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Türkei-Wahl | Erdoğan setzt im Wahlkampf weiter auf Terror


Erdoğan setzt auf Terror

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 23.04.2023Lesedauer: 6 Min.
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Recep Tayyip Erdoğan kämpft um seine Wiederwahl: Dafür schließt er fragwürdige Bündnisse.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdoğan kämpft um seine Wiederwahl: Dafür schließt er fragwürdige Bündnisse. (Quelle: IMAGO/Mehmet Masum Suer/imago images)

Es wird eng für Recep Tayyip Erdoğan bei der Wahl in der Türkei – deshalb setzt der türkische Präsident nun auf radikale Gruppen. Die Angst vor Unruhen im Land wächst.

Er scheint momentan überall zu sein. Recep Tayyip Erdoğan fährt mit dem Bus durch die Türkei, in mindestens 40 Städten will der türkische Präsident bis zur Wahl Kundgebungen abhalten. Es sind die gewohnten Wahlkampfbilder: Erdoğan grüßt, schüttelt Hände und wütet, bis seine Stimme schwach wird. Dabei nimmt er vor allem seinen Konkurrenten Kemal Kılıçdaroğlu der kemalistischen CHP ins Visier, der in den meisten Umfragen in Führung liegt.

Während im türkischen Fernsehen Erdoğan in Dauerschleife zu laufen scheint, postet das Wahlkampfteam des AKP-Chefs regelmäßig Videos, wie Hunderte Menschen den türkischen Präsidenten in ihren Städten begrüßen. Sie winken, verschenken Flaggen der Türkei oder der nationalkonservativen AKP. Aber der Schein trügt: Die Präsidentschaftswahl am 14. Mai 2023 dürfte zum Krimi werden. Denn die Wirtschaftskrise und die kapitalen Fehler der türkischen Regierung nach der Erdbebenkatastrophe im Februar 2023 sorgen für Wechselstimmung in der Bevölkerung.

Für Erdoğan wird es eng. Um das Ruder am Ende doch noch herumzureißen, setzt er auch auf rechtsradikale Kräfte, die Terror- und Mafiagruppen nahestehen. Das könnte dramatische Folgen für die Türkei haben.

Lira stürzt weiter ab

Der türkische Wahlkampf ist in der heißen Phase, er steht ganz im Zeichen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. "Wem werden Sie die Zukunft Ihrer Kinder und die Zukunft des Landes anvertrauen?", fragte Erdoğan bei einer Kundgebung in Afyonkarahisar am Dienstag. "Herrn Kılıçdaroğlu? Der Person, die mit den Auftragsmördern der Imperialisten unterwegs war?" Der türkische Präsident wirft dem CHP-Spitzenkandidaten vor, mit Beamten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und "Londoner Kredithaien" zu taktieren – zum Schaden der Türkei.

Erdoğans Botschaft ist klar: Nicht die türkische Regierung ist schuld an der Wirtschaftskrise, sondern der westliche Imperialismus. Knapp einen Monat vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ist die türkische Lira auf ihren bislang niedrigsten Stand abgerutscht. Am Dienstag stand der Wechselkurs zwischenzeitlich bei 19,5996 Lira für einen Dollar. So wenig wert war die Lira seit ihrer Einführung im Januar 2005 noch nie. Die hohe Inflation frisst den Wohlstand vieler Türkinnen und Türken auf – eine Katastrophe, die durch wirtschaftspolitische Fehler der Regierung maßgeblich herbeigeführt wurde. So übte Erdoğan stets Druck auf die türkische Zentralbank aus, die Zinsen zu senken, was die Inflation befeuerte.

Wenn der türkische Präsident diese Wahl gewinnen möchte, muss er andere Schuldige für diese Krise präsentieren. Im Zweifel sind es der Westen und die Opposition. Das ergibt zwar nicht wirklich einen Sinn, aber Erdoğan hat viele türkische Medien unter seine Kontrolle gebracht. Deshalb werden seine Reden im Fernsehen und online fast durchgehend unkritisch wiedergegeben, ohne Einordnung. Ein unfairer Vorteil für den AKP-Chef im Wahlkampf.

Gefährlicher Pakt mit Rechtsradikalen

Aber auch das könnte am Ende nicht reichen. "Wir lassen uns für eine ehrenhafte Haltung nicht von denen belehren, die terroristischen Organisationen unterstellt sind", erklärte Erdoğan am Ende seiner Rede. Gemeint ist die prokurdische HDP. Doch der türkische Präsident sucht sich selbst Rückendeckung von rechtsradikalen Kräften, die teilweise Terrorgruppen nahestehen.

Terror ist in Erdoğans Definition links, kurdisch oder gewerkschaftlich organisiert. Seine AKP regiert dagegen aktuell mit der neofaschistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" MHP, der politischen Heimat der rechtsextremen "Grauen Wölfe". Die MHP wettert gegen Migration und gegen den Westen. Sie hat zurzeit 48 Mandate im türkischen Parlament und trieb Erdoğan in dieser Legislatur weiter nach rechts.

Und das Problem reicht noch tiefer. MHP-Chef Devlet Bahçeli wusste um die Chance, die AKP zu erpressen. So wurden Schlüsselposition im türkischen Sicherheitsapparat und im Justizsystem mit MHP-Anhängern besetzt. Die "Grauen Wölfe" sind nicht nur eine berüchtigte rechtsextreme Organisation, die seit 1974 für Unruhen und zahlreiche politische Morde verantwortlich ist. In Deutschland wird sie vom Verfassungsschutz beobachtet, in der Türkei haben die "Grauen Wölfe" Verbindungen zur einflussreichen türkischen Mafia. In mehr als 20 Jahren an der Macht hat Erdoğan diese Schattenstrukturen in Ruhe gelassen, solange die Mafia gegenüber der AKP loyal war.

Würden diese rechtsextremen Kräfte in einflussreichen Positionen also eine Niederlage Erdoğans und einen friedlichen Machtwechsel akzeptieren? Dahinter steht zumindest ein großes Fragezeichen.

"Wir sind bereit für den Dschihad"

Die MHP hat 2018 bei den vergangenen Parlamentswahlen 11,1 Prozent bekommen, doch ihr Einfluss ist gemessen daran größer – dank Erdoğan. Aber der 69-Jährige sieht seine Macht bei dieser Wahl noch gefährdeter, und im politischen Kampf mit dem Oppositionsbündnis hat sich der türkische Präsident die Unterstützung der radikalislamistischen Parteien YRP und Hüda Par gesichert.

Beide Parteien kommen in den Umfragen nicht über zwei Prozent, für Erdoğan scheint jedoch jede Stimme zu zählen – auch die von radikalen Islamisten. Im Schatten der AKP könnten die zwei Splitterparteien mehr Sitze in der Großen Nationalversammlung erhalten und politisch bekannter werden. Keine gute Nachricht, vor allem für Liberale in der Türkei.

Die "Partei der freien Sache" (Hür Dava Partisi oder Hüda Par) ist der politische Arm der türkischen Hizbullah. Diese wurde in den 1980-Jahren gegründet, ihr werden viele politisch motivierte Morde in den 1990ern zugeschrieben. Etwa die Tötung der feministischen Autorin Konca Kuriş im Jahr 1999 oder 2001 die gezielte Ermordung von Ali Gaffar Okkan, dem Polizeichef von Diyarbakır. 2012 wurde die Hüda Par gegründet, 2017 unterstützte sie Erdoğans Pläne für ein Präsidialsystem. Dafür entließ die AKP-Regierung einige ihrer Anhänger aus dem Gefängnis.

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Nun ist Erdoğan offenbar schon wieder einen gefährlichen Deal mit den Islamisten eingegangen. Die Hüda Par will Ehebruch kriminalisieren, sie fordert geschlechtergetrennten Unterricht an Schulen und Universitäten, und sie will ein Gesetz abschaffen, das in der Türkei Gewalt gegen Frauen und Kinder verbietet. Während Erdoğan die prokurdische HDP aufgrund ihrer angeblichen Nähe zur Terrororganisation PKK verbieten lassen möchte, bezeichnet er die Anhänger der Hüda Par als "Freunde", nimmt sie in seine Wahlallianz auf.

Unter seinen AKP-Anhängern ist das umstritten, denn vielen sind die Ansichten der Hüda Par zu radikal. Ende März kursierte ein Video von einem Reporter aus der türkischen Stadt Batman. "Wenn sie Erdoğan anfassen, werden wir ihnen die Köpfe abschlagen", sagte ein Mann auf einer Veranstaltung der Hüda Par. Danach schimpfte er gegen Armenier, Juden und Russen im Land. "Wir sind die Hizbullah, wir sind bereit für den Dschihad."

Das Demokratieverständnis in derartigen Aufnahmen weckt in der Türkei Ängste vor Unruhen und Straßenkämpfen, sollte Erdoğan die Wahl verlieren. Für vergleichsweise wenige Stimmen legitimiert der türkische Präsident radikale Kräfte und muss für ihre Unterstützung auch eine Gegenleistung zahlen. So hat der Präsident bereits angekündigt, gegen die LGBTQIA-Community in der Türkei vorgehen zu wollen.

Ehemaliger Widersacher hilft Erdoğan

Auf dem Papier erhöhen sich Erdoğans Chancen für einen Wahlsieg durch seine Bündnisse mit den Radikalen nur minimal. Da viele Meinungsforschungsinstitute in der Türkei politisch gefärbt sind, gibt es nicht wirklich einen Zwischenstand, der belastbar ist. Doch nur wenige Umfragen sehen den Amtsinhaber derzeit vorne. Kılıçdaroğlu liegt zwischen 46 und 57 Prozent, Erdoğan bei 40 bis 53 Prozent.

Seit Anfang März sehen im direkten Vergleich der beiden Kandidaten nur vier Umfragen Erdoğan vorne, Kılıçdaroğlu hingegen zwölf. Die Chancen für die kemalistische CHP auf einen Machtwechsel stehen also weiterhin gut.

Doch Erdoğan könnte am Ende von der Kandidatur eines ehemaligen Rivalen profitieren. Ausgerechnet der ehemalige CHP-Spitzenkandidat Muharrem İnce tritt mit seiner "Heimatpartei" Memleket an: Er war im Jahr 2021 verbittert aus der CHP ausgetreten, als er bei der Kandidatur um den Parteivorsitz verloren hatte. Ähnlich wie die CHP hat Memleket ein kemalistisch-sozialdemokratisches Programm und İnce steht in den Umfragen aktuell bei acht Prozent.

Letztlich könnte es der ehemalige CHP-Abgeordnete sein, der einen Sieg von Kılıçdaroğlu im ersten Wahlgang verhindert, weil dieser nicht über 50 Prozent der Stimmen kommt. In einem zweiten Wahlgang wird dann entscheidend sein, in welches Lager die Anhänger von İnce wechseln. Das gibt plötzlich İnce großen Einfluss: Entweder er mobilisiert für den von ihm verhasste Erdoğan oder die CHP-Parteiführung, gegen die er Wahlkampf macht. Nur eines steht fest: Es wird spannend.

Verwendete Quellen
  • morgenpost.de: Neue Erdogan-Verbündete haben unheimlichen Plan.
  • zeit.de: Allein der Islam rettet Erdoğan nicht.
  • sabah.com.tr: Başkan Erdoğan'dan coşkulu miting! Kılıçdaroğlu'na sert sözler: Bizi ağababalarına sor! (türkisch)
  • ahaber.com.tr: Başkan Recep Tayyip Erdoğan 40 ilde miting yapacak(türkisch)
  • medyanews.net: Self-declared Hizbullahist makes public death threat against opposition MPs in Turkey (englisch)
  • cumhuriyet.com.tr: Muharrem İnce'den Demirtaş'a yanıt: Hayır oyu verdim (türkisch)
  • tagesspiegel.de: Muharrem İnce könnte zum Spielverderber werden
  • tagesschau.de: Lira fällt auf tiefsten Stand seit 2005
  • faz.net: Für Erdogan wird es eng
  • zdf.de: Ince stellt Erdogan-Opposition vor Probleme
  • tagesschau.de: Erdogan muss um die Macht kämpfen
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