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Bergkarabach | Armenien: Aserbaidschan schickt Bodentruppen in Konfliktregion


Einsatz von Bodentruppen in Bergkarabach
Armenien: Aserbaidschan greift an – Städte unter Beschuss

Von afp, dpa, mam

Aktualisiert am 19.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Angriffe in Bergkarabach: In Videos sind weitere Schüsse und Luftalarm zu hören. (Quelle: t-online)
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Aserbaidschan hat Truppen in die Region Bergkarabach entsendet. Mehrere Städte stehen unter Beschuss. Die Türkei hat der aserbaidschanischen Regierung in Baku offenbar Unterstützung zugesagt.

Die aserbaidschanische Armee hat nach Angaben des armenischen Regierungschefs Nikol Paschinjan einen Einsatz am Boden in der umstrittenen Kaukasus-Region Bergkarabach gestartet. Aserbaidschan habe einen "Einsatz mit Bodentruppen" mit dem Ziel losgetreten, die "ethnische Säuberung" gegen die armenische Bevölkerung in der Region zu betreiben, sagte Paschinjan am Dienstag in einer Fernsehansprache. Armenien sei "nicht in Kampfhandlungen verwickelt", die Lage an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze sei derzeit "stabil".

Aserbaidschan hat nach eigenen Angaben am Dienstag mit Militäreinsätzen in der Region Bergkarabach begonnen. Mehrere Städte der Kaukasus-Region sind am Dienstag nach Angaben örtlicher Behördenvertreter Aserbaidschans angegriffen worden. "Im Moment stehen die Hauptstadt Stepanakert und andere Städte und Dörfer unter intensivem Beschuss", erklärte die in Armenien ansässige Vertretung von Bergkarabach auf dem Onlinedienst Facebook. Aserbaidschan habe eine "groß angelegte Militäroffensive" gestartet.

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium in Baku teilte zuvor mit, die Angriffe richteten sich gegen armenische Kräfte und bezeichnete sie als "Anti-Terroreinsätze". Es wirft Armenien vor, dass es in den vergangenen Monaten "systematischen Beschuss" sowie Verstärkung von Angriffsstellungen armenischer Kräfte gegeben habe. Aserbaidschan setze nun "Hochpräzisionswaffen" ein, um Kampffahrzeuge und "militärische Ziele" der armenischen Truppen anzugreifen, heißt es weiter in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums.

Aserbaidschan fordert Auflösung der Regierung in Stepanakert

Das aserbaidschanische Außenministerium forderte in einer Mitteilung zudem den vollständigen Abzug der armenischen Truppen und die Auflösung der Regierung in Stepanakert. "Der einzige Weg, Frieden und Stabilität in der Region zu erreichen, ist der bedingungslose und vollständige Abzug der armenischen Streitkräfte aus der Region Karabach in Aserbaidschan und die Auflösung des Regimes", heißt es in einer Erklärung.

Zuvor wurden aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet. Aserbaidschanische Sicherheitskräfte hatten mitgeteilt, zwei Zivilisten seien auf einer Straße in Richtung der Stadt Schuscha im aserbaidschanisch kontrollierten Teil Bergkarabachs durch eine von armenischen "Sabotagegruppen" gelegte Mine getötet worden. Vier Polizisten wurden demnach später auf dem Weg zum Explosionsort bei einer weiteren Minenexplosion getötet. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Armenien bezeichnet Vorwurf von Aserbaidschan als "erlogen"

Der frühere Regierungschef der international nicht anerkannten Republik Arzach in Bergkarabach, Ruben Wardanjan, berichtete hingegen auf seinem Telegram-Kanal von massivem Artilleriefeuer auf das Gebiet. "Die Führung von Armenien muss Arzach anerkennen und sich dem Schutz unserer Bürger anschließen", forderte er als Konsequenz.

Die Anschuldigungen aus Baku wies auch die aktuelle Führung der Konfliktregion um die Hauptstadt Stepanakert zurück. Der Vorwurf, die Feuerpause gebrochen und zwei aserbaidschanische Soldaten verletzt zu haben, sei "erlogen und entspricht nicht den Tatsachen", heißt es in einer Mitteilung. Die Verteidigungskräfte hielten sich an den Waffenstillstand, teilte das Verteidigungsministerium von Arzach in einer Pressemitteilung mit. Armenien sei demnach weder mit militärischem Personal noch Gerät in Bergkarabach vertreten.

Andranik Shirinyan, Vertreter des Freedom House in Armenien, berichtete auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) derweil, dass die Kommunikation mit Bergkarabach schwierig sei, da Teile der Region durch den Beschuss offenbar vom Internet abgeschottet wurden. Aserbaidschan gehe demnach gezielt gegen die Kommunikationsinfrastruktur in der Region vor, obgleich es behauptet, nur militärische Ziele anzugreifen.

Auch Gegham Stepanyan, der Menschenrechtsverteidiger von Bergkarabach, warf Aserbaidschan vor, zivile Infrastruktur unter Beschuss zu nehmen. Auf X warnt er vor einem Völkermord. Ähnlich äußerte sich Sergey Ghazaryan, Außenminister der Region Arzach: "Jetzt erleben wir, wie Aserbaidschan bei der Umsetzung seiner Völkermordpolitik zur physischen Vernichtung der Zivilbevölkerung und zur Zerstörung ziviler Objekte übergeht", sagte er "CivilNet". Videoaufnahmen, die Reporter vor Ort in den sozialen Medien teilen, sollen diese Vorwürfe belegen.

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Aserbaidschan blockiert Latschin-Korridor

Bereits in den vergangenen Monaten war die Sorge bei internationalen Beobachtern gewachsen, dass der Konflikt in der Region eskalieren könnte. Aserbaidschan hatte über mehrere Wochen hinweg den sogenannten Latschin-Korridor blockiert – die einzige Straße, auf der Lebensmittel, Medizin und Hilfsgüter nach Bergkarabach gelangen können. Die Region im Kaukasus, um die Armenien und Aserbaidschan in den vergangenen Jahren erbittert gekämpft haben, ist überwiegend von Armeniern bevölkert.

Die Öffnung des Latschin-Korridors wurde im Waffenstillstandsabkommen, das den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 beendete, vereinbart – und russische Friedenstruppen sollten dieses Abkommen überwachen. Doch dieses Vorhaben scheiterte. In den vergangenen Wochen waren die mehr als 100.000 Bewohner Bergkarabachs von der Außenwelt größtenteils abgeschnitten. Hier lesen Sie mehr dazu, wie es ihnen ergangen ist.

Die Vereinten Nationen warfen Aserbaidschan daraufhin in den vergangenen Wochen vor, eine humanitäre Krise in Bergkarabach zu schaffen. Der einstige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, bezeichnete das Vorgehen Aserbaidschans im Interview mit t-online als Völkermord.

Der Konflikt um Bergkarabach

Der Konflikt ist einer der ältesten der Neuzeit. Die Führung der Sowjetunion sprach das überwiegend armenisch bewohnte Gebiet 1921 Aserbaidschan zu. Dagegen gab es in Bergkarabach immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er-Jahre ein blutiger Konflikt ausbrach, in den schließlich auch Armenien einstieg und gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs die Region unter ihre Kontrolle brachte. 2020 startete Aserbaidschan eine Offensive, um die Region zurückzuerobern. Bergkarabach selbst bezeichnet sich als unabhängig, in einer UN-Resolution wurde das Gebiet bis zu einer endgültigen Lösung des Konflikts Aserbaidschan zugesprochen.

Konflikt spitzte sich auch militärisch zu

Unterdessen eskalierte der Konflikt in der Kaukasusregion auch militärisch immer weiter. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan warfen sich Anfang September vor, Soldaten der jeweils gegnerischen Seite getötet zu haben. Mehr dazu lesen Sie hier. Überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.

Beobachter allerdings warnten davor, dass Aserbaidschan einen Vorwand suchen könnte, um Bergkarabach anzugreifen. So wurde in den vergangenen Monaten vermehrt aserbaidschanisches Militär in der Grenzregion gesichtet.

"Mit Ausnahme des Kriegs im Jahr 2020 haben wir in mehr als sieben Jahren unserer Berichterstattung nie so viele Videos von Social-Media-Nutzern aus Aserbaidschan gesehen, die Militärpersonal, Kolonnen und Truppenbewegungen zeigen", schrieb etwa der "Nagorno Karabakh Observer" Anfang September auf X. Und ergänzte: "Schwer zu glauben, dass all das nur Übungszwecken dient."

Türkei sichert Aserbaidschan offenbar Unterstützung zu

Relevant dabei ist: Armeniens Militär ist dem seines Nachbarn deutlich unterlegen – ein Interesse daran, Aserbaidschan mit Angriffen zu provozieren, dürfte hier deutlich geringer ausgeprägt sein als umgekehrt. Außerdem darf sich die aserbaidschanische Regierung in Baku der militärischen Rückendeckung der Türkei sicher sein. Bereits kurz nach den ersten Angriffen auf Bergkarabach vermeldete das aserbaidschanische Verteidigungsministerium, dass der Verteidigungsminister Zakir Hasanov mit seinem türkischen Amtskollegen Yaşar Güler telefoniert und dieser ihm die Unterstützung der Türkei zugesichert habe.

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Die Schutzmacht Armeniens hingegen ist Russland, dessen Soldaten eigentlich auch den Latschin-Korridor vor einer Blockade bewahren sollten. Doch in Moskau hält man sich zurück. "Russland hat eigene Interessen, die nicht unbedingt mit den Interessen der Armenier oder der Aserbaidschaner überlappen", sagte Politologe Stefan Meister zuletzt im Interview mit t-online – und erklärte, wie das mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu tun hat. Hier lesen Sie das ganze Interview.

EU fordert sofortigen Stopp des aserbaidschanischen Angiffs

International löste der Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach Bestürzung aus. Russland rief zur Beendigung der Kämpfe zwischen den Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Armenien auf. "Wir sind tief besorgt wegen der scharfen Eskalation der Lage in Bergkarabach", sagte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, am Dienstag bei einem Pressebriefing zu der Auseinandersetzung um die Konfliktregion. Zugleich wies sie die in Armenien erhobenen Vorwürfe zurück, dass Russland in die Angriffspläne Aserbaidschans eingeweiht gewesen sei. Die dort stationierten russischen Truppen hätten erst Minuten vor dem Beginn des Militäreinsatzes davon erfahren.

Die Ex-Sowjetrepublik Armenien hatte den UN-Sicherheitsrat und Russland zuvor dazu aufgerufen, Maßnahmen zur Beendigung des von Aserbaidschan begonnenen Militäreinsatzes in Bergkarabach zu ergreifen. Es seien "klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression" nötig, heißt es in einer von armenischen Medien am Dienstag verbreiteten Mitteilung des Außenministeriums in Eriwan. Regierungschef Nikol Paschinjan hat wegen der Eskalation derweil eine Dringlichkeitssitzung des nationalen Sicherheitsrats einberufen.

Die Europäische Union forderte "ein sofortiges Ende der Feindseligkeiten" und rief Aserbaidschan auf, die derzeitigen militärischen Aktivitäten einzustellen. Das teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag mit. Auch EU-Ratspräsident Charles Michel forderte die Regierung in Baku auf dem Kurznachrichtendienst X dazu auf, das militärische Vorgehen gegen die Region unverzüglich einzustellen, um einen "echten Dialog zwischen Baku und den Armeniern Karabachs" zu ermöglichen. Bujar Osmani, der Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), forderte eine "sofortige Deeskalation".

Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat Aserbaidschan zum sofortigen Stopp seines militärischen Vorgehens in der Kaukasus-Region Bergkarabach aufgefordert. "Aserbaidschan muss den Beschuss sofort einstellen und an den Verhandlungstisch zurückkehren", erklärte Baerbock am Dienstag am Rande der UN-Vollversammlung in New York. "Die Zusage Bakus, von militärischen Maßnahmen abzusehen, wurde gebrochen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • mva.goz.az: Pressemitteilungen vom 19. September 2023 (aserbaidschanisch)
  • civilnet.am: Արցախի ԱԳՆ-ն միջազգային հանրությունից գործուն քայլեր է պահանջում՝ Ադրբեջանի ագրեսիան դադարեցնելու համար (armenisch)
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