Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.AfD hat am Ende gut lachen Der große Fehler des Markus Lanz
In politischen Talkshows soll gestritten werden. Im Idealfall läuft das fair und auf Augenhöhe ab, und hinterher weiß der Zuschauer mehr als vorher. Nur zu oft passiert aber etwas anderes.
Auf dem Schulhof war's so: Wenn's Ärger gab und zwei sich in die Haare bekamen, dann war das erst mal spannend. Alle standen drumherum, jeder feuerte den an, den er netter fand. Und irgendwann kam die Aufsicht. Wenn aber vier auf einen losgingen, dann war das wirklich übel. Gemein. Unfair. Auch ein bisschen peinlich. Selbst, wenn man den "einen" nicht mochte. Dann holte jemand die Aufsicht, hoffentlich.
Nun ist eine Talkshow kein Schulhof, schon gar keiner für Ponys, und eine Aufsicht gibt's auch nicht. Aber den spontanen Gedanken, dass "vier gegen einen" unfair ist, sogar gemein, den tragen die meisten von uns immer noch in sich. Was eine gute Sache ist.
Wenn die Redaktion von Markus Lanz also den AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla einlädt, und um ihn herum der strenge Gastgeber, der Ökonom Marcel Fratzscher, der Historiker Michael Wolffsohn und die Journalistin Anne Hähnig Platz nehmen, dann passiert genau das. Bei vielen Zuschauern regt sich der alte Schulhof-Impuls: Vier gegen einen – das ist unfair. Egal, ob sie Chrupalla mögen oder nicht.
Wenn Lanz und seine drei Mitstreiter Chrupalla dann die liebe lange Sendung lang ins Kreuzverhör nehmen, wenn sie ihm von allen Seiten in wütendem Stakkato intellektuelle Mängel vorwerfen, sprachliche Inkompetenz und seiner Partei wachsende Radikalisierung, dann darf sich niemand wundern, wenn mancher Zuschauer spürt: Da tun sich vier zusammen und hacken auf einem herum. Selbst wenn mancher Vorwurf nicht von der Hand zu weisen ist.
Genau das passiert bei Lanz regelmäßig. Und nicht nur bei ihm. Diese Konstellation gibt es bei Anne Will, Maybrit Illner oder Louis Klamroth und überall, wo man sich Populisten wie Chrupalla, Alice Weidel oder auch Hubert Aiwanger zu einem anständigen "Grillfest" einlädt. So heißt das in manchen Redaktionen wirklich. Dem unbeliebten Gast aus dem anderen Lager soll ordentlich Feuer unter dem Sitz gemacht werden.
Der Barbecue-Plan geht aber nicht auf. Dieses "Vier gegen einen" verschafft den Chrupallas, den Weidels und Aiwangers genau die Rolle, in der sie sich selbst so gerne sehen: die Opferrolle. Auch die Zuschauer merken, dass das unfair ist. Das zeigen viele Leserkommentare, die wir zu unseren Sendungskritiken bei t-online nach solchen Talkshows bekommen.
Ihnen ist der Schulhof sehr präsent. Auch Beobachter, die mit Populisten oder Rechtsextremen nichts am Hut haben, verspüren Widerwillen, wenn zu später Stunde ein einzelner von vieren fröhlich abgewatscht wird, die sich in ihrer Ablehnung, ja, ihrem Abscheu unverhohlen einig sind. Die sich für gebildeter, moralischer, ja, "besser" zu halten scheinen. Nicht nur als der, den sie gemeinsam durch die Manege ziehen. Sondern auch als alle, die sich dessen Argumente zumindest anhören wollen.
Zwei Wochen zuvor saß Hubert Aiwanger auf demselben heißen Stuhl. Um ihn herum: Lanz, die Neuköllner Sozialarbeiterin Güner Balci, der Journalist Michael Bröcker und ausgerechnet "SZ"-Chefreporter Roman Deininger. Aus seinem Haus war die nicht ganz ausgegorene "Flugblatt"-Enthüllung gekommen, die Aiwanger frecherweise überlebt hatte. Kurz: Man war versammelt, um "Vier gegen einen" zu spielen.
Aiwanger musste gar nicht viel sagen oder tun, um am Ende ungeschoren aus der Sendung zu kommen. Er kuschelte sich in die Opferrolle, machte ein paar (valide) Punkte gegen die Recherche der "Süddeutschen Zeitung" und ließ sich am nächsten Tag von seinen Anhängern feiern: als moralischer Sieger im "Vier gegen eins".
Unter so einem Eindruck verpufft auch die beste Waffe, die die Gesellschaft gegen Politiker wie Aiwanger oder eben Tino Chrupalla hat: Das gute Argument. Als Michael Wolffsohn den AfD-Mann dabei ertappte, wie der die Opfer des Massakers in Israel vom 7. Oktober als "Kriegsopfer" bezeichnete, da hatte er vollkommen recht, das zu kritisieren. Sie waren Opfer gewissenloser Terroristen. Wie entspannt Chrupalla mit dieser Tatsache umging, war entlarvend. Und als Marcel Fratzscher ihm erklärte, dass die EU deutlich mehr ist als eine Freihandelszone, sah Chrupalla tatsächlich nicht gerade aus wie ein Nobelpreisträger.
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Davon wird nicht mehr lange die Rede sein. Was sich halten wird, ist diese Erzählung: Dass Politiker wie Tino Chrupalla und Hubert Aiwanger bei Lanz und Co. immer wieder zu Tribunalen geladen werden. Und dass sie sich dort gegen eine in ihrer Erhabenheit vereinte Elite dann achtbar schlagen. Alleine gegen vier.
Die Erzählung gibt es, weil sie stimmt. Sie hilft genau denen, die vorgeführt werden sollten. Sie ist der Grund, warum Chrupalla, Aiwanger und andere wie sie in diese Sendungen gehen. Ihnen diese Erzählung auf dem Silbertablett zu liefern, ist ein wirklich großer Fehler. Warum die Redaktionen ihn immer wieder begehen? Weil sie Sendungen für sich selbst machen. Für ihre Bubble.
Zurück auf den Schulhof: Natürlich gab es da manchen, den wir so sehr nicht mochten, dass man ihm eine ordentliche Abreibung gegönnt hätte. Der sie vielleicht sogar verdient hatte. Aber viel befriedigender war es, wenn sich einer gegen ihn gestellt hat. Eins gegen eins. Das war fair. Und am Ende kam die Aufsicht.
- Eigene Recherche
- Markus Lanz, Sendung vom 7.12.2023