Sport Titelcheck Teil IV: Darum wird Spanien Europameister

Eine Kolumne von Jonny Giovanni
Wir sind unser größter Feind, hat Spaniens Kapitän Iker Casillas gesagt, und damit gemeint: Es gab schon Mannschaften, die als amtierender Welt- und Europameister sowie natürlicher Topfavorit in ein Turnier gingen, sich entsprechend toll vorkamen, dann aber gar nicht so schnell schauen konnten, wie sie wieder die Heimreise antraten. Frankreich bei der WM 2002 zum Beispiel. Weltmeister, Europameister - und dann: null Tore, ein Punkt – Adieu nach der Gruppenphase.
Generell scheint bei den großen Turnieren so etwas wie ein Fluch des Titelträgers zu bestehen: Eine Weltmeisterschaft wurde zuletzt erfolgreich 1962 verteidigt, durch Brasilien. Eine Europameisterschaft überhaupt noch nie. Die schaurige Bilanz der letzten zwei EM-Dekaden: Dänemark (Sieger 1992) – Aus in der Vorrunde. Deutschland (1996) – Aus in der Vorrunde (ja genau, dieses 0:3 gegen Portugals B-Elf). Frankreich (2000) – Viertelfinale. Griechenland (2004) – Aus in der Vorrunde. Ginge es nach der statistischen Evidenz, bräuchte Spanien also gar nicht erst antreten in Polen und der Ukraine. Aber wer soll den Titel dann holen?
Das K.o.-Runden-Geheimnis der Spanier
Holland und Deutschland werden am häufigsten genannt, der WM-Zweite bzw. WM-Dritte. Würde Fußball nur ab dem Mittelfeld nach vorn gespielt, hätten Sneijder, van Persie und Robben oder Özil, Müller und Klose tatsächlich exzellente Aussichten. Leider jedoch werden Spiele zwar traditionell mit dem Angriff, Meisterschaften aber mit der Abwehr gewonnen. Die Spanier etwa haben bei ihren jüngsten zwei Titeln insgesamt nur fünf Tore zugelassen, davon kein einziges in den jeweiligen K.o.-Runden. Wer sich so etwas auch von Heitinga-Mathijsen-Bouma oder Hummels-Mertesacker-Boateng vorstellen kann, der möge ruhig weiter träumen.
Dafür verstehen sich die Italiener ja wohl auf eine solide Defensive! Schon historisch und auch prinzipiell. In der Qualifikation kassierten sie die wenigsten Gegentreffer aller Teams. Allerdings ist seitdem mal wieder ein kleiner Manipulationsskandal dazwischen gekommen, und der betrifft nicht nur Funktionäre wie 2006, sondern teilweise auch Nationalspieler. Zwischenzeitlich war nicht mal hundertprozentig sicher, dass Italien bei der EM wirklich antritt (zumindest kokettierte Trainer Prandelli mit einem Verzicht). Bei so konfusen Rahmenbedingungen behält nicht mal eine italienische Abwehr die Übersicht. Der letzte Test ging 0:3 gegen Russland verloren.
Selbst Englands Boulevardpresse glaubt nicht dran
Fahndet man quer über die Meere Europas weiter nach den üblichen Titelkandidaten, landet man beispielsweise in England und Portugal. Das sind die beiden Nationalmannschaften, die im vergangenen Jahrzehnt ein Markenpatent auf den Claim "Goldene Generation" hätten anmelden können, versehen stets mit dem Zusatz: Dieses Mal wird es endlich soweit sein! Bekanntlich war es dann allerdings nie so weit.
Nach dem (teilweisen) Ende der vermeintlichen Glanzjahrgänge reist England nun mit dermaßen mediokerem Personal an, dass – es muss sich hierbei um ein Novum handeln – nicht mal die lärmige Londoner Boulevardpresse vom Titel zu schreiben wagt. Derweil kassierte Portugal in der Qualifikation die meisten Gegentore aller EM-Teilnehmer (12), was, siehe oben, nicht unbedingt der direkte Weg zu internationalen Ehren ist. Weil sie sich zuletzt aber stabilisierten und einen grundsätzlich durchaus fähigen Kader beieinander haben, könnte bei den Portugiesen noch eher die angenehme Turnier-Mischung aus Potenzial, aber nicht allzu hohen Erwartungen gegeben sein.
Frankreichs Expedition in die Isolation
Ähnlich ist die Gemengelage bei den Franzosen, wo zudem im ehemaligen Weltmeister Laurent Blanc ein Trainer hinzukommt, der genau weiß, wie man so etwas durchzieht. Unglücklicherweise jedoch haben die Gallier als einzige Nation ihr Teamcamp tief im Osten der Ukraine aufgeschlagen. Die Folge ist akute Lagerkoller-Gefahr, analog zur WM 2010. Auch in Südafrika isolierte sich Frankreich geographisch, es weilte als einzige Mannschaft unten am Meer – und ging sich dann untereinander so sehr auf die Nerven, dass die Expedition in Trainingsstreik und Pöbeleien endete.
Da auch von den Gastgebern Polen und Ukraine nicht übermäßig viel zu erwarten ist, lässt das Ausschlussprinzip letztlich also nur folgendes Ergebnis zu: Alle Statistiken werden irgendwann gebrochen. Und Europameister doch wieder die Spanier.
Wird Fernando Torres wieder zu Fernando Torres?
Klar, es mag ein paar Dekadenzanzeichen geben. Die Vorbereitung trug komödiantische Züge, insofern der Verband das spanische Pokalfinale auf das spätmöglichste Datum terminierte und Verbandstrainer Del Bosque so erst eine Woche vor EM-Start seinen kompletten Kader begrüßen durfte. Dazu kommen verletzungsbedingte Ausfälle an neuralgischer Position. Mit Puyol fehlt der WM- und EM-Abwehrboss, womit neben den Weltklasseverteidigern Piqué und Ramos so mancher Defensivmann zum Einsatz kommen könnte, der eher dem Mathijsen-Mertesacker-Niveau zuzuordnen ist. Vorn wiederum musste WM- und EM-Torschützenkönig Villa passen; kompensierbar ist das allenfalls unter der Bedingung, dass Fernando Torres seine Pein aus anderthalb Jahren Chelsea abschüttelt und wieder annähernd spielt wie Fernando Torres.
Spanien bastelt sich den nächsten Titel
Dennoch handelt es sich hier um vergleichsweise kleinere Probleme. Der Talentpool im Mittelfeld ist so riesig, dass aus ihm zur Not auch noch ein paar Aushilfsstürmer und Aushilfsverteidiger gebastelt werden könnten. "Das Sportliche macht keine Sorgen", räsonierte auch Casillas. "Sondern nur das Mentale."
Indes: Wer sich einer Sache bewusst ist, hat sie auch schon fast im Griff. Die aktuelle spanische Elf macht nicht den Eindruck, als könnte ihre Tiki-Taka-Spielfreude von Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit getrübt werden. Wer zuvor 44 Jahre nichts gewonnen hat, den machen zwei Titel noch lange nicht satt.
Die bisherigen Titel-Kandidaten im Check:
Titelcheck Teil I - Frankreich reist mit Monster-Serie zur EM
Titelcheck Teil II - Macht Holland aus dem WM-Trauma den EM-Traum?
Titelcheck Teil III - 10 Gründe, warum Deutschland Europameister wird