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Zweite Corona-Welle in Frankreich: Wut und Verzweiflung nach Covid-19-Explosion


Die Wut nach der Corona-Explosion

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 25.09.2020Lesedauer: 6 Min.
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Restaurant- und Barbesitzer demonstrieren in Marseille gegen eine Anordnung der französischen Regierung: Dort sollen alle Lokale ab Samstag schließen.Vergrößern des Bildes
Restaurant- und Barbesitzer demonstrieren in Marseille gegen eine Anordnung der französischen Regierung: Dort sollen alle Lokale ab Samstag schließen. (Quelle: dpa-bilder)

Frankreich verzeichnet einen erschreckenden Rekord bei den Neuinfektionen, aber viele Bürger reagieren sauer auf die neuen Maßnahmen der Regierung. Die Corona-Karte in Europa färbt sich rot.

Deutschland wird in der Corona-Pandemie immer mehr zum gallischen Dorf in Europa. In den "Asterix & Obelix"-Comics von René Goscinny ist es das kleine Dorf in Frankreich, in dem das Leben bleibt, wie es ist – und das Widerstand leistet gegen die Übermacht der Römer.

Das Dorf ist gegenwärtig die Bundesrepublik, zumindest wenn es um die Ausbreitung des Coronavirus in Europa geht. Die zweite Welle der Pandemie hat Deutschland noch nicht erreicht, aber schon 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten werden vom Robert Koch-Institut als Risikogebiete eingestuft. Die Corona-Karte Europas färbt sich weiter rot.

Explodierende Infektionszahlen in Frankreich

Besonders schlimm ist die Situation in Frankreich, dem Herkunftsland des verstorbenen Comiczeichners Goscinny. Das Coronavirus breitet sich rasant im ganzen Land aus. Die Regierung setzte im Frühjahr auf strenge Maßnahmen, doch mit Beginn des Sommers wurden diese aufgehoben. Das Leben in Frankreich ging weiter – so, wie vor der Krise. Das führte zu einem zentralen Problem: Die Politik vermochte es nicht, die Bevölkerung für Abstands- und Hygienebestimmungen zu sensibilisieren. Ein großes Versäumnis, das sich nun rächt.

Die französische Regierung meldete am Donnerstag eine erschreckende Zahl: In 24 Stunden wurden 16.096 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet – rund 3.400 mehr Neuansteckungen als beim vorherigen Höchststand. Gleichzeitig stieg die Zahl der Menschen, die mit einer Infektion gestorben sind, innerhalb eines Tages um 52. Seit Anfang September sind in Frankreich die Infektionen explodiert, allein in den vergangenen 14 Tagen gab es mehr als 140.000 Neuinfektionen.

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Zur Einordnung: In Deutschland wurden in den vergangenen 14 Tagen mehr als 23.000 Neuinfektionen gemeldet, am Freitag waren es 2.153. In Frankreich sind es also fast acht mal so viele binnen 24 Stunden. In der Bundesrepublik gibt es momentan insgesamt knapp über 22.000 akute Infektionen, in Frankreich sind es über 408.000. (Stand 25. September, 14 Uhr)

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Allein diese Zahlen zeigen: Die zweite Welle ist in Frankreich längst angekommen. Dabei wurde das Land schon im Frühjahr hart von der Pandemie getroffen, bislang wurden mehr als 536.000 Infektionen und mehr als 31.500 Tote gemeldet.

Zur Einordnung: Deutschland hatte mehr als 280.000 gemeldete Infektionen und mehr als 9.400 Menschen, die mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben sind.

Regierung schlägt Alarm

Der starke Anstieg der Neuinfektionen alarmiert die französische Regierung. Sie verschärfte bereits am Mittwoch die Maßnahmen vor allem in den Großstädten. In der am stärksten betroffenen Stadt Marseille müssen ab Samstag alle Bars und Restaurants schließen. In Paris und anderen Großstädten werden Großveranstaltungen mit mehr als tausend Teilnehmern untersagt. Das betrifft auch das Grand-Slam-Tennisturnier der French Open ab Sonntag, das die Publikumszahl zuvor bereits reduzieren musste.

Im Großraum um die südfranzösischen Städte Marseille und Aix-en-Provence gilt nun die zweithöchste Corona-Warnstufe, ebenso wie für das Überseegebiet Guadeloupe in der Karibik. Steigen die Infektionszahlen dort weiter, drohen Ausgangsbeschränkungen, wie sie bereits zwischen März und Mai galten.

In Paris und zehn weiteren Großstädten werden nun Versammlungen von mehr als zehn Menschen etwa in Parks und auf Plätzen untersagt. Dort können die Präfekturen eine teilweise Schließung von Bars und Restaurants verhängen. Für Großveranstaltungen mit bis zu tausend Teilnehmern muss ein strenges Hygienekonzept vorgelegt werden. Bisher lag die Grenze bei 5.000 Teilnehmern.

"Die Situation verschlechtert sich weiter", sagte Gesundheitsminister Oliver Véran am Mittwoch im Fernsehen. "Vor allem der Druck auf die Krankenhäuser erfordert es, dass wir zusätzliche Maßnahmen ergreifen."

Unvernunft und die Tatenlosigkeit der Politik

Ähnlich wie Spanien hatte Frankreich im Frühjahr mit strengen Maßnahmen auf die Pandemie reagiert. Es gab Ausgangssperren, die Bevölkerung durfte nur zum Einkaufen und Arbeiten vor die Tür, bei Polizeikontrollen mussten die Menschen Passierscheine vorzeigen. Mit Einzug des Sommers kam auch die Atempause in der Pandemie, die Infektionszahlen sanken auch in Frankreich.

Die Maßnahmen wurden aufgehoben, die französische Regierung setzte auf ein Ampelsystem, wie es auch Deutschland anwendet. Auf Infektionsherde in Frankreich soll mit regionalen Maßnahmen reagiert werden. Damit will Präsident Emmanuel Macron vor allem einen zweiten landesweiten Lockdown vermeiden, auch um die Wirtschaft vor weiterem Schaden zu bewahren.

Aber während die Wirtschaft sich langsam vom ersten Lockdown erholte, verpasste es die Politik, die Bevölkerung für Hygienemaßnahmen zu sensibilisieren. Viele Menschen in Frankreich führten ihr Leben größtenteils so weiter wie vor der Pandemie. Es gab Partys, die Bevölkerung und Touristen tummelten sich in Massen an den Stränden der französischen Mittelmeerküste. Die strikten Maßnahmen im Frühjahr führten besonders beim jüngeren Teil der Bevölkerung dazu, die wiedergewonnene Freiheit im Sommer voll auszukosten. Es mischte sich menschliche Unvernunft mit einer Politik, die nur zusah.

"Viele Leute nehmen es nicht ernst"

Besonders deutlich wird diese Entwicklung im Corona-Hotspot Marseille. Die Berlinerin Lisa Heinemann hat die südfranzösische Stadt im Sommer erlebt und war auch die vergangenen Septembertage vor Ort. "Im Sommer wurde die Corona-Pandemie hier total ignoriert und jetzt, wo die Fallzahlen wieder steigen, sind die Maßnahmen sehr radikal", berichtet sie im Gespräch mit t-online. "Die Regierung schafft es nicht, die Menschen zu einem vernünftigen Umgang mit Corona zu bringen. Jetzt mit den strikten Maßnahmen ist die Pandemie sichtbar geworden, anders als im Sommer. Aber viele Leute nehmen das immer noch nicht richtig ernst."

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Marseille und sein Umland sind am stärksten von der zweiten Welle betroffen. Zuletzt wurden dort 281 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner registriert, fast das Sechsfache des Warnwerts. Trotzdem protestierten am Freitag in der Hafenstadt Hunderte Gastronomen gegen die angekündigte Schließung aller Bars und Restaurants. Der regionale Arbeitgeberverband warnte in einer Erklärung vor einem "wirtschaftlichen Lockdown", denn auch Fitnessstudios und andere Einrichtungen sind betroffen.

Wut auf der Straße in Marseille

Die Gastronomie ist nach dem ersten Lockdown im Frühjahr vor allem eines: verzweifelt. "Rettet unsere Arbeitsplätze, rettet unsere Unternehmen", war auf einem Banner vor dem Handelsgericht zu lesen. "Der Kelch ist voll", sagte ein Restaurantbesitzer aus dem benachbarten Aix-en-Provence, der ebenfalls zumachen muss. "Wir waren gerade dabei, wieder auf die Beine zu kommen." Eine Reihe von Gastronomen haben angekündigt, sich der Anordnung der Pariser Zentralregierung zu widersetzen.

Der Präsident der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, Renaud Muselier, will juristisch gegen die neuen Einschränkungen vorgehen. Er sieht in ihnen eine "kollektive Bestrafung" für die rund 1,9 Millionen Menschen im Ballungsraum Marseille. Frankreichs Gesundheitsminister Véran wollte das größte städtische Krankenhaus in Marseille am Freitagnachmittag besuchen. Er wurde bei der Demonstration symbolisch ausgebuht. Véran hatte angekündigt, dass für Marseille und das Überseegebiet Guadeloupe die "maximale Alarmstufe" ausgerufen werde.

Sorge um Überlastung der Krankenhäuser

Das Verständnis für strengere Maßnahmen ist bei Teilen der Bevölkerung nicht vorhanden, im Sommer wurde die Öffnung vieler Bars, Restaurants und Kneipen euphorisch gefeiert. Macron würdigte die Gastronomiebetriebe als Symbole des "französischen Esprits, unserer Kultur und Lebenskunst". Ihre erneute Schließung nährt die Ängste vor einer neuen landesweiten Ausgangssperre. Nun will der Präsident nicht in die Schusslinie der Proteste geraten, schickt meist seine Minister vor.

So appellierte Regierungschef Jean Castex im Fernsehen an die gemeinsame Verantwortung der Franzosen. Er argumentierte, durch die verschärften Maßnahmen könne ein weiterer Lockdown vermieden werden.

Besondere Sorgen macht der Regierung das Gesundheitssystem, schon im Frühjahr waren einige Krankenhäuser ausgelastet, Deutschland nahm Patienten aus dem Nachbarland auf. Jetzt treffen einige Krankenhäuser wieder Vorkehrungen. In Pariser Krankenhäusern beispielsweise haben sie die Zahl der Operationen um 20 Prozent reduziert, da derzeit mehr als 25 Prozent der Intensivbetten in der Hauptstadt mit Covid-19-Patienten belegt sind und mehr Kapazitäten geschaffen werden sollen.

Der Schlüssel ist Vernunft

Damit es nicht zu einer Überlastung der Krankenhäuser kommt, sind vor allem zwei Dinge nötig: Vernunft und Solidarität in der Bevölkerung. Frankreichs Regierung hat momentan die Kontrolle über die Pandemie verloren, das System der regionalen Eindämmung ist gescheitert. Eben weil es an zu vielen Stellen diese Vernunft im Sommer nicht gab.

Das Scheitern der Corona-Politik liegt also nicht an den Maßnahmen und an deren Strenge. Das Ping-Pong-Spiel der französischen Regierung zwischen Lockdown und großer Freiheit hat nicht funktioniert, weil es in der Bevölkerung kaum Verständnis für sehr strikte Maßnahmen gibt – trotz alarmierender Infektionszahlen. Und dieses Problem besteht noch immer.

Die Lagen in Spanien und Frankreich sind auch mahnende Beispiele für Deutschland, dem gallischen Dorf in der Pandemie. Das hat nach Ansicht des Berliner Virologen Christian Drosten aber nichts mit Widerstandsfähigkeit zu tun. In einer Pandemie sei das schlichtweg Glück, sagte Drosten in einem Video auf Twitter. Ein Glück, das Deutschland nutzen sollte, um sich vorzubereiten und eine zweite Welle vielleicht sogar zu verhindern. Nicht nur mit Maßnahmen, sondern vor allem mit Vernunft.

Verwendete Quellen
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