigt die Fußball-Euphorie der Amerikaner bei Weltmeisterschaften, vor allem wenn die Frauen spielen. Die Europameisterschaft aber bleibt drüben etwas für Feinschmecker. Auf den vielen Fernsehschirmen in den amerikanischen Sportbars läuft fast nur Basketball, Football, Baseball oder Boxen. Tolle Sportarten, aber eben ganz anders.
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Ich war deshalb erstaunt, wie schnell ich mich bei meinem Aufenthalt hier von der Stimmung in den Straßen Deutschlands anstecken ließ. Ob durch den Rechts-Links-Tanz der Niederländer, den Saxofonisten, der jede Fanmeile zum Kochen bringt, die Dudelsack spielenden Schotten oder Deutsche, die den Fans anderer Länder ihre letzten Biervorräte anbieten und dafür zu Recht gefeiert werden.
Bei allen Problemen, die uns sonst umtreiben: Deutschland macht das wie schon bei der WM 2006 auch bei der EM 2024 wirklich großartig. Wenn jetzt noch der Regen wegbleibt und die deutsche Mannschaft weiterhin so begeistert, ist vielleicht auch ein Sommermärchen wieder drin. Am besten natürlich mit einem Titelgewinn.
Bei dieser tollen Stimmung fällt es mir jetzt fast schwer, zurück nach Washington zu fliegen. Die K.o.-Phase werde ich nur aus der Ferne verfolgen können. Aber auch in den USA beginnt an diesem Donnerstag gewissermaßen die K.o.-Phase. Denn beim ersten TV-Duell im laufenden Präsidentschaftswahlkampf treffen Amtsinhaber Joe Biden und sein Amtsvorgänger Donald Trump zum ersten Mal seit vier Jahren wieder direkt aufeinander.
Es wird ein Jahrhundert-Duell. Nicht, weil die beiden Kandidaten so ungeheuer spannend sind. Sondern, weil so viel auf dem Spiel steht. Auch für uns Europäer. Dieses Duell zwischen Trump und Biden entscheidet mit darüber, welche Richtung die Politik der USA in diesem turbulenten Jahrhundert einschlagen wird.
Das Duell ist der erste Echtzeit-Test der beiden Kandidaten. 90 Minuten lang können die Amerikaner und die ganze Welt ab 21 Uhr Ortszeit (Freitag, 3 Uhr deutscher Zeit) verfolgen, wie sich der 81-jährige Joe Biden gegen seinen 78-jährigen Herausforderer Donald Trump schlägt. Dabei wird es mutmaßlich weniger um Inhalte gehen, als um die sogenannte Performance. Wie schlagfertig ist Joe Biden? Wie tatterig kommt er rüber? Wird Donald Trump wie schon 2020 nach dem Duell an Beliebtheit einbüßen, weil er seinen Kontrahenten wieder zu persönlich angeht?
Ich wage an dieser Stelle eine Prognose: Die Erwartungen an Joe Biden sind gering – und das kann ihm am Ende zugutekommen. Zu deutlich hat die amerikanische Bevölkerung den Eindruck, dass er sich zumindest verhaspeln wird. Wer sich aber an die vergangenen Debatten zwischen Biden und Trump erinnert oder an seine Rede zur Lage der Nation vom Januar dieses Jahres, der ahnt: Wenn es darauf ankommt, kann auch der alte Joe Biden ein begnadeter Redner und kraftvoller Debattierer sein.
Donald Trump hingegen muss sein Temperament einmal mehr bändigen. Rhetorische Ausfälle sollte er sich nicht leisten, wenn er unentschiedene Wählerschichten erreichen will. Das geflügelte Wort "unfit for office" (zu Deutsch: für das Amt ungeeignet) bezieht sich nicht nur auf den gesundheitlichen Zustand eines Kandidaten, sondern auch auf ein angemessenes, präsidiales Auftreten. Es besteht zumindest die Möglichkeit, dass Biden auch dieses Mal wieder von einer Mehrheit der Zuschauer als Gewinner angesehen werden wird.
Seit Tagen jedenfalls trainiert Joe Biden auf dem berühmten Landsitz der US-Präsidenten, in Camp David. Es dürfte einer seiner wichtigsten Wahlkampfauftritte in diesem Jahr sein. Würde sein Wahlkampfteam das Duell nicht als Chance sehen, hätte es die Debatte nicht vorgeschlagen.
Weil Biden in vielen entscheidenden Bundesstaaten hinter Trump liegt, muss er jede Möglichkeit nutzen, um sich zu beweisen. Über das Rhetorik-Training von Biden in Camp David macht sich Trump bereits lustig und wirft seinem Gegner vor, sich dort heimlich "fitspritzen" zu lassen. Selbst einen Drogentest forderten Trump und einige Republikaner im Kongress deshalb schon.
Diese erste von zwei Debatten, die so früh wie noch nie angesetzt ist, wird in den CNN-Studios von Atlanta stattfinden, im relevanten "Swing State" Georgia. Darum werde ich nach einer kurzen Nacht von Washington gleich in die Stadt von Coca-Cola und CNN weiterfliegen, um für Sie ganz nah dabei zu sein. Seit Wochen laufen die Vorbereitungen für dieses mediale Superevent. Die Übertragungstrucks zahlreicher Fernsehsender stehen bereits vor Ort, der Secret Service, also der Sicherheitsdienst, der sowohl für Präsident Biden als auch für Ex-Präsident Trump zuständig ist, hat die Gegend längst auf den Kopf gestellt und Journalisten überprüft.
So nah wie bei diesem Termin wird man den beiden Kandidaten in diesem Wahlkampf nur selten kommen. Zwar sind im TV-Studio weder Publikum noch Medienvertreter anwesend. Aber unmittelbar nach der Debatte begeben sich Trump, Biden und ihre Berater in den sogenannten Spin-Room. Dort stellen sie sich bewusst vor die Kameras und Mikrofone der Journalisten, um uns ihren "Spin" mitzugeben. Das heißt, sie werden ihre Sicht auf das Duell, den Gegner und ihre eigene Performance betonen, damit die Medien-Botschaften des Abends in ihrem Sinne ausfallen. Keine Sorge, ich mache mir meine ganz eigenen Gedanken.
Die Relevanz solcher TV-Duelle ist seit Jahren umstritten. Sie sind laut Studien nicht unbedingt wahlentscheidend. Aber immerhin schaut bis zu einem Drittel der rund 350 Millionen Amerikaner zu. Und ein bis zwei Prozent der Zuschauer lassen sich vom Ausgang der Debatte beeinflussen. Angesichts der derzeit knappen Umfragewerte und wegen der historisch einmaligen Paarung dürfte es dieses Mal also auf diesen Auftritt ankommen.
Bedeutung entsteht aber nicht nur im TV-Studio und im "Spin-Room" hinter den Kulissen. In Zeiten von Social Media und den PR-Armeen der jeweiligen politischen Lager werden schon während des laufenden Duells jene Videoschnipsel verbreitet werden, die den jeweils anderen Kandidaten besonders schlecht aussehen lassen. Wir können davon ausgehen, dass wir Bidens Stottern und jedweden Aussetzer in Dauerschleife sehen werden. Sollte Trump lügen oder ausfällig werden, dürfte das die Gegenseite zum Anlass für ihre Online-Häme nehmen.
Neben Auftritt und Wirkung wird es bei der Debatte natürlich auch um die politischen Inhalte gehen. Spannend wird zu sehen sein, wie Joe Biden auf die wahrscheinlichen Vorwürfe Trumps in Bezug auf Migration und Kriminalität eingehen wird. Insbesondere beim Thema Inflation sollte Joe Biden spätestens jetzt eine Idee haben, wie er die für jeden Bürger seit Jahren spürbaren Preissteigerungen zu dämpfen gedenkt. Wie Trump sich als verurteilter Straftäter aus der Affäre ziehen will, dürfte ebenfalls ein Höhepunkt dieser Debatten-Nacht werden.
Die Ansätze von Trump und Biden sind gerade außenpolitisch betrachtet grundverschieden. Der eine steht für Isolationismus und die Macht des Stärkeren. Der andere steht für Kooperation und mehr Augenhöhe. Angesichts der zahlreichen Krisen in der Welt, von der Ukraine über Taiwan bis in den Nahen Osten, von denen wir gerade auch in Deutschland enorm betroffen sind, sollten wir also ganz genau hinschauen, wer nach diesem Debatten-Donnerstag die Nase vorn haben wird.
Gegen Falschinformation
Nicht erst seit Donald Trump wissen wir: Die Debatte darüber, wie wir individuell und als Gesellschaft mit Desinformation umgehen sollten, ist in vollem Gange. Bis zum 2. Juli ist ganz Deutschland aufgerufen, über 28 Maßnahmenvorschläge des Bürgerrates "Forum gegen Fakes" abzustimmen. Nach knapp zwei Wochen haben sich bereits über 195.000 Menschen beteiligt.
Jetzt ist die breite Öffentlichkeit gefragt. Was denkt Deutschland über die Handlungsempfehlungen des Bürgerrats? Hier können Sie mitmachen und abstimmen.
Was steht an?
Spielfrei: Die Fußball-EM ist noch lange nicht vorbei. Aber heute ist tatsächlich der erste spielfreie Tag. Weiter geht es erst am Samstag: Zuerst mit der Schweiz gegen Italien (18 Uhr) und anschließend spielt Deutschland gegen Dänemark (21 Uhr).
Die EU sortiert sich: Auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs soll auch formal die Einigung auf das neue Spitzenpersonal festgezurrt werden. Zusätzlich wird der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Brüssel erwartet.
Die neue Staatsbürgerschaft: Wer aus dem Ausland nach Deutschland zieht, kann ab heute schneller einen deutschen Pass erhalten. Einbürgerungen sind damit schon nach fünf statt bisher acht Jahren möglich, bei "besonderen Integrationsleistungen" sogar nach drei Jahren. Auch Mehrstaatigkeit wird zugelassen.
Lesetipps
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj entlässt mitten im Krieg einen führenden General. Was dahintersteckt, erklärt Ihnen Patrick Diekmann.
Die AfD will in Brüssel eine neue Fraktion gründen. Doch die Liste der möglichen Partner ist kurz – und voll mit Radikalen. Für die Partei ist das ein Problem, schreibt meine Kollegin Annika Leister.
Immer wieder verschwinden in Deutschland Kinder. Zuletzt bewegte der Fall von Arian aus Niedersachsen viele Menschen. Das Handy könnte bei der Suche helfen, schreiben meine Kollegen Simone Rafael, Daniel Mützel und Johannes Bebermeier.
In Frankreich erodiert die Mitte und die extremen Parteien schaukeln einander im Wahlkampf hoch. Am Ende könnte der Rechtsextreme Jordan Bardella triumphieren, denn er lässt seine Konkurrenz verblassen, meint unser Kolumnist Gerhard Spörl.
Das historische Bild
Den Aufstand probten 1980 die Gegner der Atomkraft. Sie gründeten eine eigene "Republik". Lesen Sie hier mehr.
Ohrenschmaus
Wenn Sie wissen wollen, wie meine Stimmung bei dieser Fußball-EM ist: Dieses Lied trifft es wohl am besten.
Zum Schluss
Erinnern Sie sich noch?
Haben Sie einen guten Tag!
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa.
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