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Afghanische Ortskräfte: Das gebrochene Versprechen der Deutschen


Afghanische Ortskräfte
Das gebrochene Versprechen der Deutschen


Aktualisiert am 21.03.2022Lesedauer: 5 Min.
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Afghanische Geflüchtete vor einem Evakuierungsflieger (Archivbild): Noch immer sind viele Ortskräfte in Afghanistan.Vergrößern des Bildes
Afghanische Geflüchtete vor einem Evakuierungsflieger (Archivbild): Noch immer sind viele Ortskräfte in Afghanistan. (Quelle: Airman Edgar Grimaldo/U.S. Air/imago-images-bilder)

Den afghanischen Ortskräften wurde versichert: Wir holen euch nach Deutschland. Doch noch immer sind Tausende dort. Und das nicht nur, weil die Lage weiterhin schwierig ist.

Abdul Waziri ist verzweifelt. Sieben Monate ist es her, dass er sich an die deutschen Behörden wandte. Waziri ist ehemalige Ortskraft in Afghanistan, arbeitete 2019 und 2020 für die Deutsche Gesellschaft für Entwicklungszusammenarbeit, kurz GIZ. Nun hofft er, dass die Deutschen ihn, seine zwei kleinen Töchter und seine schwangere Frau evakuieren. In zehn E-Mails fleht er die Zuständigen im August an, ihm zu helfen.

"Die Taliban beginnen damit, die Häuser zu durchsuchen. Wenn sie mich finden, werden sie mich und meine Familie töten", heißt es in einer Nachricht vom 21. August. Er schickt seine Verträge zur GIZ und füllt ein entsprechendes Formular aus, das ihm eine Mitarbeiterin zusendet.

Noch mal eine Woche später fragt er nach seinem Antrag: "Mein Leben ist in Gefahr, weil ich für die deutsche Regierung gearbeitet habe. Ich kann meine Wohnung nicht mehr verlassen, ich weiß nicht, was ich tun soll." Doch bis auf Empfangsbestätigungen kommt keine Antwort. Bis heute nicht. Waziri heißt eigentlich anders, aus Sicherheitsgründen nutzt t-online einen Decknamen. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.

Tausende Ortskräfte mit Familie noch immer in Afghanistan

Der Abzug aus Afghanistan markiert einen Tiefpunkt der deutschen Außenpolitik. Noch während sich westliche Truppen zurückzogen, übernahmen die Taliban in Windeseile die Macht. Mitte August rückten sie in der Hauptstadt Kabul ein.

Das Drama von Kabul zeigte auch ein Versagen der deutschen Politik auf. Die Stärke der Taliban war lange unterschätzt worden. Und nun – mit der Machtübernahme – traten Probleme ganz öffentlich zutage, die lange ignoriert worden waren.

Eines davon ist die Sicherheit der Ortskräfte. Also der Menschen, die jahrelang vor Ort für Deutschland gearbeitet haben, die Mission unterstützt und entscheidend vorangetrieben haben. Die Bundesregierung versprach damals: Wir retten diese Menschen und ihre Familien – schnell und unbürokratisch.

Bislang allerdings ist das Ergebnis ernüchternd. Erst etwas mehr als die Hälfte der Ortskräfte mit Familienangehörigen, die eine Aufnahmezusage erhalten haben, sind in Deutschland. Viele weitere – Hilfsorganisationen gehen von mehreren Zehntausend aus – warten noch auf eine Antwort.

Leben im Versteck

Wie Waziri. Seit der Machtübernahme verstecken er und seine Familie sich in Wohnungen, gehen kaum nach draußen. Arbeiten und Geld verdienen kann er nicht, ohne aufzufallen. Er ist – wie viele andere auch – auf Auslandsüberweisungen angewiesen, also auf Freunde und Familie, die in anderen Staaten wohnen und Geld schicken.

Waziri arbeitete zwischen 2019 und 2020 für die GIZ. In seinem Vertrag, der t-online vorliegt, wird er als Partner geführt. In deutschem Auftrag reiste er durch Afghanistan und warb für berufliche Bildung. In den Jahren zuvor arbeitete er für die afghanische Gewerkschaft NUAWE, die von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung und der Gewerkschaft IG Metall unterstützt und aufgebaut wurde. Außerdem setzte er sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein.

Das betätigte auch IG-Metall-Vorstandsmitglied Sultan Amini t-online. Amini, selbst in den 1980er-Jahren aus Afghanistan geflohen, war mit dafür verantwortlich, die afghanische Gewerkschaft aufzubauen. Dabei lernte er auch Waziri kennen.

Die schwierige Definition der "individuellen Gefährdung"

Die GIZ will hingegen auf Nachfrage nicht auf den Antrag von Waziri eingehen und antwortet allgemein: Die Gesellschaft unterstütze weiterhin Afghaninnen und Afghanen dabei, auszureisen. Wer für das Ortskräfteverfahren in Betracht komme, definiere allerdings die Bundesregierung.

Das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) schreibt dazu: "Grundsätzlich gilt: Eine Person, die als Ortskraft individuell gefährdet ist, weil sie für Deutschland gearbeitet hat, kann auch weiterhin auf Unterstützung bei der Ausreise zählen."

Doch was bedeutet "individuelle Gefährdung"? Laut BMZ muss die Person glaubhaft machen, dass wegen ihrer Arbeit für Deutschland "eine Gefährdung gegeben ist, die über das allgemeine Gefährdungspotenzial in Afghanistan hinausgeht".

In der Theorie klingt das klarer als in der Praxis. Der Anwalt Matthias Lehnert vertritt einige ehemalige GIZ-Mitarbeiter. Er will erreichen, dass das Auswärtige Amt ihnen Visa ausstellt, damit sie Afghanistan verlassen können. "Die individuelle Gefährdung nachzuweisen, ist schwierig", sagt er. Man könnte etwa eine Hausdurchsuchung geltend machen, oder einen Drohbrief. Weil sich aber – wie auch Waziri – viele seit der Machtübernahme verstecken, haben sie einen solchen Nachweis nicht.

Dann wiederum müsse nachgewiesen werden, ob die Angst, gefährdet zu sein, begründet sei, so Lehnert. Objektiv nachvollziehbar seien die einzelnen Entscheidungen aus seiner Sicht nicht. Lehnert spricht von einer "Blackbox".

Unterschiedliche Lageeinschätzungen

Wie also ist die Gefährdungslage für die deutschen Ortskräfte? Das Entwicklungsministerium teilte Ende Januar mit, dass ihm kaum Fälle gezielter Verfolgung von Ortskräften vorlägen. Zwar seien der Behörde einzelne Berichte darüber bekannt. Diese könnten aber, auch aufgrund einer fehlenden deutschen Präsenz vor Ort, nicht verifiziert werden.

Ein ganz anderes Bild zeichnen Hilfsorganisationen. Pro Asyl etwa widersprach vehement der Darstellung des Ministeriums. "Alle, die sichtbar für westliche Organisationen gearbeitet haben, sind in Gefahr", sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt. Seiner Organisation lägen dramatische Fälle vor, die zeigten, dass Ortskräfte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl von den Taliban verfolgt und bedroht würden.

Das unterstreicht Axel Steier von Mission Lifeline ebenfalls. Seine Organisation organisiert selbst Evakuierungen aus Afghanistan, zwei Mitarbeiter sind noch in dem Land, um über die Situation zu berichten. "Vor allem frühere Sicherheitskräfte, aber auch Ortskräfte werden aufgesucht, gefoltert, getötet. Im Schatten des Ukraine-Kriegs haben die Taliban ihre Bemühungen noch intensiviert", sagt Steier. Die Mitarbeiter in Afghanistan berichten ihm zufolge, dass ganze Viertel abgesperrt werden, damit dort jede Wohnung durchsucht werden kann.

Neue Bundesregierung versprach Kehrtwende

Beobachter zeigen sich erstaunt über die mangelnden Fortschritte unter der neuen Bundesregierung. Noch im Wahlkampf hatte die Grünen-Spitzenkandidatin und heutige Außenministerin Annalena Baerbock angekündigt, viel mehr für die Ortskräfte und andere gefährdete Afghanen tun zu wollen. Im August etwa sprach sie von deutlich mehr als 50.000 Personen, die noch aus Afghanistan evakuiert werden müssten, darunter Ortskräfte, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Sie kritisierte den desaströsen Abzug, forderte einen Untersuchungsausschuss. Aber hat sich mit ihr in der Bundesregierung viel geändert?

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Tatsächlich gehen die Evakuierungen der Ortskräfte noch immer schleppend voran. Das hat natürlich mit der problematischen Lage vor Ort zu tun, das Evakuieren ist weiterhin schwierig. Experten kritisieren aber auch, dass Antragssteller schon seit Monaten keine Antwort von der deutschen Regierung mehr erhalten. Noch immer müssen Afghanen in ein anderes Land reisen, um ein Visum zu erhalten, weil es in Afghanistan keine Botschaft mehr gibt. Das im Koalitionsvertrag versprochene E-Visa ist noch nicht umgesetzt.

"Die Ortskräfte merken von einem Wandel überhaupt nichts"

Zwar hielt Baerbock gemeinsam mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) Anfang März einen Gipfel zu dem Thema ab. Einen tatsächlichen Politikwechsel aber sehen die Menschen, die praktisch damit befasst sind, nicht. Anwalt Lehnert etwa hält das Ortskräfteverfahren für noch immer sehr mangelhaft – und das, obwohl die Menschenrechte der Ortskräfte massiv bedroht seien.

Auch der Aktivist Steier sagt: "Die Ortskräfte merken von einem Wandel überhaupt nichts." Er kritisiert vor allem einen "Prüfungswahn" zur Gefährdungslage und eine geringe Personalausstattung in den Abteilungen, die mit diesem Thema beschäftigt sind. Seine Empfehlung: Wer wolle, dass sein Antrag wahrgenommen werde, müsse rechtlich gegen die Bundesregierung vorgehen. Waziri überlegt nach sieben Monaten des Wartens ebenfalls, diesen Weg zu gehen.

Dass die Bundesregierung noch immer keinen adäquaten Weg gefunden hat, Ortskräfte zu evakuieren, sendet darüber hinaus kein gutes Zeichen in andere Teile der Welt. Schon in den nächsten Monaten wird voraussichtlich der Einsatz in Mali enden. Auch dort arbeitete die Bundeswehr mit einheimischen Mitarbeitern zusammen. Und die fürchten nach dem Abzug die Rache von dschihadistischen Kräften.

Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, Herr Waziri habe zwischen 2019 und 2021 für die GIZ gearbeitet. Richtig ist: zwischen 2019 und 2020. Der Fehler wurde korrigiert.

Verwendete Quellen
  • Gespräche mit Abdul Waziri, Sultan Amini, Axel Steier, Matthias Lehnert
  • Abdul Waziri: Arbeitsverträge, Schriftsätze, E-Mails an die GIZ und das AA
  • Anfragen an BMZ, BMI und GIZ
  • Eigene Recherche
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