Streit um Ukraine-Krieg Russland verliert die Nerven
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russland bekommt bei der UN-Generaldebatte heftigen Gegenwind. Trotzdem sendet Wladimir Putin eine Botschaft an die Staaten, die im Ukraine-Konflikt mit ihm verhandeln möchten. Und eine ukrainische Äußerung stiftet Verwirrung.
Aus New York berichtet Patrick Diekmann
Wassili Nebensja hat eine Menge Munition in den Sicherheitsrat mitgebracht. Vor dem russischen UN-Botschafter stapeln sich Akten, Notizen und Vermerke. Er ist Wladimir Putins Prellbock. Derjenige, der auch an diesem Dienstag über sich ergehen lassen muss, wie die Repräsentanten – beinahe aus aller Welt – gegen Russland und Putins Krieg wetterten. In seinen sieben Jahren als Vertreter Putins bei den UN hat er es perfektioniert, teilnahmslos zu wirken. Er stapelt Papiere, liest, blickt zu Boden oder er bearbeitet die Tastatur seines Handys, als sei es sein erstes modernes Smartphone. All das wirkt auf Beobachter fast grotesk. So, als habe Nebensja gar nichts mit Russland zu tun.
Nur einmal verlor Nebensja bei dieser Sitzung des UN-Sicherheitsrates kurz die Contenance. Der britische Außenminister David Lammy kritisierte Putins Imperialismus und sprach dabei so laut, dass er in dem großen Saal auch ohne Mikrofon überall zu hören war: "Wladimir Putin, wenn Sie Raketen auf ukrainische Krankenhäuser abfeuern, wissen wir, wer Sie sind. Ihre Invasion dient Ihrem eigenen Interesse. Nur Ihrem!" Und dann nahm Lammy Nebensja direkt aufs Korn: "Ich wende mich an den russischen Repräsentanten, der an seinem Telefon ist, während ich spreche."
Sichtlich ertappt legte Nebensja sein Telefon beiseite, fing sich dann augenscheinlich wieder, griff erneut danach, um sich dann doch seinen Notizen zuzuwenden. Ein Wirkungstreffer des Briten. Später echauffierte Nebensja sich in seiner Rede über den Imperialismus-Vorwurf, der gerade Großbritannien mit seiner eigenen imperialen Vergangenheit nicht zustehe. Lammy hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Saal verlassen.
Diese Szene steht sinnbildlich dafür, dass die Brücken zwischen Russland und dem Westen fast völlig abgebrannt sind. Die gegenseitigen Vorwürfe sind drastisch, die Mauern der Sturheit sind hoch. Wut klingt immer stärker durch, wenigstens zwischen den Zeilen.
Die Diplomatie steckt in einer Sackgasse. Wladimir Putin hat ausrichten lassen – aus dem fernen Moskau über Nebensja –, dass er kein Interesse an Kompromissen oder gar Frieden hat. Stattdessen verkündete sein UN-Botschafter das wahre Kriegsziel des Kreml-Despoten: den Regimewechsel in der Ukraine. Dafür schießt sich Russland nun umso heftiger auf Wolodymyr Selenskyj persönlich ein.
Russischer Lügensalat
Um das zu erkennen, musste man in Nebensjas Redebeitrag eigentlich nicht zwischen den Zeilen lesen. Er referierte noch einmal das gesamte Potpourri der russischen Kriegslügen.
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Das "Kiewer Regime" – wie Moskau die ukrainische Regierung nennt – sei durch einen "Putsch" an die Macht gekommen. Die Wahrheit ist: In der Ukraine wurde seit der Maidan-Revolution 2014 zweimal gewählt. Der russische UN-Vertreter arbeitete sich dennoch vor allem an Selenskyj ab, der zu diesem Zeitpunkt den Saal bereits verlassen hatte.
Er beleidigte ihn als "Schauspieler" und als "Diktator". Er warf der ukrainischen Führung vor, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken und die russische Identität der Menschen im Donbass ausrotten zu wollen. Russland habe den Krieg ohnehin bald gewonnen, Selenskyj würde in New York lediglich "den starken Mann spielen", obwohl die ukrainische Verteidigung im Osten zusammenbreche und deren Streitkräfte generell kollabierten.
All das ist faktisch falsch, und einige im Saal blickten geradezu amüsiert auf den russischen UN-Vertreter, als ausgerechnet er – als Putins Repräsentant – einer fremden Regierung autoritäre Züge attestierte. An diesem Punkt wurde klar, dass die UN in dieser Debatte über die vergangenen Monate kaum weitergekommen sind. Russland bleibt bei der Mär von einem angeblichen "Nazi-Regime", das die Ukraine regiert. Noch immer will Moskau vor allem russischstämmige Menschen schützen. Man greife gezielt militärische Infrastruktur an und keine Zivilisten. Auch das ist nachweislich gelogen.
Es geht für Russland schon lange nicht mehr darum, einen Gesprächslevel zu finden, auf dem mit dem Westen verhandelt werden kann. Der Kreml möchte sich vor allem als Opfer inszenieren, um selbst mehr internationalen Rückhalt zu bekommen.
Ein Beispiel dafür erlebte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock vor der Sitzung des UN-Sicherheitsrates. Als die Grünen-Politikerin vor dem Gebäude der versammelten Presse ein Statement geben wollte, wurde sie von einem Reporter des russischen Staatsfernsehens bedrängt, der ungeachtet der Situation eine Frage an Baerbock richten wollte und kein "Nein" akzeptierte. Anstatt aber dem Statement der Außenministerin zuzuhören, stellte er sich einen Meter weit weg und erzählte vor der Kamera kurz, dass Baerbock nicht mit ihm sprechen wolle.
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Regimewechsel in Kiew ist russisches Ziel
Das eigentliche Ziel des Sicherheitsrates – Frieden weltweit zu stiften und zu bewahren – ist vor allem deshalb unmöglich zu erreichen, weil ein ständiges Mitglied, gar eine Veto-Macht, einen Angriffskrieg begonnen hat. Das lähmt die ganze Institution. Die Sicherheitsratssitzung am Dienstag diente vor allem der Selbstvergewisserung des Westens, dass Putin noch weitestgehend isoliert ist. Mit Erfolg: Putin erlebte ein verbales Ohrfeigengewitter – Kritik kam von fast allen Teilnehmern.
Es gab dennoch einen Punkt, der in Nebensjas Rede in seiner Deutlichkeit durchaus überraschend kam. Der russische UN-Botschafter meinte: "Wenn das westliche Lager den Krebstumor des derzeitigen Kiewer Regimes nicht friedlich entfernt und wenn Washington weiterhin die Rettung des Landes über alles stellt, wird Moskau seine spezielle Militäroperation fortsetzen, bis seine Ziele militärisch erreicht sind.“ Es gehe Russland nicht um Territorium.
Putins Ziel – so scheint es zumindest – ist also nicht mehr nur die Besetzung der vier Regionen (Oblasten), die Russland im September 2022 völkerrechtswidrig annektiert hat. Es scheint im Gegenteil gar so, dass der Kremlherrscher einen Regimewechsel in Kiew forciert. Experten vermuten das zwar schon länger, aber Putin hat dieses Kriegsziel bislang immer abgestritten.
Damit würde Russland seine Minimalforderung in diesem Konflikt weiter ausbauen und sie auf dem Schlachtfeld umsetzen, und nicht am Verhandlungstisch. Sonst hätte Putins UN-Botschafter die Tür einen Spalt weit geöffnet, aber stattdessen hat er sie mit Anlauf zugestoßen und erneut ein großes Schmierentheater aufgeführt.
Selenskyj überrascht mit Aussage
Mit Debatten wird auch diese UN-Generalversammlung den Ukraine-Konflikt nicht lösen können. Immerhin aber musste sich Putin politisch entblößen, und das schafft vielleicht mehr Rückhalt für die Ukraine von Staaten, die sich beispielsweise gegen westliche Waffenlieferungen und für Verhandlungen aussprechen. Langsam mag mancher begreifen, dass eine starke Ukraine notwendig ist, um Putin dazu zu zwingen, in Verhandlungen einzutreten.
Doch auch Selenskyj überraschte diese Woche mit einer Aussage: Der ukrainische Präsident sagte dem US-Sender ABC: "Ich denke, wir sind dem Frieden näher, als wir denken." Das ist mit Blick auf den Winter und die russischen Geländegewinne im Osten der Ukraine eine gewagte These – und es ist durchaus wahrscheinlich, dass Selenskyj diese Aussage eigentlich nicht ernst gemeint hat.
Zwar will er am Donnerstag im Weißen Haus einen Friedensplan vorstellen, mit dem er Putin an den Verhandlungstisch zwingen möchte. Aber westliche Diplomaten in New York erwarten dabei keine großen Überraschungen.
Und doch war es kein Zufall, dass der ukrainische Präsident ausgerechnet im US-Fernsehen eine sich angeblich abzeichnende Lösung andeutete. Selenskyj weiß, dass die Stabilität der ukrainischen Verteidigung vor allem von der Unterstützung der Amerikaner abhängt, weil die Depots der anderen Nato-Mitglieder relativ leer sind. Er weiß auch, dass der Krieg auch für die USA kostspielig ist, und für viele US-Bürgerinnen und -Bürger weit weg. Deswegen ist Kiews Botschaft nun: Bald ist es geschafft! Nur noch ein Stückchen! Damit aber lehnt sich die ukrainische Führung weit aus dem Fenster. Stand heute ist ein Kriegsende nicht in Sicht.
- Begleitung von Außenministerin Baerbock bei der UN-Generalversammlung in New York
- Eigene Recherche