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EU-Gipfel in Brüssel: Hört auf, die EU kaputtzureden!


Corona-Gipfel in Brüssel
Hört auf, die EU kaputtzureden!

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 23.07.2020Lesedauer: 6 Min.
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Ursula von der Leyen und Charles Michel: Auf dem EU-Gipfel kam ein Kompromiss zustande. Das sollten wir würdigen, sagt t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Ursula von der Leyen und Charles Michel: Auf dem EU-Gipfel kam ein Kompromiss zustande. Das sollten wir würdigen, sagt t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor. (Quelle: Stephanie Lecocq/dpa)

Der Gipfel endete mit einem Ergebnis: EU-Bashing scheint dennoch weiterhin in Mode zu sein. Völlig zu Unrecht, denn die Probleme liegen jenseits von Brüssel.

Es wird Zeit, etwas geradezurücken: Die Europäische Union ist das beste und erfolgreichste Projekt von Staaten in der Menschheitsgeschichte, für das uns große Teile der Welt beneiden. Die EU sorgt für Gerechtigkeit, bewahrt Wohlstand und hält Frieden auf einem Kontinent, von dem einst die schlimmsten Verbrechen und verheerendsten Kriege der Welt ausgegangen sind. Für diese zentrale Aufgabe der EU haben die Verantwortlichen in Brüssel diese Woche ein eindrucksvolles Finanzpaket beschlossen. Besser geht es derzeit nicht. Es ist ein historischer Beschluss, der die EU weiter voranbringt und stärkt.

Wer ob dieser Aussagen ins Stutzen gerät, sollte für einen kurzen Moment beispielsweise an das jämmerliche Dasein des UN-Sicherheitsrates denken. Oder an die G20- oder G7-Gipfel, deren Abschlusserklärungen oft das Papier nicht wert sind, auf denen sie stehen, sodass ein Donald Trump sie bereits wenige Stunden später im Flieger nach Hause wieder zerreißt. Doch gleich zum Auftakt des EU-Gipfels spulten manche politische Kommentatorinnen und Kommentatoren in den Medien ihren Sermon über die Unfähigkeit der EU, das drohende Scheitern der Verhandlungen und den Untergang des Staatenverbunds ab. Ihre Predigten dauern an. EU-Bashing scheint nach wie vor "in" zu sein.

Lösen Sie folgende Aufgabe doch einmal selbst

Haben sich diese Kolleginnen und Kollegen einmal die Frage gestellt, wie es ist, unterschiedliche Positionen zusammenzubringen? Hatten sie jemals die Aufgabe, zwischen widerstreitenden Positionen zu vermitteln? Man weiß es nicht.

Machen wir einen Test. Lösen Sie folgende Aufgabenstellung: Überzeugen Sie 27 streitende Menschen in Ihrer Familie oder Ihrem Freundeskreis, Ihrer Schulklasse, Ihrem Verein oder Ihrer Partei, eine gemeinsame Haltung zu einem x-beliebigen Punkt zu finden, sodass jeder und jede danach für den gefundenen Kompromiss persönlich gegen Kritik einsteht! Anschließend stellen Sie sich diese Aufgabe auf einem EU-Gipfel mit 27 Staaten vor, die alle spezifische Interessen haben und deren Regierungschefinnen und -chefs qua Amt durchgängig Alphatiere sind und in der Regel wiedergewählt werden wollen, darunter komplizierte Persönlichkeiten wie ein Viktor Orban oder ein Emmanuel Macron!

Es ist ein Sieg der Gemeinschaft

Sicher, diese Politiker werden dafür gut bezahlt und haben sich die Macht selbst ausgesucht. Aber dementsprechend haben sie am Ende eine Einigung geliefert. So wie es 500 Millionen Menschen erwartet haben. Scheitern wäre im Angesicht der Corona-Pandemie, der größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg, keine Option gewesen. Ob die Staatenlenkerinnen und -lenker dafür zwei Tage wie geplant oder vier Tage zusammensaßen, ist gleichgültig. Es besagt gar nichts.


1962 endete ein 28 Tage währender Verhandlungsmarathon der europäischen Landwirtschaftsminister – und damals waren gerade mal sechs Staaten involviert und anschließend konstatierte Walter Hallstein, der damals erste Vorsitzende der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG): "Es ist ein Sieg der Gemeinschaft … Der Europäische Pakt ist erneuert, der Weg in eine gemeinsame Zukunft ist offen."

Diktator kann jeder sein

Demokratie ist nicht nur die beste Herrschaftsform, sie ist auch die schwierigste. Ein Diktator kann jeder sein, ein guter Demokrat nicht. Befehle zu geben, die andere umzusetzen haben, ist einfach, auf gleichberechtigter Ebene eine Position zu vermitteln, ist große Kunst. Freundinnen und Freunde der EU sollten deshalb eine deutlich weniger defätistische und destruktive Haltung gegenüber Brüssel einnehmen. Wenn wir die EU erhalten wollen, dann müssen wir aufhören, alles kaputtzureden.

Stattdessen müssen wir stärker betrachten, wo wir gegenwärtig stehen und wohin uns die vergangenen Jahren gebracht haben. Alle naselang wird kritisiert, beim EU-Corona-Gipfel seien nur nationale Egoismen vertreten worden. Ja, wie soll das denn bitte anders sein, wenn völkisch gesinnte Rechtspopulisten mit im Bund sind? Wo man einen Viktor Orban machen lässt, eine PiS weiterhin an die Macht wählt wie in Polen, wo man zuvor mit einer FPÖ in die Regierung gegangen ist wie in Österreich, eine Koalition aus Spaßpartei und Rechtsradikalen ermöglicht wie in Italien oder wo man zusieht, wie ein Mark Rutte das "liberale Erbe der Niederlande verspielt", indem man ihn mit einem inzwischen zu Recht abgemeldeten Scharfmacher wie Geert Wilders kuscheln ließ, muss man sich über Probleme in der EU nicht wundern.

Wir Deutschen sollten uns ebenso hinterfragen

Die Zerstörung der Europäischen Union beginnt auf nationaler Ebene. Deshalb müssen die Fragen zuerst dort gestellt und diskutiert werden: "Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?"

Beispielsweise können wir uns in Deutschland fragen, warum Christian Lindner die FDP mal wieder neben der AfD auf der Seite der "Sparsamen Vier/Fünf" und deren Anführer Mark Rutte positioniert? Offenbar hat der Parteichef das Thüringen-Debakel Anfang des Jahres schon wieder vergessen, als er Thomas Kemmerich mit den Stimmen der Höcke-AfD zum berüchtigten ersten FDP-Kurzzeit-Ministerpräsidenten wählen ließ und einen Tag brauchte, um darin einen Fehler zu erkennen. Nun sagte Lindner der "Bild", der Kompromiss des EU-Gipfels sei insbesondere ein Verdienst "des niederländischen Ministerpräsidenten und meines Parteifreundes Mark Rutte und der sogenannten 'Sparsamen Vier'", womit er der AfD-Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel sekundierte, die betont hatte: "Deutschlands Platz als größter Nettozahler wäre an der Seite der 'Sparsamen' gewesen." Eine Lobeshymne auf die Steueroase Niederlande, wegen der anderen Ländern jährlich Milliarden Euro an Einnahmen verloren gehen, wie die "Paradise Papers" enthüllt haben, mag über die AfD nichts aussagen, aber über die FDP?

Hat die EU ihren Wert für die Menschen noch nicht bewiesen?

Man könnte auch grundsätzlich darüber sprechen, warum sich viele in Deutschland inklusive der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) so lange so schwer damit getan haben, eine Verschuldung der EU zu akzeptieren. Das hat zu den zähen 90-stündigen Verhandlungen in Brüssel beigetragen – es lag nicht nur an Ungarns Verhalten oder Italiens Forderungen. Warum die Polemik von der EU als "Schuldenunion" statt einer breiten Bereitschaft, die EU vernünftig zu finanzieren? Hat das Friedensprojekt EU samt freiem Reiseverkehr, Roaming ohne Zusatzkosten, Lebensmittelsicherheit und vielem mehr nicht schon vielfach seinen Wert für uns Bürgerinnen und Bürger bewiesen?

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Die EU soll nun 1,8 Billionen Euro bekommen. Sie halten das für eine große Summe? Eine Billion davon ist für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) reserviert, in dem sich der EU-Haushalt für sieben Jahre von 2021 bis 2027 bewegen muss. Der Rest der Summe ist für die Überwindung der wirtschaftlichen Corona-Folgen gedacht. Die 27 EU-Mitglieder erzielten 2018 eine Wirtschaftsleistung von rund 13,5 Billionen Euro pro Jahr (ohne Großbritannien). Das heißt, die jährlichen Ausgaben der EU betragen gerade mal circa ein Prozent davon. Ein durchschnittlicher Staatshaushalt umfasst etwa 46 Prozent des Volumens der jeweiligen Volkswirtschaft. Ich finde: Um unsere Lebensqualität weiterhin zu sichern, darf uns die EU dieses eine Prozent wert sein und gerne noch etwas mehr.

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Die existenziellen Probleme haben uns Nationalstaaten eingebrockt

Leider sehen die Knausrigen das anders. Am Ende ist der Gipfel dennoch historisch geworden: Trotz aller Widerstände kann die EU nun erstmals Schulden machen. Das aufgenommene Geld wird dorthin verteilt, wo das Coronavirus am heftigsten zugeschlagen hat, und später dann gemeinsam von allen getilgt. Vermutlich ist damit zudem die Tür für eigene Steuern geöffnet worden, die Brüssel künftig einziehen kann. Natürlich wird die EU dadurch zu Lasten der Nationalstaaten gestärkt. Für die Friedenssicherung aber kann es nur von Vorteil sein, wenn supranationale Organe wichtiger werden und Macht auf diese Weise weiter geteilt wird. Schließlich wurden uns die existenziellen Probleme in der Vergangenheit durch Nationalstaaten eingebrockt.

Der Gipfel ist historisch, nicht perfekt. Besser geht immer. Kritikpunkte lassen sich bei jedem Kompromiss finden. Es wird nun Aufgabe des Europaparlaments sein, das das Finanzpaket noch billigen muss, hier nachzujustieren. Selbstverständlich ist es nicht zukunftsweisend, dass ausgerechnet bei Klimaschutz, Forschung oder Digitalisierung Gelder gekürzt wurden. Über das Grundproblem der EU, die Gefährdung durch den politischen Extremismus und völkischen Nationalismus, ist im Gipfel-Dokument gar nichts zu lesen bis auf eine Erwähnung von Terrorismus und Radikalisierung zusammen mit schwerer und organisierter Kriminalität, Cyberkriminalität und illegaler Migration.

Dabei hat der Rat der Europäischen Union noch im Mai selbst gewarnt, der extremistische Diskurs im Internet über die aktuelle Corona-Krise nehme rapide zu. Stellschrauben für die Zukunft wurden in der Tat gelockert oder gar nicht erst eingedreht. Es ist ebenso richtig, wenn Markus Becker im "Spiegel" kritisiert, die EU lasse ihre Autokraten davonkommen, weil von dem Vorhaben, einen Mechanismus zu schaffen, um die Auszahlung von Fördergeldern an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit zu koppeln, wenig übrig geblieben ist. Ja, der Kompromiss mag damit sehr teuer bezahlt sein, aber das ist der Preis für das Versagen der Politik in den Mitgliedsstaaten.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Muslimisch und liberal!" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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