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Krise in Afghanistan | Unicef-Chef: "Sie sind in einem Teufelskreis"


Krise in Afghanistan
"Sie sind in einem Teufelskreis"

InterviewVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 31.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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Winter in Afghanistan: Ein Mann sitzt in Kabul im Schnee und wartet auf einen Job als Tagelöhner.Vergrößern des Bildes
Winter in Afghanistan: Ein Mann sitzt in Kabul im Schnee und wartet auf einen Job als Tagelöhner. (Quelle: Saifurahman Safi/imago-images-bilder)

Millionen Afghanen leiden unter einer Hungersnot, schon Neugeborene sterben an Mangelernährung. Der Chef von Unicef Deutschland hat dort Kliniken besucht – und berichtet über die dramatische Situation.

Der Winter ist eisig, die Nahrungsmittelpreise hoch, die Wirtschaft liegt am Boden: Afghanistan steckt ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban in einer massiven Krise. Die Bevölkerung leidet massiv, Millionen Menschen sind auf Hilfe von außerhalb angewiesen.

Christian Schneider leitet das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, in Deutschland und war in der vergangenen Woche in Afghanistan unterwegs. Im Interview berichtet er über die dramatische Lage in den Krankenhäusern, worunter die Kinder besonders leiden und wie Afghanistan geholfen werden kann.

t-online: Herr Schneider, für Afghanistan wurde nach der Machtübernahme der Taliban die "Hölle auf Erden" vorausgesagt. Sie waren nun einige Tage dort unterwegs. Ist das eingetroffen?

Christian Schneider: Die humanitäre Katastrophe ist in den wenigen Tagen, die ich im Land bin, überall greifbar und sichtbar geworden. Das beginnt schon im Straßenbild: Kinder, die betteln, arbeiten oder den Müll nach irgendwas Verwertbarem durchsuchen, sind allgegenwärtig. 23 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen – rund neun Millionen von ihnen leiden Hunger auf Notfallniveau. Vor allem die Lage der Kinder ist dramatisch.

Was sind die größten Probleme für die Kinder derzeit?

Es fehlt vor allem an Nahrung, dazu kommt ein strenger Winter. Nachts fallen die Temperaturen auf bis zu minus 15 Grad. Wir haben bei allen unseren Besuchen die Mütter gefragt, was ihre letzte Mahlzeit war. Darauf haben sie oft nur ausweichend geantwortet und von der schwierigen Entscheidung berichtet, ob sie ihr letztes Geld für Feuerholz oder für etwas Brot für die Kinder ausgeben. Das bedeutet auch, dass diese Mütter auf Nahrung verzichten, damit ihre Kinder etwas zu essen haben. Auch viele schwangere und stillende Frauen sind stark unterernährt, was wiederum dramatische Auswirkungen auf die Gesundheit ihrer Kinder hat.

Welche?

Auf einer Neugeborenenstation in Kabul, die wir besucht haben, sind viele Kinder zu früh und sehr geschwächt auf die Welt gekommen, haben danach auch noch zu wenig Muttermilch bekommen. Allein dort sind im vergangenen Monat 30 Neugeborene gestorben, weil sie es einfach nicht geschafft haben.

Sie waren neben Kabul vor allem in den ländlichen Provinzen Paktia und Logar unterwegs und haben dort Kliniken besucht. Wie ist die Situation dort?

In den ländlichen Regionen stellt sich zusätzlich die Frage, ob die Kinder das Krankenhaus überhaupt rechtzeitig erreichen. Auch hier stecken die Kinder in einem Teufelskreis. Ich habe in einer Klinik in der Stadt Zurmat ein fünfjähriges Mädchen getroffen, Yasmina. Sie war einige Tage zuvor schwer mangelernährt ins Krankenhaus gekommen und schon in einem lethargischen Zustand. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Leben in Gefahr war. Schon vor ein paar Monaten wurde sie aufgepäppelt, bekam therapeutische Nahrung und Medikamente wegen verschiedener Infektionen. Wieder zu Hause gab es jedoch nur verschmutztes Trinkwasser und kaum Nahrung. Ihr Zustand war schnell wieder lebensbedrohlich, sie musste zurück ins Krankenhaus.

Wie viele Kinder betrifft das?

In dem Krankenhaus sagte uns ein Arzt, dass sich die Zahl der lebensgefährlich mangelernährten Kinder dort in den vergangenen Wochen vervierfacht hat. In ganz Afghanistan rechnen wir mit mehr als einer Million Kindern, die so mangelernährt sind, dass sie ohne therapeutische Nahrung und Hilfe nicht lange überleben können. In Deutschland würde ein Kind in diesem Zustand auf eine Intensivstation kommen.

Christian Schneider (l.) beim Besuch in einem Krankenhaus in Afghanistan.
Christian Schneider (l.) beim Besuch in einem Krankenhaus in Afghanistan. (Quelle: Omid Fazel/Unicef)


Christian Schneider leitet seit 2010 Unicef Deutschland. In seiner Funktion als Geschäftsführer des Kinderhilfswerks besucht er immer wieder Krisenregionen der Welt. Zuvor arbeitete er bereits in verschiedenen Funktionen bei Unicef sowie als Journalist.

Sie hatten zu Beginn des Winters genau vor dieser Situation gewarnt: dass eine Million Kinder stark unterernährt sein wird und viele daran sterben könnten. Nun ist das eingetreten. Wie sehr frustriert Sie das?

Unser Team in Afghanistan kennt den Begriff Frustration offenbar nicht, sondern ist immer davon angetrieben, was es am nächsten Tag möglich machen kann. Das gilt vor allem für meine Kolleginnen und Kollegen, die nach der Machtübernahme die schwere Entscheidung getroffen haben, im Land zu bleiben. Die Hilfe vor Ort ist weiter möglich und wird ausgeweitet, auch wenn die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland eine andere ist.

Wie meinen Sie das?

Mein Eindruck ist: Viele Menschen in Deutschland glauben, dass wir in Afghanistan momentan ohnehin nicht helfen können. Dabei haben wir in den letzten Monaten die Zahl unserer Teams sogar weiter erhöht, sind in Regionen unterwegs, die wir bis vor wenigen Monaten noch nicht erreichen konnten. Wie das Krankenhaus in Zurmat: Jahrelang konnten wir dort nur Hilfsgüter hinsenden, aber nicht als Unicef vor Ort sein, weil die Sicherheitslage zu angespannt war.

Das heißt auch, dass Sie mit den Taliban zusammenarbeiten müssen.

Wir waren auch schon vor dem Machtwechsel in Regionen aktiv, die von den Taliban kontrolliert wurden. Unicef hat das ganz klare Mandat, sich für Kinder in Not einzusetzen. Das ist das, was wir tun. Deswegen gehen unsere Kolleginnen und Kollegen mit den De-facto-Machthabern in Verhandlungen. Mit Erfolg. Sie gewähren uns Zugang und ermöglichen auch unseren Mitarbeiterinnen die Arbeit. Das war uns enorm wichtig. Wir können so auch weiter die Schulbildung unterstützen. Bis zum Alter von zwölf Jahren gehen Jungen und Mädchen landesweit wieder in die Schule und wir hoffen, dass das bald wieder für alle Kinder möglich ist.

Das war auch ein Thema bei den Verhandlungen in Norwegen, wo sich westliche Vertreter mit den Taliban getroffen hatten. Danach gab es auch massive Kritik daran, dass die Radikalislamisten damit normalisiert würden.

Der Umgang mit den De-facto-Machthabern ist eine Sache der Politik. Ich kann nur raten, es auch aus der Sicht der afghanischen Bevölkerung und der Kinder zu betrachten. Die Not hier ist so groß, dass es keine Zeit gibt, auf eine diplomatische Antwort zu warten. Alles, was im Moment dazu beiträgt, die dringende humanitäre Hilfe für die Kinder weiter auszuweiten, ist für uns immens wichtig.

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Also ohne Zusammenarbeit keine humanitäre Hilfe?

Es gibt keine Alternative, als zu helfen. Es ist eine humanitäre, menschenrechtliche und auch einfach eine menschliche Verantwortung. Wir sprechen immerhin von 13 Millionen Kindern, die humanitäre Hilfe brauchen. Das sind so viele Kinder, wie in ganz Deutschland leben. Stellen Sie sich vor, jedes Kind in Deutschland müsste auf einmal mit sauberem Trinkwasser, Nahrung, medizinisch und teils auch psychologisch versorgt werden. Auch ein wohlhabendes Land wie Deutschland würde das überfordern.

Nun gab es in letzter Zeit nicht nur in Afghanistan oder auch in Syrien immer wieder Hilfeschreie von UN-Organisationen, dass zu wenig Geld da sei. Die UN rechnet allein für 2022 mit sieben Milliarden Euro, die es für die Arbeit in Afghanistan braucht – eine Rekordsumme. Ist das überhaupt realistisch?

Das hängt von der Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft ab, also von allen Regierungen und auch den internationalen Organisationen wie der Weltbank. Ein Beispiel, wie wichtig die finanzielle Unterstützung ist: In dem Krankenhaus in Zurmat hat das Gesundheitspersonal im vergangenen Jahr vier Monate kein Gehalt bekommen. Irgendwann müssen sie sich natürlich nach Alternativen umschauen, um ihre Familien zu versorgen.

Dank Geld von der Weltbank konnten wir dann über Unicef diese Menschen bezahlen und der Klinik Medikamente liefern. Von der internationalen Gemeinschaft gibt es auch schon erste Signale für mehr Geld. Auch die Bundesregierung unterstützt die Arbeit von Unicef bereits, damit wir Kinder versorgen können.

Geld ist zwar ein großer, aber nur ein Teil der Hilfe. Auf welche Materiallieferungen ist Afghanistan besonders dringend angewiesen?

Bei uns steht in diesen Wochen die Winterhilfe sehr stark im Vordergrund, also Jacken, Stiefel, Decken für Kinder. Weil das Geld schon für Nahrung zu knapp ist, reicht es bei vielen Familien nicht für Kleidung. Auf den Straßen sieht man viele Kinder, die bei Minustemperaturen barfuß in Schlappen unterwegs sind. Gleichzeitig wollen wir die Kinder weiter mit Schulmaterial ausstatten.

Was droht, wenn nicht bald genug Hilfe eintrifft?

Schon jetzt gelten 97 Prozent – also fast alle – Menschen in Afghanistan als arm. Für die Kinder heißt das, dass sich ihre Not weiter verschärfen könnte, Tag für Tag. Die Kinder etwa, die wir hier in der vergangenen Woche getroffen haben, könnten diesen Kampf ums Überleben verlieren. Das ist meine Sorge für jedes einzelne Kind: Dass die Hilfe sie nicht schnell genug erreicht.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Christian Schneider
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