Drohnenkrieg in der Ukraine Wendet sich jetzt das Blatt?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russland und die Ukraine kämpfen auch mit Drohnen um die Oberhand im ukrainischen Luftraum. Die Ukraine droht ins Hintertreffen zu geraten. Doch Kiew hat eine Strategie.
In der Nacht zu Mittwoch war wieder viel Bewegung am Himmel über Russland. Dutzende Drohnen flogen von der Ukraine aus in Richtung des Nachbarlands. Schon am Morgen meldete Russland, angeblich 58 der Fluggeräte abgefangen zu haben. Manche trafen aber doch ihr Ziel: 200 Kilometer südöstlich von Moskau schlug mindestens eine Drohne in der Ölraffinerie von Rjasan ein. Die Anlage geriet in Brand, mehrere Menschen wurden verletzt.
So spektakulär und viel beachtet die Drohneneinsätze im Ausland sind, viel häufiger kommen Drohnen direkt an der Front in der Ukraine zum Einsatz. Dort spielen sie mittlerweile eine besondere Rolle. Kristen D. Thompson, eine Expertin der US-Luftwaffe, schreibt für die Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR): "Dieser Konflikt hat die Vorteile von Drohnen auf dem Schlachtfeld gezeigt, die kleiner, tödlicher, einfacher zu bedienen und für fast jeden verfügbar sind."
Angesichts dessen befinden sich die Ukraine und Russland in einem Rüstungswettlauf. Für beide Seiten sind die Waffen unverzichtbar geworden. Längst geht es nicht mehr nur um die Entwicklung neuer Drohnentypen, sondern auch darum, wie man feindliche Drohnen möglichst unschädlich machen kann. Man nennt das elektronische Kriegsführung. Und die Ukraine droht in diesem wichtigen Bereich ins Hintertreffen zu geraten.
Das Blatt im Drohnenkrieg wendet sich
Lange nutzte die Ukraine Drohnen erfolgreich, um fehlende Kapazitäten für Luftschläge oder Munitionsknappheit bei der Artillerie auszugleichen. Jetzt aber wende sich das Blatt, berichtet die "New York Times" über den Drohnenkrieg: "Elektronische Gegenmaßnahmen sind zu einer der stärksten Waffen des russischen Militärs geworden, nachdem man jahrelang an ihren Fähigkeiten gefeilt hat."
Drohnen sind aus dem Krieg nicht mehr wegzudenken. Die unbemannten Kriegsgeräte erfüllen einerseits wichtige nicht-offensive Aufgaben. Sie ermöglichen den Truppen beider Seiten eine beinahe lückenlose Aufklärung der Front; sie können bei der Räumung von Landminen helfen oder überlebenswichtige Güter wie Verbandszeug oder Munition dorthin bringen, wo die Kämpfe besonders erbittert geführt werden.
Doch ebenso häufig bringen Drohnen auf dem Schlachtfeld in der Ukraine den Tod. Mit Sprengstoff beladen können Piloten sie direkt in Ziele hineinsteuern, wo sie dann explodieren. Andere Drohnen sind so konstruiert, dass sie Sprengladungen abwerfen, sich also nicht direkt selbst zerstören. Die weiter entwickelten Systeme sind sogar in der Lage, kleinere Raketen auf ihre Ziele abzuschießen. Neben den bekannten unbemannten Fluggeräten werden Drohnen zudem an Land und zu Wasser eingesetzt. Ukrainische Seedrohnen haben der russischen Schwarzmeerflotte bereits schwere Schläge zugefügt. Mehr dazu lesen Sie hier.
Die Fähigkeiten der Ukraine kommen an ihre Grenzen
Die Ukraine setzt besonders auf handelsübliche Drohnen, die sie für ihre Zwecke umbaut. Sie werden meist mittels spezieller Brillen aus der Ich-Perspektive gesteuert, man nennt sie FPV-Drohnen (First Person View, Englisch für Ich-Perspektive; Anm. d. Red.). Diese Drohnen haben den Vorteil, dass sie relativ gut verfügbar und günstig in der Anschaffung sind.
Ihre Handelsüblichkeit ist jedoch auch ein großer Nachteil: "FPV-Drohnen fliegen auf einer analogen Frequenz, und da viele von ihnen im Laden gekauft werden, sind sie bereits bei der Auslieferung auf dieselbe Frequenz eingestellt", schreibt die "New York Times". Die ukrainischen Soldaten müssten sich also mit der Programmierung auskennen, um die Frequenz in der Software der Drohne zu ändern. Noch mehr setzen ihnen jedoch russische Störsender zu.
Russland hat sich längst auf die ukrainischen Drohnenschwärme eingestellt. Den Kremltruppen gelingt es immer häufiger, die Fluggeräte der Ukraine zu "jammen", also zu stören. Die Piloten verlieren dann die Verbindung zu ihren Drohnen und können sie nicht mehr steuern. Manchmal schaffen es die Russen, die Drohnen so nur wenige Meter vor ihrem Ziel zum Absturz zu bringen.
Russland lässt Drohnen unter Militäraufsicht bauen
Laut "New York Times" sind diese Fähigkeiten Russlands zwar mittlerweile weit entwickelt, entlang der Frontlinie aber ungleich verteilt. Besonders gepanzerte Fahrzeuge seien noch immer verwundbar, weil sie selten mit Störsendern ausgerüstet würden.
Die Drohnenindustrie der Ukraine sei überwiegend privat finanziert, oft durch Crowdfunding-Kampagnen. "Jede Drohneneinheit auf dem Schlachtfeld dient als eine Art Testlabor für neue Technologien, Beschaffung und Kampfeinsätze", schreibt die Zeitung.
Russland hingegen habe seine Drohnenindustrie vor allem unter Aufsicht des Militärs ausgebaut. So sei die Drohnenflotte des Landes berechenbarer und weniger divers in Taktik und Typ geworden. "Aber es hat dem russischen Militär auch ermöglicht, ukrainische Drohnen auf dem Schlachtfeld zu stören, ohne seine eigenen stören zu müssen, indem es die Flugrouten mit den Störsendern koordinierte."
Selenskyj kündigt eigene Drohnenstreitkraft an
Auf ukrainischer Seite gebe es eine solche Koordination nicht. Eine breitere Kommandostruktur zur Koordinierung der Drohneneinheiten an der gesamten Front fehle der Ukraine – und das "führt häufig zu Verwirrung unter den ukrainischen Truppen", so die "New York Times". "Es ist ein dauerhafter Rüstungswettlauf", beschreibt ein Soldat der Zeitung die Bemühungen, die Oberhand im Drohnenkrieg zu gewinnen.
- Ukraine im Drohnenkrieg: Ein neuer Albtraum beginnt
Doch Kiew hat das Problem erkannt: Anfang Februar kündigte Präsident Wolodymyr Selenskyj an, eine eigene Teilstreitkraft der ukrainischen Armee gründen zu wollen, die einzig für den Drohnenkrieg zuständig ist. "Dies ist keine Frage der Zukunft, sondern etwas, das in Kürze zu einem sehr konkreten Ergebnis führen sollte", erklärte Selenskyj. "Dieses Jahr dürfte in vielerlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung sein."
"Zahl der Drohnen, die die Ukraine in Awdijiwka einsetzt, ist unübertroffen"
Das Ausmaß, das der Drohnenkrieg schon jetzt erreicht hat, ist schwindelerregend: Laut "Forbes" hat die Ukraine seit August rund 8.300 FPV-Drohnen gegen russische Truppen eingesetzt. Russland habe im selben Zeitraum gut 6.100 solcher Systeme auf ukrainische Stellungen fliegen lassen. Viele Drohneneinsätze seien zudem gar nicht erst erfasst worden, berichtet die Zeitung.
Besonders häufig kommen die Drohnen demnach im Raum Awdijiwka zum Einsatz. Mitte Februar hat die Ukraine die seit 2014 umkämpfte Stadt im Donbass nach einer erbitterten Schlacht an Russland verloren. Den Ukrainern fehlte es dort vor allem an Artilleriemunition, um der Feuerüberlegenheit Russlands etwas entgegensetzen zu können. Mehr dazu lesen Sie hier. Man versuchte offenbar, das mit Drohnen auszugleichen. "Die Zahl der Drohnen, die die ukrainischen Streitkräfte im Sektor Awdijiwka einsetzen, ist unübertroffen", klagte kürzlich ein russischer Militärblogger. Der Beobachter schätzte, dass die Ukraine dort so viele Drohnen genutzt habe wie Russland Soldaten. Ihre Zahl würde in die Tausende gehen.
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Die ukrainischen Streitkräfte haben nach russischen Angaben die zweite Nacht in Folge mit einer ganzen Reihe von Drohnen mehrere Gebiete in Russland attackiert.
In der russischen Oblast Rjasan ist nach einem mutmaßlichen ukrainischen Drohnen-Angriff eine Ölraffinerie in Brand geraten. Es handelt sich dabei um Russlands zweitgrößte Raffinerie.
Mehrere Menschen seien verletzt worden. Aufnahmen sollen zeigen, wie mehrere Drohnen die Raffinerie angreifen. Explosionen, Feuer und Rauch sind zu sehen.
Mehr als 30 Drohnen sind laut russischen Behörden beispielsweise auch über der Oblast Woronesch abgefangen und zerstört worden.
Über Kursk seien zudem mindestens vier ukrainische Drohnen abgefangen worden. Eine Drohne sei zudem beim Anflug auf eine Ölraffinerie in der weiter im Norden gelegenen Region Leningrad abgeschossen worden.
Die zahlreichen Drohnenangriffe auf Russland erfolgen gleichzeitig mit den Angriffen pro-ukrainischer Milizen auf russisches Territorium.
Mehrere Dörfer in den Regionen Belgorod und Kursk sollen die Gruppen seit Dienstag schon eingenommen haben.
Laut "Forbes" beschafft die Ukraine derzeit rund 50.000 FPV-Drohnen im Monat. Russland soll monatlich sogar zwischen 100.000 und 300.000 dieser Systeme produzieren. Selbst wenn diese Zahlen übertrieben wären: Dass Russland seine Drohnenproduktion massiv hochgefahren hat, ist schon länger kein Geheimnis mehr. Die Frage bleibt jedoch, ob die russischen Streitkräfte in der Lage sind, ihre Systeme so effektiv einzusetzen, wie es die Ukraine zurzeit noch tut.
- nytimes.com: "‘Jamming’: How Electronic Warfare Is Reshaping Ukraine’s Battlefields" (englisch)
- cfr.org: "How the Drone War in Ukraine Is Transforming Conflict" (englisch)
- forbes.com: "In The Hottest Sector Of The Ukraine War, The Ukrainians Might Deploy As Many Drones As The Russians Deploy Soldiers" (englisch)
- atlanticcouncil.org: "Outgunned Ukraine bets on drones as Russian invasion enters third year" (englisch)
- president.gov.ua: "I signed a decree initiating the establishment of a separate branch of forces – the Unmanned Systems Forces – address by the President of Ukraine" (englisch)
- washingtonpost.com: "Ukrainian drones hit Russian oil facility as anti-Kremlin units attack" (englisch)