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Corona-Kontaktsperre in Deutschland: Diese Schäden hat sie hinterlassen


Was heute wichtig ist
Die leisen Stimmen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.06.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Arbeitsloser auf der Straße: Die Corona-Krise raubt vielen Menschen die Lebensgrundlage.Vergrößern des Bildes
Arbeitsloser auf der Straße: Die Corona-Krise raubt vielen Menschen die Lebensgrundlage. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Deutschland kehrt langsam in die Normalität zurück – aber das Leben ist nicht mehr dasselbe wie vor drei Monaten. Nachdem viele Menschen den größten Corona-Schock verdaut haben, sehen sie nun nicht mehr nur, was das Virus angerichtet hat – sondern auch, was der Kampf gegen das Virus anrichtet. Nach allem, was wir bisher wissen, waren die Ausgangsbeschränkungen und die Kontaktsperre im März, April und Mai richtig; sie haben uns vor Schlimmerem bewahrt. Mehreren Studien zufolge haben die harten Einschnitte ins Alltagsleben weltweit viele Millionen Menschenleben gerettet – allein in elf europäischen Ländern sind es wohl mehr als drei Millionen, berichten meine Kolleginnen Melanie Weiner und Nicole Sagener. Die verantwortlichen Politiker handelten auf der Basis des zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Wissens – und sicher auch unter dem Eindruck der erschreckenden Bilder aus Italien und Frankreich: Kolonnen von Militärlastwagen, die nachts Särge zu den Krematorien fuhren. Ärzte, die mangels Beatmungsgeräten entscheiden mussten, welche Patienten sie retteten und welche nicht. Ein derartiger Notstand blieb uns hierzulande erspart. Deutschland ist bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen – und bezahlt trotzdem einen hohen Preis.

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Im Nachhinein ahnt man manches, anderes reift vielleicht später zur Erkenntnis. Womöglich hätten statt wochenlanger, flächendeckender Beschränkungen für alle Bürger regionale Maßnahmen genügt. Die Maskenpflicht hätte es besser früher gegeben. Einheitliche Hygienekonzepte für alle Schulen ebenfalls. Schnellere Corona-Tests. Hätte, hätte, Fahrradkette. Hinterher ist man immer klüger, aber aufs Ganze gesehen können wir froh sein, die bisherigen Phasen der Pandemie glimpflich überstanden zu haben.

Wenn im vorangegangenen Satz "wir" steht, dann schließt dieses kleine Wort allerdings nicht alle Menschen hierzulande ein. Man liest jetzt immer häufiger Berichte über Kranke, deren Leiden zu spät behandelt worden ist. Über misshandelte Kinder, zu denen die Jugendämter wochenlang keinen Kontakt hatten. Über vereinsamte Senioren. Über berufstätige Mütter, die sich plötzlich in einer längst überwunden geglaubten Hausfrauenrolle wiederfanden: Kinder, Küche und Kleiderwaschen statt Karriere. Nun, da uns die Schlagzeilen rund um das Virus nicht mehr permanent im Kopf herumschwirren und wir wieder etwas häufiger unter Leute kommen, nehmen wir auch in unserem sozialen Umfeld wahr, welche Schäden die wochenlange Kontaktsperre hinterlassen hat. Da ist die Verwandte, die zu lange auf eine dringende Operation warten musste. Der Freund, dem als Freiberufler plötzlich sämtliche Einkünfte wegbrechen. Der Kollege, der seine Wohnung aus Angst seit Wochen kaum mehr verlässt. Der Lieblingswirt, der die Wochen bis zur Pleite an zwei Händen abzählen kann. Die Läden um die Ecke, die plötzlich nicht mehr da sind.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe den Eindruck, dass diese Krise nicht nur vielen Senioren, sondern auch einer Menge junger Leute die Lebensfreude raubt. "In meiner Praxis habe ich Menschen erlebt, gerade jüngere, die geweint haben, weil sie glaubten, sie müssten sterben", berichtet der Arzt Ralf Tillenburg in der "Süddeutschen Zeitung". "Ich weiß von einem meiner Patienten, um die 50 Jahre alt. Er litt an Krebs und hatte wochenlang auf eine Chemotherapie gewartet. Sie fand nicht statt, wegen Corona. Er ist dann gestorben." Und weiter: "Ich betreue eine Seniorenresidenz. Dort sind manche Bewohner völlig vereinsamt, als das Besuchsverbot galt. Eine Frau hat deshalb nicht mehr gegessen und getrunken und ist gestorben. Ich dachte mir: Die Menschen, die jetzt wegen dieser Maßnahmen sterben, haben keine Stimme. Das sind halt die Kollateralschäden."

Ein düsteres Fazit, das so gar nicht zu der "Wir-haben-das-Schlimmste-überwunden"-Rhetorik passt, die uns dieser Tage aus Fernsehen, Radio und manchen Politikerreden entgegenschallt. Man muss deshalb nicht schwarzsehen, aber wir sollten die Schäden der Kontaktsperre ernster nehmen. Und genauer auf jene Menschen achten, deren Stimmen leise geworden sind. Die Vollbremsung einer ganzen Gesellschaft kann viele Leben retten – aber auch viele beschädigen oder gar zerstören. Wer schwach ist, der braucht jetzt die Hand der Starken. Ob Bruder, Tochter, Nachbar, Freund, Kollege oder einfach nur Mitbürger: Jeder kann helfen. Man muss sie nur hören wollen, die leisen Stimmen.


Wenn einer geht, dann bleibt eine Lücke. Bei manchem aber klafft ein Abgrund. Die Dagebliebenen starren in die Tiefe, erschüttert, erbleicht, im Kopf so viele Fragen. Wenn einer geht und Familie, Freunde, Kollegen hinterlässt, dann dröhnt aus dem Abgrund die Frage nach dem Warum, und sie dröhnt immer lauter, je schwerer es wird, darauf eine Antwort zu finden.

Christoph Sydow war ein außergewöhnlicher Journalist. Wissbegierig und belesen, aber ohne jede Spur von Arroganz. Mit der Gabe ausgestattet, selbst komplizierte politische Prozesse in anderen Erdteilen so anschaulich zu erklären, dass auch Menschen sie gern lasen, die nie zuvor von den genannten Personen und Orten gehört hatten. Zurückhaltend und gelassen trat er auf, aber war stets zur Stelle, wenn es einer helfenden Hand bedurfte.

Wer das Privileg hat, Menschen einstellen zu dürfen, kann sich einen geistigen Lackmustest zurechtlegen. Meiner ist simpel. Habe ich einen Bewerber vor mir, dann frage ich mich selbst: Stünde ein schwerer Schrank im Zimmer und sollte raus, würde der Bewerber sich zieren – oder die Ärmel hochkrempeln und helfen, das Ding mit vereinten Kräften rauszuwuchten? Bei Christoph fiel mir die Antwort leicht, damals im "Spiegel-Online"-Newsroom in Hamburg. Ich habe nicht gezählt, wie viele Frühdienste, Wochenendschichten und Newsblog-Einsätze er übernommen und wie viele Analysen über die Dramen Arabiens er geschrieben hat, aber es waren viele, sehr viele. "Er war kein geborener Reporter, sondern Innendienstler im besten Sinn. Ein Analyst, der sich erfolgreich darin übte, woran die meisten Menschen scheitern: Zusammenhänge und letztendlich manchmal auch einen Sinn aus jenen Nachrichten zu lesen, die der Nahe Osten täglich produziert", schreibt Daniel Gerlach in seinem Nachruf, Chefredakteur des Magazins "Zenith", das uns alle verband. Wir Islamwissenschaftler sind ja entweder Kauze oder Generalisten, Christoph Sydow aber bewies Artikel für Artikel, dass man ein riesiges Fachwissen durch einen präzisen Schreibstil so ansprechend vermitteln kann, dass es einer breiten Leserschaft hilft, die Welt besser zu verstehen. So gesehen war er ein Aufklärer.

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Nun ist er fort, der Christoph, und der Blick in den Abgrund schmerzt Tag für Tag. Hoffentlich weicht er irgendwann einem anderen Gefühl: der dankbaren Erinnerung an einen sehr geschätzten Kollegen, der den Journalismus bereichert und geholfen hat, all den Klischees vom Orient wahrhaftigere Bilder entgegenzusetzen. Es wäre ein Trost.


WAS STEHT AN?

Pandemie, Ansteckung, Todesfälle: Ohne Pause sind uns in den vergangenen Wochen die schlechten Nachrichten um die Ohren geflogen. Einer der vielen Akteure im gewaltigen Corona-Drama ist ein seltsames, scheues, sympathisches Lebewesen: Das Schuppentier stand im Verdacht, dem Virus als Zwischenwirt den Weg zum Menschen geebnet zu haben (auch wenn sich die Wissenschaftler in dieser Frage nicht ganz einig sind). Grollen dürfen wir ihm deshalb aber nicht. Denn es hatte nicht viel zu lachen, und der Grund dafür ist der Mensch: Kaum eine Tierart wird so erbarmungslos gejagt wie das Schuppentier. Dabei tut es keiner Fliege was zuleide und hat keine natürlichen Feinde. Im Gegenteil: Es hat entschieden zu viele Fans.

In industriellen Mengen wird das Schuppentier nach Asien gekarrt. Dort kommt es beim exklusiven Dinner als Statussymbol auf den Tisch. Zwar ist dieser Handel verboten, aber die Aussicht auf fette Profite und ein unersättlicher Markt lassen den weltweiten Schmuggel florieren. Immerhin: Nachdem der Wildtiermarkt in Wuhan als Ursprung des Covid-19-Ausbruchs in Verruf gekommen ist, hat die chinesische Regierung den Handel und Verkauf wilder Tiere auf Märkten untersagt. Schließlich sollte man gefährlichen Erregern nicht auch noch eine Startrampe hinstellen, mit der sie den Sprung zum Menschen schaffen. Nicht nur unserer Spezies tut so ein Verbot gut, auch für bedrohte Tierarten wie das Schuppentier hätte es die Rettung sein können. Für unsere knopfäugigen Freunde scheiterte das leider ausgerechnet: an den Schuppen.

Denn die kann man zerstampfen, sich einverleiben und hoffen, dass man so zu bester Gesundheit zurückfindet. In der chinesischen Medizin haben Schuppentiere einen festen Platz, zertifiziert als Wirkstoff auf amtlichen Listen. Und medizinische Zutaten sind, anders als die für den Kochtopf, von den verschärften chinesischen Regularien ausgenommen. Im Verbot des Wildtierhandels klafft ein scheunentorgroßes Loch.

Aber vielleicht hat es dieses Jahr einfach zu viele schlechte Nachrichten gegeben. Die chinesischen Behörden jedenfalls haben entdeckt, dass man auf Listen auch mal was streichen kann. Das gebeutelte Schuppentier darf ab sofort nicht mehr pulverisiert werden. Mehr noch: Sogar in die höchste Schutzstufe ist es erhoben worden, zieht also mit den erlauchten Pandas gleich. Es wurde auch Zeit. Für das gejagte Wesen und für uns. Zwar schlürfen wir keine Ameisen und rollen uns bei Gefahr auch nicht zur Kugel ein. Trotzdem haben Schuppentier und Mensch etwas gemeinsam: Wir brauchten jetzt beide mal ein Happy End.


Apropos China: Bundeskanzlerin Angela Merkel videokonferiert heute mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang. Zentrales Thema: Wie lässt sich trotz Corona-Abschwung und Zoff zwischen Peking und Washington der Welthandel wiederbeleben?

Welche Auswirkungen hat der Digitalisierungsschub durch die Corona-Krise auf die Umwelt? Wie lassen sich positive Effekte beibehalten, mehr Videokonferenzen, weniger Dienstreisen und so weiter? Und wie kann die Politik neue Rahmenbedingungen setzen? Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) zieht heute gemeinsam mit Wissenschaftlern eine Zwischenbilanz.

In einem ehemaligen deutschen U-Boot-Bunker aus Weltkriegszeiten in Bordeaux wird ein großes Zentrum für digitale Kunstschauen eröffnet. Zum Start gibt es eine Ausstellung mit animierten Bildern von Gustav Klimt. Die Bilder sind spektakulär.


WAS LESEN?

Die Gründe für die Polizeigewalt in den USA sind vielfältig – aber ein besonders wichtiger heißt Dave Grossmann: Der Ausbilder trainiert seit 20 Jahren Beamte in vielen Städten mit martialischen Methoden und bildet sie zu erbarmungslosen Kampfmaschinen aus. Unser Rechercheur Lars Wienand hat Amerikas "Killer-Trainer" porträtiert.


Während die halbe Welt über institutionalisierten Rassismus diskutiert, darf Clemens Tönnies Schalke-Chef bleiben. Geht gar nicht, findet unser Kolumnist Stefan Effenberg: "Wer sich rassistisch äußert, hat in keiner Funktion eines Vereins etwas zu suchen."


Blicken Sie angesichts der Riesensummen, die der Staat nun ausgibt, nicht mehr durch? Fragen Sie sich, wer all die Schulden zurückzahlen muss? Dann sollten Sie das Interview lesen, das mein Kollege Florian Schmidt mit dem Ökonomen Jens Südekum geführt hat: Er erklärt, was es wirklich mit dem Konjunkturpaket auf sich hat – und wieso mehr Schulden derzeit kein allzu großes Problem sind.


Vor Corona galt Friedrich Merz vielen als Hoffnungsträger der CDU – seit Ausbruch der Pandemie ist er weg vom Fenster. Doch Abgesänge kämen zu früh, meint unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld: Politiker mit seiner Kompetenz werden bald wieder gebraucht – vor allem in einem bestimmten Amt.


WAS AMÜSIERT MICH?

Immer dran denken: Auch die Nase muss hinter den Vorhang!

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Falls Sie zu den Glücklichen gehören, die heute frei haben: Genießen Sie den Feiertag!

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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