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Bundestagswahl 2021: So wollen die Grünen an die Macht kommen


Ein Flirt und die Folgen
So wollen die Grünen an die Macht kommen

Von Ulrich Schulte

Aktualisiert am 24.01.2021Lesedauer: 7 Min.
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Annalena Baerbock und Robert Habeck: Die Schwarz-Grün-Dementis der Grünen-Chefs klingen immer lustloser, schreibt Autor Ulrich Schulte. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)

Deutschland könnte schon bald schwarz-grün regiert werden. Kann das funktionieren? Und was für eine Politik käme dabei heraus? Diesen Fragen geht der Journalist Ulrich Schulte in seinem Buch "Die grüne Macht" nach. Lesen Sie hier vorab einen Auszug.

Jens Spahns Büro liegt ganz oben im Gesundheitsministerium an der Berliner Friedrichstraße, aus den hohen Fenstern hat man einen schönen Blick über die Stadt. Spahn, den obersten Hemdknopf offen, ein Bein über das andere geschlagen, denkt laut über die Grünen, über Schwarz-Grün und Gemeinsinn in einer modernen Gesellschaft nach.

"Ich verstehe Patriotismus nicht als abgeschlossenes, sondern als einladendes Konzept", sagt er. Wer die 2020er Jahre gestalten wolle, wer sich zu Werten wie Freiheit, Solidarität miteinander und "Leistung müsse sich lohnen" bekenne, der sei herzlich willkommen. "Unsere Republik ist vielfältig."

Da ist etwas aufeinander zugewachsen

Nimmt man diese Sätze ernst, schütteln sie konservatives Denken aus wie ein verstaubtes Bettlaken. Die CDU wehrte sich lange gegen die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Auch die Debatten um die deutsche Leitkultur hatten etwas Beengendes. Spahns Ansatz klingt offener, inklusiver, wie der des Grünen-Chefs Robert Habeck, der schon im Jahr 2010 in einem Buch für einen linken Patriotismus warb.

Jener, schrieb Habeck, organisiere "die Integration in die Gesellschaft". Weist man Spahn darauf hin, dass er beinahe klingt wie Habeck, wehrt er ab. Zu viel Nähe könnte ihm schaden. Habeck, sagt er, nutze das Wort vor allem, um eine linke Zukunftserzählung zu entwickeln. "Bei ihm kommt mir das 'Wissen, woher man kommt', das Bewusstsein für Traditionen und gewachsene Kultur zu kurz."

Dennoch: Da ist etwas aufeinander zugewachsen, nicht nur politisch, sondern auch philosophisch. Ein positiver Bezug zur Heimat kann wie Kitt wirken. Schwarz-Grün ist die wahrscheinlichste Koalitionsvariante nach der Bundestagswahl im September. Viel spricht dafür. Die Chance auf eine solide Mehrheit, die Sehnsucht der Deutschen nach Stabilität, aber auch ein inhaltliches Projekt: der ökologische Umbau der Wirtschaft. Es wäre eine Art Versöhnung des alten und des neuen Bürgertums.

Das Grundgesetz als Bezugspunkt

Wie für die Grünen ist auch für Spahn das Grundgesetz ein wichtiger Bezugspunkt. "Unser Land, unsere Kultur und unser Grundgesetz sind großartig", sagt er. "Wer hätte 1949 daran geglaubt, dass die Bundesrepublik Deutschland gut 70 Jahre später in der ganzen Welt geachtet wird, eingebettet in ein friedliches, wohlhabendes Europa? Aus unserer Geschichte kann man Zuversicht für die Zukunft ziehen – und auch ein bisschen Stolz."

Grundgesetz, europäische Einbettung, Zuversicht. Habeck oder seine Co-Chefin Annalena Baerbock würden mit Sicherheit nicht widersprechen.
Spahn beugt sich in der Sitzecke seines Ministerbüros vor. "Ich definiere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft nicht nach dem Stammbuch." Weltoffener Patriotismus heiße auch, manche mit Stammbuch abzulehnen. "Wer mit einer Reichsflagge in der Hand die Stufen des Parlaments stürmt, ist kein Patriot. Der tritt die Werte unserer liberalen, demokratischen Nation sprichwörtlich mit Füßen."

Damit spielt der Gesundheitsminister auf die Szenen im Sommer 2020 an, als rechte Corona-Leugner*innen bei einer Demonstration bis zum Eingang des Reichstages vordrangen. Gemeinschaft nicht nach Stammbuch, auch hier wären die Grünen dabei.

Es passt schon

Je länger ich mit Spahn rede, desto mehr bekomme ich den Eindruck: Das passt schon. Der Konservative war ja schon vieles in seinem politischen Leben. Provokateur, Sachpolitiker im Parlament und Krisenmanager der Corona-Pandemie. Auch in der nächsten Regierung wird er wohl wieder ein entscheidender Player sein. Andere Christdemokrat*innen reden so ähnlich über die Grünen wie er. Man konkurriert miteinander, respektiert sich aber auch.

Umgekehrt hört man von Grünen Positives über Spahn. Ein gut vernetzter Stratege sagt: Regieren mache mit dem gutgelaunten Gesundheitsminister wohl mehr Spaß als mit dauerbeleidigten Sozialdemokrat*innen. Die Schwarz-Grün-Dementis von Habeck und Baerbock klingen immer lustloser, es wissen ja eh alle. Manchmal flirten die Parteivorsitzenden sogar recht unverhohlen. Zum 75. Geburtstag der CDU gratulierten Annalena Baerbock und Robert Habeck mit einem Brief in der "FAZ", dem konservativen Leib-und-Magen-Blatt.

"So wie wir immer schon etwas wollten, seid Ihr immer schon etwas gewesen", schrieben die grünen Gratulanten. "Ihr seid so etwas wie die institutionalisierte Regierungspartei, die Grundversorgung im Kanzleramt, das Bayern München der Politik."

Baerbock und Habeck lobten den "klaren Kompass" der CDU, ihren Pragmatismus und gestanden: "Irgendwie haben wir […] Euer Selbstverständnis im Umgang mit politischer Macht heimlich doch bewundert." Diese euphorischen Sätze hätten sich auch in der Bewerbung eines Konrad-Adenauer-Stipendiaten gut gemacht – und manchen Grünen war die Begeisterung ihrer Vorsitzenden etwas peinlich. Aber keiner widersprach öffentlich.

Es gibt schon lange Pizza

Wichtiger als solche Symbolik ist sowieso das gewachsene Vertrauen. Schon in den 1990ern, als sich die Pizza-Connection bei dem Bonner Italiener Sassella traf, regte ein schwarz-grünes Bündnis die Phantasie an. Im politischen Feuilleton wurde es als aufregende Alternative beschrieben, als Friedensschluss der Bürgerkinder mit ihrer Elterngeneration.

Aus der Phantasie ist eine handfeste, in der Realität erprobte Option geworden. Selbst erzkonservative Christdemokrat*innen stellten in den Jamaika-Sondierungen 2017 verblüfft fest, wie seriös und beweglich die grünen Verhandler*innen auftraten.

In den Bundesländern arbeitet man seit Jahren verbindlich und professionell zusammen. Ein Anruf bei Tarek Al-Wazir, Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident in Hessen. Al-Wazir ist der Architekt der ersten gutfunktionierenden schwarz-grünen Koalition auf Landesebene. Seit 2014 regiert er mit dem Christdemokraten Volker Bouffier, und das Wort, das man am öftesten über diese Allianz hört, lautet: geräuschlos. Das ist nicht selbstverständlich. Hessens Landes-CDU hatte den Ruf eines tiefschwarzen Stahlhelm-Verbandes. Sie brachte Figuren wie den nicht nur für seine Relativierung der NS-Verbrechen kritisierten Alfred Dregger hervor.

"Wir machen keine Konfliktkoalition"

Wie also funktioniert diese Kooperation? Erst mal durch den unbedingten Willen, sich nicht gegenseitig vorzuführen. In Hessen treffen sich jede Woche die wichtigsten Leute in einer Koalitionsrunde, die Groko in Berlin macht das nur alle paar Monate. Dabei sind die Partei- und Fraktionschef*innen, die Parlamentarischen Geschäftsführer, vor Sitzungswochen auch alle Minister*innen. Al-Wazir sagt: "Der Schlüssel ist: Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation."

Nicht nur Aktuelles werde diskutiert, sondern auch das, was in Zukunft Probleme bereiten könnte. Aus diesen Runden wird nichts durchgestochen.
"Unsere Verabredung war: Wir machen keine Konfliktkoalition", erzählt Al-Wazir. "Wir betonen nicht ständig, wo wir uns uneinig sind. Sondern wir suchen einen gemeinsamen Weg und vertreten ihn dann auch gemeinsam.“

Der Grüne sieht die Unterschiedlichkeit der Partner sogar als Vorteil. Vielleicht sei Schwarz-Grün mit einem Konservativen wie Volker Bouffier einfacher als mit einem liberalen CDUler wie Ole von Beust aus Hamburg – nach dem Motto: Only Nixon could go to China. "Wenn unsere Koalition beschließt, dass es ein Förderprogramm für Frauenhäuser gibt, aber auch mehr Stellen für die Polizei, dann ist jedem klar, was von wem kommt."

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Nicht alles ist gut in Hessen

Was Al-Wazir nicht erwähnt: Manchmal wird professionelle Streitvermeidung zur peinlichen Duldungsstarre. Als der Dannenröder Wald für die umstrittene A49 gerodet wurde, erklärten sich die Landesgrünen für nicht zuständig, verwiesen auf Verwaltungsvorschriften und den Bundesverkehrswegeplan. Damit hatten sie recht, nur half ihnen das nicht viel: Von Naturschützer*innen und Aktivist*innen wurden sie trotzdem des Verrats geziehen.

Die Grünen hielten ebenfalls still, als CDU-Innenminister Peter Beuth in einer Affäre um rechtsextreme Drohmails überfordert war, die mit der Unterschrift "NSU 2.0" verschickt wurden. Und sie enthielten sich, als im Parlament ein Untersuchungsausschuss zu dem neonazistischen Terrornetzwerk NSU eingerichtet werden sollte – eigentlich unverzeihlich für eine Anti-Rechts-Partei. Sie taten das auch, um Bouffier zu schützen, der zur Zeit des Mordes an Halit Yozgat in Kassel als Innenminister für den Inlandsgeheimdienst und die Landespolizei zuständig war. Viel zu spät nannte Fraktionschef Mathias Wagner die grüne Enthaltung einen "Fehler".

Wichtige Grüne in Berlin sehen Hessen deshalb nicht mehr als Vorbild.
Geräuschlosigkeit, heißt es, erleichtere das Regieren, aber sie produziere auch Unglaubwürdigkeit. Einer, dem ich die kritischen Punkte aufzählte, zog die Stirn in Falten und sagte: "Ich widerspreche nicht."

Kein aufregendes Experiment

Schwarz-Grün ist keine Zeitenwende, kein Labor, in dem aufregende Experimente durchgeführt werden. Das Bündnis bewirkt dort, wo es Realität ist, eine behutsame Modernisierung, ohne an Konstanten zu rütteln. In Baden-Württemberg, wo Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit der CDU regiert, sind die Interessen des Daimler-Konzerns heilig. In Hessen baut Wirtschaftsminister Al-Wazir das dritte Terminal des Frankfurter Flughafens, das er eigentlich verhindern wollte. Zur feierlichen Grundsteinlegung erschien er nicht, leider keine Zeit.

Keine Revolution, aber eine schrittchenweise Veränderung des Status quo: Im Bund liefe es wahrscheinlich ähnlich. Weite Teile des Grünen-Programms wären mit der Union nicht zu machen.

Weder würde Hartz IV abgeschafft, noch eine Bürgerversicherung, eine Kindergrundsicherung oder eine Vermögenssteuer eingeführt. Auch das Ehegattensplitting, das die Grünen als veraltete, Frauen ans Heim bindende Steuersubvention darstellen, bliebe. Doch beim Klimaschutz würde Schwarz-Grün engagierter zu Werke gehen als eine große Koalition – sichtbar war das nach den Jamaika-Sondierungen, in denen Baerbock einen weitgehenden Kohleausstiegsplan verhandelte.

Alles ein bisschen ökologischer

Genau das ist der Charme von Schwarz-Grün für Menschen in der bürgerlichen Mitte: Die Republik bliebe dieselbe, es gäbe keine tiefgreifende Sozialreform oder mehr Umverteilung von oben nach unten. Aber alles würde etwas ökologischer.

Das einstündige Gespräch mit Spahn neigt sich dem Ende zu. Eine Anekdote will er noch loswerden. Er sei ja einer der wenigen Christdemokraten, die mal einem grünen Bundesparteitag beigewohnt hätten. 2010 war das, in Freiburg, die Grünen diskutierten über Gesundheitspolitik und eine Bürgerversicherung.

Und, war’s schlimm, Herr Spahn?

Parteikulturell sei das schon etwas anderes. Der Minister grinst. "Wobei: Als ich durch den Sponsorenbereich ging, wurde klar: So gewaltig sind die Unterschiede dann doch nicht."

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch des Journalisten und Autors Ulrich Schulte: "Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will". Es erscheint am 26. Januar im Rowohlt Verlag.

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