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Großbritannien kurz vor der Wahl: "Das ist nur noch betrunken zu ertragen"


Wahl in Großbritannien
"Das ist nur noch betrunken zu ertragen"

Von Patrick Diekmann, London

Aktualisiert am 08.12.2019Lesedauer: 6 Min.
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Der britische Premierminister Boris Johnson: Er versucht sich im Wahlkampf als Torwart.Vergrößern des Bildes
Der britische Premierminister Boris Johnson: Er versucht sich im Wahlkampf als Torwart. (Quelle: ap-bilder)

Die Briten wählen ein neues Parlament. Hat der Brexit-Stillstand dann ein Ende? In London hat das Chaos der letzten Jahre bei der Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen.

Er schreit so laut er kann. Gabriel steht im Londoner Regen, auf seiner Schulter trägt er ein großes Kreuz aus Holz. "Jesus ist wieder da", ruft er. "Er ist gekommen, um uns zu retten." Seinen Namen hat mir eine Passantin gesagt. Ob er stimmt oder ob es nur eine Anspielung auf den Erzengel ist, weiß ich nicht. Gabriel steht an der Westminster Bridge, keine 200 Meter entfernt vom britischen Parlament. "Jesus bringt uns Liebe, ihr müsst keine Angst haben", schreit er als ginge es um sein Leben. Ich habe Angst, vor allem vor Gabriel. Kinder neben mir erschrecken sich, die meisten Passanten gehen einfach an ihm vorbei, einige lachen.

Gabriels Gruppe verteilt an der Brücke gelbe Flyer mit einem lachenden Gesicht auf dem Cover. "Warte nicht, bete. Vier Gründe, warum du lachen solltest", heißt es darin. Zu Lachen gibt es dieser Tage in Großbritannien allerdings wenig, zumindest nicht hier im politischen Herzen Londons.

Teile des britischen Parlaments und der Big Ben sind eine Baustelle. Baugerüste verdecken die Sicht auf zwei der großen Londoner Monumente. Die Großbaustellen sind Sinnbilder für den aktuellen Zustand der britischen Demokratie. Das Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen des Landes liegt in Trümmern, zu lang dauert nun der politische Stillstand, zu lang hält das Chaos um den Brexit an.

Auch deshalb ist das Interesse vieler Briten an der Parlamentswahl am Donnerstag nicht vorhanden, sie wird als unangenehme Bürgerpflicht empfunden. Die zur Wahl stehenden Spitzenkandidaten genießen wenig Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Viele werden kommende Woche das kleinere Übel wählen und auf ein Ende der politischen Instabilität im Land hoffen.

Kein Straßenwahlkampf, nur Weihnachten

Gabriels Gruppe fundamentaler Christen sind aber die Einzigen, die am Freitag hier an der Straße stehen und für etwas werben. Aber nicht für eine Partei. Es sind nur noch sechs Tage bis zur Wahl, doch den Wahlkampf suche ich hier vergeblich. Auf der Straße sind keine Plakate zu sehen, die Parteien haben keine Stände aufgebaut und es gibt auch keine Menschen, die Flyer verteilen.

Auf der Westminster Bridge treffe ich Violet. Sie lebt seit 20 Jahren in London, hat schon hier studiert. "Es steht Weihnachten vor der Tür, das ist für mich wichtiger als die Wahl", sagt die 44-Jährige. "Ich wünsche mir Ruhe im Land. Eigentlich mag ich weder Boris Johnson noch Jeremy Corbyn. Aber Johnson ist immerhin einer von uns, ein richtiger Brite." Der Sozialist Corbyn sei für sie unwählbar, weil er für Verstaatlichung stehe.

Die beiden Spitzenkandidaten sind in der britischen Bevölkerung unbeliebt. Weniger als die Hälfte der Briten hält Johnson für einen guten Premierminister, dem jetzigen Oppositionsführer und Labour-Chef Corbyn wird der Job von gerade mal einem Viertel zugetraut.

"Brexit hat das Land gespalten"

Zu den unpopulären Spitzenpolitikern mischt sich bei vielen Briten eine zunehmende Politikverdrossenheit. "Wir müssen schon wieder wählen, aber viel wird sich dadurch nicht ändern", erklärt Violet. "Der Brexit hat das Land in zwei Teile gespalten."

In Großbritannien ist es seit 2015 bereits die dritte Parlamentswahl, die ehemalige Premierministerin Theresa May und ihr Nachfolger Boris Johnson wollten sich mit der vorgezogenen Wahl jeweils Rückendeckung für ihren Brexit-Kurs sichern. Das Ergebnis war jedoch bislang immer noch größerer Stillstand in Großbritannien.

Auch was diese Wahl für den EU-Austritt Großbritanniens bedeutet, ist vielen Briten noch unklar. Sollte Johnson eine klare Mehrheit erreichen, könnte er schon bald mit der Ratifizierung seines Brexit-Abkommens beginnen. Er kündigte bereits an, noch vor Weihnachten über seinen Austrittsdeal abstimmen zu lassen. Der EU-Austritt soll dann bis zum 31. Januar vollzogen werden. Eine Verlängerung wäre zwar bis Ende Juni noch möglich, doch das hat Johnson bereits ausgeschlossen.

Corbyn will dagegen innerhalb von drei Monaten einen neuen Brexit-Deal mit enger Anbindung an die EU aushandeln und sechs Monate später den Briten in einem Referendum vorlegen, die Alternative wäre ein Verbleib in der Staatengemeinschaft. Der Labour-Chef vermeidet ein klares Bekenntnis für den Verbleib der Briten in der EU, in seiner Partei gilt er als EU-Skeptiker.

Dies sorgt aber auch dafür, dass die Wahl nicht als Abstimmung über den Brexit wahrgenommen wird. Corbyn versucht eher mit den Themen Wohnungsnot und mit einer Reformierung des Gesundheitssystems zu punkten. Bislang ohne Erfolg. Und so reden die Menschen in London auf der Straße nicht über Politik. "Seit der letzten Wahl haben die Parteien ihre Politik nicht geändert", meint Violet.

Es läuft Fußball

Ein paar Stunden später am Freitagabend sendet der Fernsehsender BBC die letzte große TV-Debatte zwischen Johnson und Corbyn. Ich lasse Gabriel und die zahlreichen Touristengruppen in Westminster hinter mir, fahre in das Londoner Viertel Lisson Grove. In der Nähe der Baker Street gibt es zahlreiche Pubs, alle sind am Abend gut gefüllt. Die Menschen sitzen hier in Gruppen zusammen, trinken Bier und unterhalten sich lautstark.

Auch im "Allsop Arms" steht eine kleine Gruppe von Menschen vor der Tür. Da in den Pubs in Großbritannien größtenteils das Rauchen verboten ist, stehen die Menschen draußen. Je später der Abend und je angetrunkener die Gäste, desto lauter wird es auf den Straßen. Bis zur Sperrstunde.

In vielen Pubs gibt es Fernseher, meistens läuft hier Fußball oder anderer Live-Sport wie Snooker. Aber auch am Abend der TV-Debatte? Um 20.30 Uhr startet die Wahl-Debatte der BBC. Im "Allsop Arms" laufen die Sky-Sportnachrichten, danach wird auf das Fußballspiel Millwall gegen Nottingham geschaltet, die in der britischen zweiten Liga aufeinander treffen.

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"Not gegen Elend"

Ich setze mich an einen der kleinen runden Tische am hinteren Ende des Pubs. Hier treffe ich Henry, der 53-Jährige ist fast jeden Abend hier, zusammen mit zwei Freunden. "Ich habe keine Lust mehr auf die Politiker. Das ist nur noch betrunken zu ertragen", sagt der gelernte Gärtner. "Für mich ist diese Wahl, wie das Wetten auf ein Fußballspiel. Wette nie auf ein Team, wenn Not gegen Elend spielt."

Dabei ist das Rennen zwischen der Labour-Partei und Johnsons Tories eng, auch wenn die Konservativen des Premierministers deutlich in Führung sind. Das britische Wahlrecht macht Voraussagen sehr schwer. Selbst ein deutlicher Vorsprung in den Umfragen bedeute nicht unbedingt eine große Mehrheit im Unterhaus, warnt der renommierte Wahlforscher John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow.

Wer also meint, das Rennen sei bereits gelaufen, könnte sich täuschen. "Falls irgendjemand zu Ihnen kommen und sagen sollte, er wisse, was passieren wird, ziehen Sie eine Augenbraue hoch, lächeln Sie freundlich und wenden Sie sich ab", sagte BBC-Moderator Andrew Marr dazu kürzlich.

Kein gutes Zeichen für ein Land

Im "Allsop Arms" interessiert der Wahlkampf trotzdem kaum jemanden. Es wird gelacht, getrunken und es läuft laute Musik. Die Stimmung ist ausgelassen. "Ich schaue in meiner Freizeit lieber Fußball, auf Politik habe ich seit dem Brexit-Referendum keine Lust mehr", meint der 47-jährige Henry, der in dem Pub schon mehrere Stunden am Tresen steht. "Ich gehe aber wählen, weil es meine Bürgerpflicht ist."

Nach dem Gespräch mit Henry verlasse ich den Pub, auf der Suche nach einem Ort, wo die TV-Debatte gezeigt wird. Das Duell neigt sich im Fernsehen parallel schon dem Ende entgegen, während ich durch die Straßen laufe. In den meisten Pubs läuft Fußball, manchmal sind auch nur Sportnachrichten zu sehen. Wenige hundert Meter weiter, im "The Bell House", werde ich schließlich fündig.

Hier läuft das TV-Duell, allerdings tonlos und lediglich mit Untertiteln. Doch auch hier wird von den Gästen dem Fernseher keinerlei Beachtung geschenkt. Dagegen wird gesungen und zu Weihnachtsliedern getanzt. "Jingle Bells", schallt aus mehreren großen Boxen des ansonsten kleinen Ladens.

Die Debatte endet unbemerkt, danach läuft das Programm der BBC weiter. Tonlos, mit Untertiteln. Der Ausgang des Duells ist denkbar knapp: Einer Blitzumfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge sind die Zuschauer gespalten in der Frage, wer die Debatte gewonnen hat. 52 Prozent sehen Johnson als Sieger, für 48 Prozent schnitt Corbyn besser ab.

Davon werde ich aber erst später im Hotel erfahren. Zwei Männer laden mich an ihren Tisch ein. John und Igor sind schon angetrunken. Sie regen sich auf, über das Wetter, über einen Freund und über den Chef von John. Mit keinem Wort sprechen sie über Politik. Kein gutes Zeichen für ein Land, wenige Tage vor einer Wahl.


Aber in Großbritannien ist in den letzten Jahren viel passiert, die führenden Politiker und Parteien haben viel Vertrauen verloren. Viele Briten nehmen das, was in der Politik passiert, mittlerweile mit Gleichgültigkeit hin. "Auch vor dem Brexit habe ich keine Angst mehr", sagt der 35-jährige John. "Dann geht immerhin mal etwas voran und wir haben nicht ewig die gleichen Debatten."

Doch mehr möchte er nicht über Politik sprechen. Hier gehe es um Spaß, der Abend sei fast vorbei. Igor und John holen sich noch jeweils drei Bier vom Tresen. Gleich ist Sperrstunde.

Verwendete Quellen
  • eigene Recherche vor Ort
  • mit Material von dpa und Reuters
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