Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verminung der Nato-Ostflanke Diese Strategie könnte sich noch rächen

Russlands Anrainer verlassen reihenweise den Sperrvertrag gegen Antipersonenminen. Ein Militärexperte warnt vor unabsehbaren Folgen.
Wie effektiv Minenfelder einen militärischen Vorstoß aufhalten können, mussten die Ukrainer im Sommer 2023 leidvoll erfahren. Im Herbst des Vorjahres hatten sie große Gebiete bei Cherson und Charkiw befreit. Entsprechend groß waren die Erwartungen an die Offensive im Süden des Landes. Doch der Vormarsch der Ukrainer endete schon bald in den dichten Minenfeldern, die Putins Truppen in der Zwischenzeit angelegt hatten. Es war der vorerst letzte Versuch der Ukrainer, ihr Land mit schnellen Vorstößen zu befreien.
Doch inzwischen setzt nicht mehr nur Russland auf Antipersonenminen. Finnland, die baltischen Länder, Polen und zuletzt auch die Ukraine sind in den vergangenen Wochen aus dem Ottawa-Abkommen zur Ächtung von Antipersonenminen ausgestiegen oder haben den Schritt angekündigt. Das 1999 in Kraft getretene Abkommen verbietet den Einsatz, die Herstellung, Lagerung und Weitergabe von Antipersonenminen und schreibt die Vernichtung vorhandener Minen vor.
Steckt hinter den Austritten eine gemeinsame Strategie?
Insgesamt 164 Länder haben das Ottawa-Abkommen unterschrieben, auch die Bundesrepublik. Russland dagegen hat ihm bis heute nicht zugestimmt, genauso wenig die USA, China, Indien oder der Iran. Die Ukraine unterzeichnete den Vertrag schon 1999, soll bis heute aber über mehr als drei Millionen Minen besitzen.
Es scheint kein Zufall zu sein, dass Russlands westliche Nachbarn nun innerhalb kurzer Zeit reihenweise aus dem Ottawa-Abkommen aussteigen. Tatsächlich sagte der lettische Verteidigungsminister Andris Spruds, der Austritt sei entscheidend für den Aufbau einer "gemeinsamen baltischen Verteidigungslinie". Seine litauische Amtskollegin, Dovile Sakaliene, erklärte, der Austritt ihres Landes sei ein starkes Signal, das zeige, dass es den baltischen Staaten "mit der Abschreckung und der Grenzverteidigung ernst ist". Vor wem sich die beiden Länder verteidigen wollen, scheint unzweifelhaft, auch wenn Russland in den Erklärungen nicht explizit genannt wurde.
Polen will seine Grenzen verminen
Estland dagegen nennt als Grund für seinen Austritt aus dem Abkommen ganz konkret die Bedrohung durch Russland. Die Dokumente zum Austritt aus dem Ottawa-Übereinkommen seien bereits bei den Vereinten Nationen in New York eingereicht worden, erklärte das estnische Außenministerium vorigen Freitag. Begründet wurde der Schritt mit der "Sicherheitslage in der Region", die sich "aufgrund der russischen Aggression gegen die Ukraine verschlechtert" habe.
Polen ist bereits einen Schritt weiter als die baltischen Länder. So hat Warschau nicht nur den Austritt aus dem Ottawa-Abkommen angekündigt, sondern auch Pläne, die polnischen Grenzen mit Belarus und dem russischen Kaliningrad zu verminen. "Fabriken der (staatlichen) Polnischen Rüstungsgruppe werden die Minen herstellen", sagte der stellvertretende Verteidigungsminister, Paweł Bejda, kürzlich dem Sender RMF24. "Die Bestellung umfasst Hunderttausende Minen, aber es könnten auch eine Million werden."
Sind Minenfelder militärisch sinnvoll?
Angesichts ihrer unmittelbaren Nähe zu Russland scheint das Vorgehen der nördlichen und östlichen Nato-Staaten verständlich. Allein Finnland teilt sich eine etwa 1.300 Kilometer lange Grenze mit dem aggressiven Nachbarland. Rein militärisch könnten Minenfelder durchaus sinnvoll sein, sagt der Sicherheitsexperte und Oberst a.D. Ralph Thiele. "Zur Verteidigung des eigenen Staatsgebietes sind Minen ein probates Mittel", sagte Thiele t-online. "Sie halten einen Gegner auf und verschaffen den Verteidigern Zeit, um Nachschub an Truppen und Material heranzuführen und sich neu zu organisieren."

Zur Person
Ralph D. Thiele ist Oberst a. D. und Experte für politisch-militärische Angelegenheiten. Er ist der Vorsitzende der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. (PMG) in Berlin und Chef der Beratungsgesellschaft StratByrd Consulting. Zudem war Thiele an verschiedenen Stellen für die Nato tätig.
Thiele hält es für verständlich, dass sich die unmittelbaren Anrainer Russlands in Gefahr sehen. "Am stärksten sind sicher die baltischen Ländern bedroht", sagt Thiele. "Sie befinden sich so nah an russischen Kraftzentren wie Kaliningrad, dass wir keine guten Chancen hätten, sie zu verteidigen. Was die Nato in Estland, Lettland und Litauen an Truppen stationiert hat, ist doch eher symbolisch." Gleichzeitig bezweifelt Thiele, dass Minenfelder einen russischen Vormarsch aufhalten könnten. Doch das ist nicht das Einzige, was Thiele an der Entwicklung kritisch sieht.
Militärexperte Thiele sieht Minen kritisch
"Wir müssen heute immer noch regelmäßig Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg entschärfen", sagt Thiele, der auch Mitglied im Planungsstab des Verteidigungsministeriums war. "Auch Minen halten sich leicht 100 Jahre und genauso lange richten sie Schäden an." Zwar würden verantwortungsvolle Armeen ihre Minenfelder dokumentieren und in Karten festhalten. "Aber Pläne gehen auch verloren", gibt Thiele zu bedenken. So sei der Einsatz von Minen mittelbar auch für die eigene Bevölkerung eine enorme Gefahr, vor allem, wenn die tückischen Sprengkörper aus der Luft verschossen würden.
Vorwürfe dieser Art gibt es auch gegen die ukrainische Armee selbst. So berichtete "Human Rights Watch" Anfang 2023, dass ukrainische Soldaten im Kampf um die Stadt Isjum mutmaßlich Tausende Antipersonenminen mit Raketen verschossen hätten.
"Die ukrainischen Streitkräfte haben anscheinend in großem Umfang Landminen in der Gegend von Isjum verstreut, was zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt und ein permanentes Risiko für die Menschen darstellt", sagte damals Steve Goose, Direktor der Abteilung Waffen der Nichtregierungsorganisation. Das ukrainische Außenministerium hatte in Folge der Berichterstattung eine Untersuchung angekündigt, sich bislang aber nicht wieder zu den Vorwürfen geäußert.
"Russlands Nachbarn verbauen sich Zukunftschancen"
Militärexperte Thiele teilt die Sorgen der Menschenrechtler. "Ich halte es nicht für sinnvoll, Hunderttausende Minen in einem Land zu verlegen, das von der Landwirtschaft lebt", sagt Thiele mit Blick auf die Ukraine. "Aber mit der Radikalisierung eines Krieges geht immer auch die Radikalisierung des Mitteleinsatzes einher."
Tatsächlich ist die Ukraine heute schon eines der am schwersten von Antipersonenminen verseuchten Ländern der Erde. Die genaue Zahl der Tretminen im Land kennt niemand. Doch laut Schätzungen der US-Denkfabrik Center for European Policy Analysis könnten bis zu 40 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets mit Minen verseucht sein – das wären etwa 240.000 Quadratkilometer oder fast dreimal die Fläche Österreichs.
Auch wirtschaftlich könnte sich die Verminung ganzer Landstriche langfristig negativ auswirken, glaubt Militärexperte Thiele. "Finnland zum Beispiel hat ganz viele Einkaufszentren an der Grenze zu Russland und die Russen kaufen gerne dort ein. Gewissermaßen verminen sich die Nachbarn Russlands mit dieser Strategie auch ihre eigenen Zukunftschancen."
- Telefonat mit Ralph D. Thiele am 3. Juli
- euronews.com: Baltics and Poland announce planned withdrawal from landmine treaty
- reuters.com: Finnish parliament votes to exit landmines treaty due to Russia threat
- en.defence-ua.com: Poland Plans to Deploy Mines Along Borders with russia and belarus
- en.defence-ua.com: Ukraine Withdraws from Ottawa Convention on Anti-Personnel Mines
- dw.com: Das am stärksten verminte Land der Welt liegt in Europa
- welt.de: "Aus objektiver militärischer Sicht ist die ukrainische Gegenoffensive gescheitert"
- wamc.org: Human Rights Watch urges investigation of alleged use of land mines by Ukraine
- the-monitor.org: Landmine Monitor 2024
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP