t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikTagesanbruch

Gaza: Deutschland macht sich mitschuldig


Tagesanbruch
Wer zuschaut, macht sich mitschuldig

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.05.2025 - 08:20 UhrLesedauer: 7 Min.
Palästinenser in Dschabalija im nördlichen Gazastreifen.Vergrößern des Bildes
Palästinenser in Dschabalija im nördlichen Gazastreifen. (Quelle: Jehad Alshrafi/AP)
News folgen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Lage im Gazastreifen ist grauenhaft. Zwischen den Trümmern, die einst Städte waren, liegen Tote und Sterbende, hungern Kinder, gehen unzählige Zivilisten an Verwundungen oder Krankheiten zugrunde. Die israelische Regierung gibt vor, Krieg gegen die Hamas zu führen, nimmt dabei jedoch zigtausend zivile Opfer in Kauf. Allein gestern sollen mehr als 50 Menschen getötet worden sein. Rechtsextremisten in Benjamin Netanjahus Kabinett trachten nach mehr: Sie wollen die Palästinenser nach Ägypten vertreiben, um in Gaza Siedlungen für Siedler zu errichten. "Ethnische Säuberung" nennt man so was.

Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed

Die fürchterlichen Bilder sorgen für Entsetzen rund um den Globus – und verleiten manche Wirrköpfe ihrerseits zu Gewalttaten: Gestern wurde ein israelisches Paar in Washington erschossen, der Mann besaß auch die deutsche Staatsangehörigkeit. "Free Palestine" soll der Täter gerufen haben. In amerikanischen und europäischen Städten skandieren aufgebrachte Demonstranten Parolen gegen Israelis oder gleich gegen Juden und setzen den Feldzug im Gazastreifen mit dem Holocaust gleich. Hasspropaganda nennt man so was.

Besonnene Stimmen dringen kaum noch durch. Auch deshalb, weil sich die Empörung vieler Politiker in routinierten Appellen erschöpft. Da unterscheidet sich Kanzler Friedrich Merz nicht von den Ministern Lars Klingbeil und Johann Wadephul. Als Journalist stellt man fest, dass sich nach anderthalb Jahren Krieg viele Leser für das Drama im Nahen Osten und dessen Hintergründe nicht mehr interessieren. "Let's Dance" und Fußball scheinen wichtiger zu sein. Als ich vergangene Woche in Israel war, durch den zerschossenen Kibbuz Be'eri lief und das Dröhnen der Bomben in Gaza hörte, kam mir der Gedanke, dass es die Betroffenen auf beiden Seiten dieses furchtbaren Konfliktes verdient hätten, rund um die Uhr darüber zu berichten. Nur ist das schwierig, wenn ein Nachrichtenportal auf die Aufmerksamkeit der Leser angewiesen ist. Wenn keiner klickt, lässt sich Journalismus aus Krisengebieten kaum finanzieren.

Das hält mich nicht davon ab, nach den Berichten der vergangenen Woche auch heute im Tagesanbruch noch mal die Lage im Gazastreifen zu beleuchten. Um Ihre womöglich kurze Aufmerksamkeit nicht zu verlieren, möchte ich es in Form eines Gedankengangs tun. Stellen wir uns heute also eine Frage: Lässt sich die Krise in Gaza lösen oder wenigstens lindern – nicht mit Wunschvorstellungen und Postulaten, sondern mit den Mitteln, die Deutschland und seinen europäischen Partnern tatsächlich zur Verfügung stehen?

Der Blick muss nüchtern sein, die Antworten auch. Mit wem ließe sich in Gaza über einen Waffenstillstand verhandeln? Mit der Hamas eher nicht, sie hat sich spätestens seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 als gewissenlose Mörderbande entpuppt. Die Palästinensische Autonomiebehörde wiederum besteht aus einer Riege korrupter Greise, deren Autorität in der Bevölkerung gegen null tendiert. Hilfsorganisationen sind auf die Gnade Israels angewiesen und haben keinen politischen Einfluss.

Auf der anderen Seite sieht es leider nicht besser aus: Auf die Kompromissbereitschaft der aktuellen israelischen Regierung braucht man gar nicht erst zu hoffen. Die rechtsradikalen Minister sind Überzeugungstäter, und Premier Netanjahu kämpft nicht nur um seine politische Zukunft, sondern auch um seine private – da geht es ans Eingemachte. Deshalb hat der Krieger-Club im Kabinett nur zwei Manöver im Programm: vorübergehend ausweichen, wenn der Druck zu groß wird (als US-Präsident Donald Trump kurz mal einen Waffenstillstand verlangte zum Beispiel), und ansonsten weiterballern und das internationale Gezeter überhören.

Auch aus der israelischen Gesellschaft kommt der ersehnte Lichtblick nicht. Sie ist in unzählige Fraktionen gespalten, die sich spinnefeind sind. Natürlich gibt es Kriegsgegner und Regierungskritiker, aber mindestens ebenso groß ist die Zahl der Scharfmacher. Und dann sind da noch die Nationalisten, Ultraorthodoxen und sonstigen Ideologen. Der Wunsch nach der Befreiung aller Geiseln ist das einzige Band, das die Israelis in diesem Konflikt noch zusammenhält.

Der Schlüssel, mit dem die Tür zum Frieden aufgeschlossen wird, müsste Israelis und Palästinensern also von außen gereicht werden. Leider ist der gegenwärtige US-Präsident ein Totalausfall, und die Vereinten Nationen haben gegenüber den Israelis ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Deutschland hat sich selbst die Hände gebunden, doch das müsste nicht so sein. Die deutsche Staatsraison verlangt aus historischen Gründen zu Recht, an der Seite Israels zu stehen. Aus denselben Gründen verlangt sie aber auch, nicht an der Seite von Kriegsverbrechern zu stehen. Das ist das entscheidende Argument. Israels Existenz wird von Gaza aus gegenwärtig nicht mehr bedroht. Deshalb ist es an der Zeit, mit den Tätern von heute zu brechen – und die sitzen in Jerusalem.

Auch deutsche und europäische Interessen sind vom Horror in Gaza betroffen. Es leben Millionen arabische und andere muslimische Einwanderer in Europa, und vielen von ihnen gilt Gaza als Symbol der westlichen Heuchelei: lamentieren, aber stillhalten, wenn die Hautfarbe der Opfer nicht stimmt. Schon die Gräuel in Bosnien in den Neunzigerjahren und die begleitende europäische Untätigkeit haben eine ganze Generation europäischer Muslime radikalisiert und den Terror stark gemacht. Das Grauen in Gaza tut es heute wieder. Diese Erkenntnis muss nicht nur bei Polizisten, Verfassungsschützern und Politikern die Alarmglocken schrillen lassen. Sondern eigentlich bei jedem Bürger. Wir sind keine Zaungäste des Dramas in Gaza, sondern mittelbar Betroffene – hier, zu Hause, bei uns.

Was also tun? Diplomatischer Druck aus Europa hat sich als nutzlos erwiesen, Resolutionen der UN-Vollversammlung auch: Die hagelt es seit Israels Staatsgründung zuhauf, mittlerweile kann man damit die Wände des Außenministeriums am Werderschen Markt tapezieren. In Israel schert sich niemand darum.

Loading...
Loading...
Täglich mehr wissen

Abonnieren Sie kostenlos den kommentierten Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen. Datenschutzhinweis

Was bleibt dann? Es gibt zwei Ansätze, den Preis des Krieges für das israelische Kriegskabinett massiv zu erhöhen und zugleich den vielen Nebenbedingungen Rechnung zu tragen.

Option eins: Umfassende Sanktionen gegen Israel, erst angedroht, dann umgesetzt. Der Krieg belastet die israelische Wirtschaft enorm, Sanktionen tun deshalb weh. Es drohen Arbeitslosigkeit und schmerzhafte Einschnitte im Portemonnaie des Wahlvolkes. Das mag kein Politiker, auch Netanjahu nicht. Einige EU-Länder mit Frankreich an der Spitze versuchen dieses Instrument gegenwärtig zu schärfen, allerdings müssten dafür auch andere mitmachen: die Araber am Golf zum Beispiel, die im Moment so viel in gutes Wetter mit Mister Trump investieren. Der US-Präsident selbst zeigt kein Interesse an Sanktionen, dass die USA mitziehen, ist also nicht zu erwarten. Ob europäische Strafmaßnahmen für sich genommen genug Schaden anrichten oder leicht zu umgehen und bloß bürokratisch lästig sind, lohnt sich zu prüfen.

Bei der zweiten Option muss man harte Bandagen anlegen: Die EU-Staaten könnten bei den Vereinten Nationen ein Mandat für eine robuste Mission in Gaza initiieren. Also keine weißen Landcruiser, sondern gepanzerte Fahrzeuge in Tarnfarbe, die das ihnen zugewiesene Gebiet sichern und gegebenenfalls verteidigen. Mit so einer Mission würde das politische Risiko für Israels Hardliner zum Stoppschild: Auf Blauhelme zu feuern, würde nicht nur die israelische Armee, sondern auch die Regierung in Jerusalem binnen Stunden weltweit isolieren. Das könnte sie kaum durchstehen, sie müsste ihren Soldaten Einhalt gebieten.

Allerdings müssten Europäer Teil dieser Mission sein. Anders als die weltfremde Idee einer europäischen Truppe für die Ukraine vis-à-vis russischer Bataillone wäre das in Gaza durchaus denkbar. Die schwächelnden Armeen der EU-Länder wären dafür sogar bereit: Stabilisierungsmissionen in der Ferne waren bis vor Kurzem die Kernaufgabe der geschrumpften Streitkräfte, etwa in Afghanistan.

Schon richtig: Gefällig ist weder die erste noch die zweite Option. Man beginnt schon, unruhig auf dem Stuhl hin- und herzurutschen, wenn man nur darüber nachdenkt. Einfach umzusetzen sind sie nicht, Erfolg ist auch nicht garantiert. Besser wäre es, wenn schon die Drohkulisse wirkt – aber setzen kann man darauf nicht, denn Netanjahu pokert hoch. Wer sich also darauf einlässt, muss bereit sein, es durchzuziehen.

Die Alternative jedoch ist noch schlechter: Wer angesichts des Grauens in Gaza nicht handelt, kann nur verhandeln – also reden, fordern, zuschauen und hoffen. Was das bewirkt, wissen wir mittlerweile: Es lässt dem Sterben seinen Lauf. Wer aber beim Sterben zuschaut, macht sich mitschuldig. Und womöglich zur Zielscheibe des nächsten Terrors.


Kretschmanns Erbe

Die Konkurrenz hat schon am vergangenen Wochenende vorgelegt: Da wählte die baden-württembergische CDU ihren Vorsitzenden Manuel Hagel mit 272 von 290 gültigen Stimmen zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im März 2026. Der 37-jährige Betriebswirt gilt als Hoffnungsträger der Südwest-Christdemokraten und soll das Ländle vom grünen Dauerministerpräsidenten Winfried Kretschmann zurückerobern. Der tritt nicht mehr an. Gegenwärtig scheinen die Chancen für die CDU nicht schlecht zu stehen: Umfragen sehen sie mit 31 Prozent auf dem ersten Platz, gefolgt von der AfD mit 19 Prozent. Nur noch auf den dritten Platz kämen die Grünen mit 17 Prozent, die SPD läge mit 12 Prozent auf Rang vier.

Das Erbe des beliebten Landesvaters Kretschmann in den eigenen Reihen zu halten, ist dagegen das Ziel von Cem Özdemir. Der 59 Jahre alte "anatolische Schwabe", zuletzt als Landwirtschaftsminister in der Bundespolitik aktiv, will sich morgen auf dem Grünen-Landesparteitag in Heidenheim zum Spitzenkandidaten küren lassen. Und auch wenn der Zeitgeist es gerade nicht gut mit den Grünen meint, kann der Realo-Routinier mit seiner enormen Bekanntheit wuchern: Bei einer Direktwahl würden sich 39 Prozent der Baden-Württemberger für ihn entscheiden und nur 18 Prozent für Hagel. "A gmähds Wiesle" ist der Sieg also wohl für keinen der beiden Bewerber – aber ein umso spannenderer Stimmungstest für Kanzler Friedrich Merz.


Schock in der Schule

Es war wohl ein Streit auf dem Schulhof oder in der Sportumkleide, der in einen Messerangriff mündete: In einer Grundschule in Berlin-Spandau ist gestern ein zwölfjähriger Sechstklässler von einem 13-jährigen Mitschüler schwer verletzt worden. Nach einer Operation im Krankenhaus sei der Zustand des Jungen stabil, teilte die Polizei mit, er sei außer Lebensgefahr. Dass es in diesem Fall offenbar weder ein fremdenfeindliches noch religiöses Tatmotiv gibt, beide Kinder deutsche Staatsangehörige sind und die Schule in einer ruhigen Einfamilienhausgegend liegt, vermag das Entsetzen nicht zu lindern: Wenn Meinungsverschiedenheiten jetzt schon an Grundschulen mit Messern ausgetragen werden, läuft in der Gesellschaft etwas grundsätzlich schief.


Lesetipps

Friedrich Merz hat die neue deutsche Panzerbrigade in Litauen besucht. Unser Chefreporter Johannes Bebermeier war dabei und berichtet von denkwürdigen Szenen.




Ohrenschmaus

Nach einer turbulenten Woche brauche ich etwas Ruhiges. Das hier zum Beispiel.


Zum Schluss

Draußen ist Wetter.

Ob feucht oder trocken: Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter.

Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.

Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier.

Mit Material von dpa.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel


Bleiben Sie dran!
App StorePlay Store
Auf Facebook folgenAuf X folgenAuf Instagram folgenAuf YouTube folgenAuf Spotify folgen


Telekom