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Martin Sonneborn: "Frau von der Leyen, das ist die wahre Lage der EU!"


Antwort auf ihre EU-Rede
Frau von der Leyen, das ist die wahre Lage der EU!

MeinungEine Kolumne von Martin Sonneborn

Aktualisiert am 16.09.2020Lesedauer: 6 Min.
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Martin Sonneborn (Die Partei, MdEP): Der Politiker und Satiriker reflektiert für t-online.de die Geschehnisse in Brüssel.Vergrößern des Bildes
Martin Sonneborn (Die Partei, MdEP): Der Politiker und Satiriker reflektiert für t-online.de die Geschehnisse in Brüssel. (Quelle: snapshot/imago-images-bilder)

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich in einer Grundsatzrede an die Europäische Union gewandt. Lesen Sie hier die Replik von EU-Parlamentarier und Satiriker Martin Sonneborn.

Liebe Frau von der Leyen,

niemand weiß, ob Sie wirklich daran glauben, in Ihrer aktuellen Spielzeit irgendetwas erreicht zu haben, oder ob Sie nur so tun, als ob. Wahrscheinlich beides.

Seit Sie im Amt sind, hat die Europäische Union sichtlich an Erbärmlichkeit gewonnen. Den – kalkulierten – Niedergang Ihrer eigenen Behörde, der EU-Kommission, werden Sie und Ihr zwangsoptimistischer deutscher Beraterstab absehbar als sensationellste Errungenschaft seit Erfindung des Superlativs verkaufen. Und das einzige semidemokratische EU-Organ, mein Europäisches Parlament, ist mal wieder so bedeutungslos wie schon lange nicht mehr. Wo bleibt eigentlich Martin Chulz?! Den großen Wurf zu seiner Stärkung (begonnen mit der Institutionalisierung des von Ihnen ausgehebelten Spitzenkandidatenprinzips) sind Sie jedenfalls schuldig geblieben. Ebenso wie den für Februar zugesagten Kommissionsentwurf für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Und das, obwohl Sie ausweislich Ihrer hübschen Videoclips – Copyright by Kai Diekmann, ("Storymachine") vormals "Bild"-"Zeitung" – so unglaublich versessen darauf sind, den europäischen Bürgern irgendetwas zu "liefern". Das nenne ich deutsche Verlässlichkeit. ZwinkerSmiley!



Martin Sonneborn (55) ist Satiriker, Journalist und Politiker. Er ist Bundesvorsitzender der Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative (Die Partei) und seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments.

Dafür haben Sie und Ihre womöglich gut bezahlten Wirtschaftsberater die gerade angesagten dämlichen Schlagworte "grün" und "digital" schamlos gekapert und ruckzuck zu den dollsten Wachstumsmotoren seit Christoph Kolumbus umetikettiert. Fortwährend deklarieren Sie – völlig erkenntnisfrei – eine erdverträgliche Wirtschaftsordnung dürfe keinesfalls in Wachstumsverzicht oder Konsumrückbau münden, sondern in einen gigantischen europäischen Kaufrausch, der jedes überflüssigerweise vorhandene Produkt durch irgendein neues ersetzen soll – in GRÜN und mit WLAN-Kabel.

Die Kommission fixiert sich auf das große Kapital

Und da Ihr "Next Generation" getauftes Rettungsprogramm weder die nächste Generation noch unsere pulverisierten europäischen Grundwerte retten wird, mobilisieren Sie freundlicherweise gigantische Geldsummen zur Wiederbelebung einer überholten Wirtschaftsstruktur. Während Mittelstand, Kleinbetriebe, Künstlergesocks und Wirtsleute, die maßgeblichen Stützpfeiler von Wirtschaft und europäischer Lebensart, zugrunde gehen, schreibt die Wirtschaftspolitik der Kommission – in Anwendung vulgärst-liberaler Glaubenssätze – ihre verheerende Fixierung auf die großen Unternehmen fort. Und: auf das große Kapital.


Als hätte BlackRock hinter der Kulissen der Welt noch nicht genug zu sagen, räumt Ihre Kommission diesem "Verein"auch noch das Recht ein, das Arbeitsfeld "Green Finance" für Sie zu gestalten. Als mächtigste Behörde der EU könnte man die Machenschaften transnationaler Vermögensverwalter übrigens auch selbst regulieren. Statt ihnen Zugang zur Regulierungskompetenz zu verschaffen.

Bei den rückständigen Chinesen befiehlt Bankenregulator Guo Shuqing o.s.ä. zur Bewältigung der coronabedingten Wirtschaftskrise derweil den Staatsbanken einen massiven Gewinnverzicht. Gute Güte! Viel zukunftsweisender ist das Erfolgsrezept der EU, mit breitem Lächeln auf die Rettung von Unternehmen zu setzen, die schon immer mehr Dividenden und Boni gezahlt haben als Löhne oder Steuern.

Die Sprache der Ohnmacht spricht die EU schon ganz gut

Wenigstens das europäische Reisegeschäft boomt wieder. Besten Dank auch dafür.

Margaritis Schinas, Kommissar für die Förderung der europäischen Lebensart – das heißt wirklich so – reist nach Lesbos, um sich ein Bild davon zu machen, welcher seiner europäischen Grundwerte aus den Ruinen von Moria noch zu bergen ist.

Maroš Šefčovič, Kommissar für Vorausschau – heißt wirklich so – reist nach London, um sich darüber zu informieren, welche disruptive Dämlichkeit des spätkapitalistischen Oxford-Schnösels Boris Johnson er mal wieder nicht hat kommen sehen.

Lieber nicht gereist wäre der Kommissar für Handel, Phil Hogan, und zwar an die irische Westküste, wo ein Corona-regelwidriges Golf-Dinner ihn leider sein Amt kostete, ihm im Gegenzug aber immerhin einen hübschen George-Foreman-Kontaktgrill einbrachte (Tombolagewinn, Gerät ab 31 Euro im qualifizierten Fachhandel). Zur verhaltenen Freude seines Nachfolgers Waldi Dombrowski, dessen Sparpolitik, Steuererhöhungen und Strukturreformen in Lettland bereits legendär sind (und es in der EU sicher bald sein werden).

Nur der Kommissar für Außen- und Weltpolitik reist nirgendwohin. Der Mann heißt Sepp Borrell, ist ungefähr 278, bekommt seine Analysen in einfachem Englisch vorgelegt und er reist nicht gern. Was natürlich nur ein winzig kleiner Teil der Antwort darauf ist, warum noch die letzte Inselgruppe in der Karibik ein gewaltigerer geopolitischer Player ist als alle Dienststellen und Exekutiv-Agenturen der Kommission zusammen.

Seit Sie, Frau von der Leyen, im Amt sind, faseln Sie metaphern-überladen von einer "Sprache der Macht", die die EU erlernen müsse. Wenn man auf der Höhe der Zeit ist, nennt man so etwas wohl eine Komplementär-Kompetenz. ZwinkerSmiley.

Denn die Sprache der Ohnmacht spricht die EU ja schon ganz gut. Die Eskalationsstufen ihrer politischen Erregung reichen von orientierungslosem Schweigen über "Die EU ist besorgt" (wahlweise "tief besorgt") bis hin zum vernichtenden "Die EU verurteilt" (wahlweise "verurteilt scharf"). Diese rhetorischen Atomschläge kann man getrost in einem kobaltblauen Leitz-Ordner abheften und weitermachen.

Ein bellizistischer Imperialist direkt vor der Haustür

Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war, passend zu Ihrem vorangegangenen Einsatz in der Bundespolitik, die Einrichtung der Generaldirektion "Raumpatrouille Orion", Pardon: "Verteidigungsindustrie & Weltraum". Mehr muss man über Sie (und Ihre politischen Ziele) eigentlich nicht wissen. Für das effektive "Grenzmanagement" – wie Sie und Ihresgleichen es nennen – haben Sie und Ihresgleichen die wiederholt wegen menschenrechtswidrigem Verhalten aufgefallene Söldnertruppe "Frontex" aufgestockt. Die Pläne Macrons, einen gewaltigen Teil des EU-Haushalts in die allgemeine Mobilmachung zu pumpen, haben nicht SIE vereitelt, sondern ein winzig kleines Virus zusammen mit dem ausgeprägten Geiz der Mitgliedsstaaten. Eine militärische Macht wird die EU also erst einmal nicht sein.

An ihre politische Macht zu glauben, fällt der EU bekanntlich schwer, seit es sie gibt. Daran hat auch Ihre mehrfach hinausposaunte Absicht nichts geändert, eine sein oder werden zu wollen. Der auf Einstimmigkeit im Rat angewiesene Außenbeauftragte Borrell (vorbestraft) hat die frustrierende Aufgabe, fortwährend die kleinste gemeinsame Bedeutungslosigkeit zu verkünden, auf die 27 Staaten mit deckungsungleichen Überzeugungen und widersprüchlichen Interessen sich freiwillig und ohne Waffengewalt geeinigt haben.

Die einzige Macht, über die unsere gute alte EU wirklich verfügt, ist ihre wirtschaftliche. Sie kann sie zwar bis auf 25 Stellen hinter dem Komma ökonometrisch exakt berechnen, setzt sie aber nie, nie, wirklich niemals ein, aus Angst, ihre schönen Wachstumsziele und die noch schöneren Gewinnerwartungen der Exportindustrie zu gefährden.

Seit geraumer Zeit bedroht der Irre vom Bosporus offen zwei Mitgliedsstaaten, Griechenland und Zypern, ohne dass irgendjemandem bisher eingefallen wäre, wie man sich als geopolitischer Akteur zu so etwas zu verhalten hat. Ein bellizistischer Imperialist direkt vor der Haustür, und die EU denkt noch nicht einmal darüber nach, ihre famose Wirtschaftsmacht zur diplomatischen Züchtigung dieses primitiven türkischen Kriegstreibers einzusetzen.

Bei Sophokles – heißt wirklich so – stürzt der vielfach verratene und getäuschte Held Ajax sich verzweifelt in sein eigenes Schwert. Als Erfinder der antiken Tragödie haben die Griechen Jahrtausende lange Erfahrung. Und doch: So vielfach im Stich gelassen muss man erstmal werden wie Griechenland von der EU!

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Schablonenhafte Realitätsverleugnung

Über eine ähnliche Zeitspanne erstreckt sich übrigens der "Dialog" mit den Diktaturen des europäischen Ostens, den weiterzuführen Ihre Kommission sich nun erneut verpflichtet hat. Auch dieses Lustspiel, das von Ihrer konservativen Fraktion im EU-Parlament unter Manfred Streber (CSU, 1,56 Meter) ja nie ohne eine gewisse Binnenkomik aufgeführt wird, werden Sie als oberste "Hüterin der Verträge" mit aufrichtiger Leidenschaftslosigkeit begleiten.

Unter Ihrer wie immer tiptoppen Betonfrisur halten Sie es in ideologisch gleichbleibender Phantasielosigkeit und schablonenhafter Realitätsverleugnung noch immer für angemessen, mit Ihrer "East StratCom Task Force" – zu deutsch: Heeresgruppe OstSüd –, ausschließlich "Desinformation" russischer und chinesischer Provenienz zu bekämpfen, dasselbe Maß an Unsinn aus den USA, Grobbritannien oder Ungarn aber ungeprüft als "Information" durchzuwinken. Die Außenminister der beiden Diktaturen – gemeint sind jetzt China und Russland – haben jetzt übrigens ihrerseits eine Initiative zur Bekämpfung der Desinformation ausgerufen. Lustiger kann man sich über die EU nun wirklich nicht lustig machen als mit diesem metaphilosophischen Quidproquo. Chapeau.

Und während Sie in Brüssel lauthals "Nawalny" skandieren und darauf hoffen, dass niemand Sie fragt, warum Sie sich um einen fremdenfeindlichen und homophoben russischen Rechtspopulisten sorgen, findet auf der anderen Seite des Kanals die lautlose Beerdigung statt von Wikileaks, Julian Assange und der Veröffentlichungs- und Pressefreiheit. Und die EU schickt noch nicht einmal Blumen.

Das ist der Real State of da Union. 😞!

Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft reflektiert Martin Sonneborn für t-online.de auf satirische Art und Weise die Geschehnisse in der belgischen Hauptstadt. In seiner Kolumne blickt der 55-Jährige dabei auf das große Ganze – auf seine eigene Art.

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