Corona-Protest in Berlin "Ich darf doch sterben, wenn ich will, oder?"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zur Demonstration gegen die Reform des Infektionsschutzgesetzes sind Tausende Menschen nach Berlin gekommen. Die Hygieneregeln nimmt hier fast keiner ernst – genau wie die Corona-Pandemie.
Anspannung und Ungewissheit liegen in der Luft. Polizisten haben seit den frühen Morgenstunden Sperren im Berliner Regierungsviertel errichtet. Sie lassen niemanden auch nur in die Nähe des Reichtags. "Hier können Sie heute nicht vorbei", sagt ein Beamter und weist mit der Hand zwei Menschen an, weiter zu gehen. Mehr als 2.000 Polizisten, auch aus anderen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt, sind am Mittwoch in der Hauptstadt im Einsatz. Vorboten eines turbulenten Tages.
Aus ganz Deutschland sind Demonstranten gekommen, um gegen die Reform des Infektionsschutzgesetzes zu protestieren. Vor mehreren Bühnen finden Kundgebungen statt. Am Vorabend hatte das Innenministerium noch einige der Veranstaltungen untersagt. Immer wieder gibt es Aufrufe von den Veranstaltern und Sprechern auf der Bühne, die Hygienekonzepte einzuhalten und eine Maske zu tragen. Daran halten sich allerdings die wenigsten.
"Die denken wohl, die können alles mit uns machen", sagt ein älterer Mann, etwa 65 Jahre alt, vor dem Gebäude des ARD Hauptstadtstudios. Seinen Namen, seinen Beruf oder seinen Wohnort will er nicht nennen. Das will eigentlich niemand. Der Mann trägt eine Maske, die allerdings seine Nase nicht bedeckt. Sein Kopf ist hochrot angelaufen, er redet sich schnell in Rage.
Die Gesetzesreform, über die der Bundestag zur gleichen Zeit berät, ist für den 65-Jährigen nur der Anfang. "Für unsere Kinder und ihre Zukunft müssen wir jetzt etwas unternehmen", sagt er. Die Regierung wolle jeden Menschen in diesem Land mundtot machen. Das lasse er nicht zu, deshalb sei er gekommen. Warum die Behauptung von der Einschränkung der Grundrechte durch das Gesetz nicht stimmt, lesen Sie hier.
"Frieden, Freiheit, keine Diktatur" ist der begleitende Singsang dieses Tages. Immer wieder steigen Hunderte Menschen mit ein, recken die Faust in die Höhe, wohl um die Ernsthaftigkeit ihrer Aussage noch einmal zu bestätigen. Eine Polizistin aus dem Kommunikationsteam vor Ort rollt mit den Augen und sagt überraschend: "Ich sehe das genauso. Aber ist ja mein Job hier zu sein."
Kaum jemand trägt eine Maske
Am Brandenburger Tor ist die Atmosphäre am Morgen noch recht entspannt. Die Menschenmassen, die hier in wenigen Stunden zusammenkommen, halten sich zu Beginn der Demonstration auch an die gebotenen Abstände. Doch mit der Zeit gibt es keine mehr. Eine Maske trägt kaum jemand. Wieso auch? Schließlich gebe es keine Pandemie, heißt es hier immer wieder.
Alles sei eine Erfindung der Bundesregierung für den "Great Reset", für die Einführung einer totalitären Gesellschaftsordnung, ist sich ein Mann aus Frankfurt am Main sicher. Eigentlich arbeitet er als Pilot. Auch er will seinen Namen nicht nennen, denn die Medien würden ohnehin von Merkel in den Block diktiert bekommen, was sie schreiben dürften. "Lesen Sie die Berichte. Das, worauf sich die Regierung bezieht, stimmt so nicht", ist er sich sicher. Das Robert Koch-Institut könne auch nur die jährlichen Influenza-Toten schätzen und habe somit gar keinen Vergleichswert, wie viele Menschen tatsächlich am Coronavirus sterben würden. "Da wird doch gar nicht jeder Tote getestet", sagt er.
Ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster der Corona-Leugner: Das Virus sei nicht schlimmer als eine Grippe. Warum das ein gefährlicher Irrglauben ist, lesen Sie hier. Inzwischen gibt es auch eine gute Datenlage zu möglichen Langzeitfolgen von Covid-19. Mehr dazu lesen Sie hier.
Kurze Zeit später kippt die Lage. Die Polizei lässt Wasserwerfer anrollen. Eine 70-jährige Frau aus Baden-Württemberg lacht freudestrahlend in die Menge, als die ersten vorfahren. Eine Maske trägt sie nicht. Sie denkt zwar schon, dass es vielleicht eine Corona-Pandemie gibt. Doch die von der Bundesregierung beschlossenen Einschränkungen zur Eindämmung, die versteht sie nicht. "Ich darf doch sterben, wenn ich will, oder?", sagt sie und tanzt weiter zu den Klängen einiger Trommler, die in der Nähe auf dem Boden sitzen.
Es sei immer noch die Entscheidung jedes einzelnen Menschen, ein Risiko für sich selbst einzuschätzen oder eben nicht. Ihr könne niemand vorschreiben, eine Maske zu tragen. Außerdem müsse man bedenken, dass viele Menschen ihren Job verlieren, als Folge der Einschränkungen. "Das ist Krieg gegen die Menschheit, was hier passiert", ihre Stimme überschlägt sich fast.
Veranstalter erklärt Demo für beendet
Es ist 12.30 Uhr, als zwischen Bundestag und Brandenburger Tor erstmals die Wasserwerfer zum Einsatz kommen. Zuvor hatte der Veranstalter die Versammlung für beendet erklärt. Dem war ein Ultimatum der Polizei vorausgegangen. Die Demonstranten interessiert das allerdings nicht. Stunde um Stunde lassen sie sich von den Wasserwerfern, die Wasser auf die Menge niederregnen lassen, völlig durchnässen. Viele sind darauf vorbereitet, haben Regenschirme, Regenponchos und Regenjacken dabei.
Die Stimmung verändert sich, wird rauer und aggressiver. Ein Mann läuft mit roten Augen durch die Menge und ruft: "Die Polizei hat mir einfach Tränengas ins Gesicht gesprüht, ohne Vorwarnung." Auf Nachfrage erklärt er, er habe noch versucht, in der ersten Reihe zu deeskalieren und auch geholfen, einige Schläger rauszuziehen. "Und dann kam die zweite Reihe Polizisten und der eine feuert mir damit einfach direkt ins Gesicht."
"Ihr wollt ein neues Kaiserreich"
Videos von Polizisten, die mit Gewalt gegen Demonstranten vorgehen, kursieren im Internet. Eine Einordnung, wie es zu den Situationen kam, gibt es nicht. Die Polizisten vor Ort müssen sich viele Beschimpfungen anhören. Eine ältere Frau steht mit einem Megafon direkt vor dem Brandenburger Tor. Nur eine Barriere und etwa zwei Meter Abstand trennen sie von den Beamten. "Ihr wollt ein neues Kaiserreich. Guckt euch an, wer euch bezahlt, da habt ihr es", ruft sie und sagt gleich darauf immer wieder: "Volksverräter, Volksverräter". Andere Demonstranten steigen mit ein.
Die Polizisten verlassen ihre Positionen nicht. Auch als das Wasser der Wasserwerfer sie ebenfalls trifft. "Hier gibt es keine Meinung, die nicht vertreten ist", sagt ein Polizist, als eine Trump-Flagge ins Auge sticht. Ein Demonstrant trägt eine vermutlich schusssichere Weste, zwei Mal wird Pyrotechnik abgefeuert, mehrere Deutschlandfahnen schwingen in der Luft. "Das hier ist Krieg", ruft der Mob, der angeblich für Freiheit und Frieden protestieren will.
Zahlreiche Teilnehmer der Versammlung tragen Buttons an ihrer Kleidung, auf denen "Umarmung" steht, Luftballons in Herzform steigen hier und da in die Luft. Sechs Stunden sind seit dem Beginn der Demonstration vergangen. Ein Teil der Straße zwischen Bundestag und Brandenburger Tor ist inzwischen geräumt. Doch aufgeben will hier niemand. Noch immer sind es Tausende, die dicht zusammenstehen.
"Das ist unsere letzte Chance", sagt ein älterer Demonstrant. Er befürchte, dass es mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes, die am Nachmittag von Bundestag und Bundesrat mit jeweils großer Mehrheit beschlossen wird, keine Versammlungsfreiheit, keine Pressefreiheit und auch kein Recht auf Demokratie in Deutschland mehr geben werde. Warum der Mann damit unrecht hat, lesen Sie hier.
"Die Wahrheit kommt immer ans Licht", ruft am Ende wieder die Frau mit ihrem Megafon, während sie erneut einen Schwall des Wasserwerfers abbekommt. Doch Wahrheit scheint an diesem Tag ein dehnbarer Begriff zu sein.
- Eigene Recherche bei der Demonstration in Berlin am 18. November