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Tagesanbruch: Horst Seehofer ist seinem Amt nicht gewachsen


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 10.09.2018Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Horst Seehofer: Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat.Vergrößern des Bildes
Horst Seehofer: Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Gemeinsam mit meinem Kollegen Jonas Mueller-Töwe saß ich im Büro des Innenministers. Ein runder Holztisch, Kaffeetassen, neben dem Schreibtisch des Ministers die deutsche und die EU-Flagge. Wir sprachen über die Sicherheitslage, über die Bedrohung durch islamistische Terroristen und Rechtsextremisten, über Migration und die AfD. Der Minister hörte unseren Fragen aufmerksam zu, antwortete differenziert und kenntnisreich, korrigierte sich, wenn er sich im ersten Moment bei einer Antwort nicht ganz sicher war, konnte ausführlich aus Berichten des Verfassungsschutzes und des Bundeskriminalamts zitieren, warf sich in die Bresche für alle Menschen, die die Sicherheit der Bürger jeden Tag verteidigen. Er verschwieg kein Problem, aber er lamentierte nicht. Zwei seiner zentralen Sätze, die mir im Gedächtnis geblieben sind, lauteten: "Sich nur mit Sorgen zu beschäftigen und Ängste zu schüren, führt nicht in die Zukunft. Unsere Aufgabe ist es, Lösungen für die Zukunft anzubieten und den Menschen die Sorgen zu nehmen und Sicherheit zu geben." Ich hatte den Eindruck: Da sitzt ein Mann, der seinen Laden im Griff hat, der Tag und Nacht für dieses Land arbeitet, der einen scharfen Verstand und einen besonnenen Charakter hat, der erst denkt und dann spricht, kurz: dem man als Bürger vertrauen kann. Das war im September 2017. Leider sitzt Thomas de Maizière nicht mehr im Bundesinnenministerium.

Heute sitzt auf seinem Sessel ein Mann, der seinem Amt nicht gewachsen ist. Der es für parteipolitische Zwecke missbraucht, der erst eine schwere Regierungskrise anzettelte und nun durch den Regierungsbetrieb irrlichtert. Dem die Angst vor der AfD und einem Debakel bei der Bayernwahl im Oktober die Knie schlottern lässt. Der meint, seine Partei könne stärker werden, indem sie die extremen Parolen mancher AfDler kopiert – und nicht merkt, dass er damit nur die Extremen stärkt, während er selbst immer schwächer wird. Der nicht in der Bundesregierung sitzt, weil er dieses Land gemeinsam mit den anderen Ministerinnen und Ministern und der Kanzlerin voranbringen will, sondern weil er daheim in Bayern von seinen eigenen Leuten vom Hof gejagt wurde, aber für seine Selbstbestätigung unbedingt ein Amt braucht. Der sich nicht darüber zu wundern braucht, dass Beamte in seinem eigenen Ministerium die Köpfe über ihren Chef schütteln und sich nach Jobs in anderen Behörden umsehen, weil sie weder das Organisationswirrwarr noch die Zweckentfremdung des Bundesministeriums für die Profilierung des Chefs mittragen wollen.

In einem Roman oder einem Film wäre Horst Seehofer kaum mehr als eine tragische Randfigur, über deren skurrile Sätze man lächeln würde. "Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten" (warum tritt er dann nicht ab?). "Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land" (und was ist mit den ungelösten Problemen bei Pflege, Verarmung, Rente, Wohnen, Kinderbetreuung, Bildung, Digitalisierung, Klimawandel, die die Politik – auch Seehofers CSU – seit Jahren, zum Teil Jahrzehnten vernachlässigt? Und wieso ist sich ein Bundesminister nicht zu schade, ein Zitat des Massenmörders Saddam Hussein abzuwandeln?).

Das Problem ist: Dieser Mann geistert nicht durch einen Roman oder Film, sondern durch die Flure eines der wichtigsten Bundesministerien. Bei ihm laufen die Fäden der deutschen Sicherheitsarchitektur zusammen, er ist dafür verantwortlich, Polizeibehörden und Geheimdienste zu koordinieren und zu lenken. Aber auch da fehlt ihm der Kompass. Seehofer stützt den Chef des Bundesverfassungsschutzes, der das Gegenteil dessen tut, was ein Chef des Bundesverfassungsschutzes tun sollte, wenn er sich öffentlich äußert: eine klare, unmissverständliche Botschaft zu kommunizieren. Stattdessen raunte Hans-Georg Maaßen, es gebe "keine belastbaren Informationen" darüber, dass in Chemnitz "rechtsextremistische Hetzjagden" stattgefunden hätten; ein entsprechendes Video könne eine "gezielte Falschinformation" sein.

Dazu ist dreierlei zu sagen:

Erstens haben zahlreiche Medien das Video auf seine Authentizität hin überprüft (den Faktencheck meines Kollegen Lars Wienand lesen Sie hier). Alle kommen zu dem Ergebnis, dass es keine Hinweise auf eine Fälschung gibt.

Zweitens: Sollte der Verfassungsschutzpräsident andere Erkenntnisse haben, hätte er sie sofort vorlegen müssen, statt die Öffentlichkeit mit halb garen Anspielungen zu verunsichern. Der wdr-Journalist Georg Restle kommentierte: "Entweder, Herr Maaßen, Sie legen die eindeutigen Beweise für ihre Behauptungen jetzt auf den Tisch – oder Sie treten schleunigst zurück."

Drittens: In Chemnitz wurden mehrere Attacken von Rechtsextremisten gegen Migranten, Polizisten und Journalisten dokumentiert. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" schildert den Angriff auf eine SPD-Reisegruppe. Ich zitiere:

Drei Zeugen berichteten …, sie seien nach einer Demonstration gegen Rechtsextremismus in Chemnitz am 1. September von einer größeren Zahl gewalttätiger Männer angegriffen, gehetzt und geschlagen worden. … Einer beschrieb den Hergang so: Auf dem Weg zu ihrem Bus wurde die Gruppe, die Fahnen der SPD und der Jusos mit sich trug, von 15 bis 20 Männern im Laufschritt angegriffen. Mehrere Gruppenmitglieder flohen, die Angreifer setzten ihnen unter Rufen wie "Deutschland-Verräter!" nach. Zu den Fliehenden gehörte auch ein Mitglied der Reisegruppe, das den Angreifern "nicht deutsch genug aussah". Die Angreifer rannten dem Mann mit den Worten "Den schnappen wir uns" nach, konnten ihn aber nicht erreichen. … Drei bis vier andere Mitreisende seien ins Gesicht und auf den Hinterkopf geschlagen worden. Zwei weitere Teilnehmer bestätigten diese Schilderung. … Der Vorsitzende der Jusos in Marburg-Biedenkopf sagte, er selbst habe einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten. … Er habe beobachtet, wie mehrere seiner Mitreisenden davongerannt seien und wie die Angreifer sie verfolgt hätten. Außerdem sei er Zeuge gewesen, als einer der Angegriffenen ins Gesicht geschlagen wurde. (Eine Zeugin) erinnerte sich, dass der Angreifer mehreren Frauen zugerufen habe: "Ihr habt Glück, dass ihr Fotzen seid, dass wir euch nicht behindert schlagen."

Außerdem ist nun bekannt geworden, dass Neonazis in Chemnitz auch ein jüdisches Lokal angriffen. Laut dessen Wirt riefen sie "Hau ab aus Deutschland, du Judensau" und bewarfen das Restaurant mit Steinen, Flaschen und einem abgesägten Stahlrohr. Die sächsischen Sicherheitsbehörden hatten es tagelang nicht für nötig befunden, die Öffentlichkeit darüber zu informieren. "Für die Versuche einiger Politiker und Vertreter der Sicherheitsbehörden, die Lage in Chemnitz schönzureden, habe ich kein Verständnis", sagt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster.

Auf den Straßen von Chemnitz war neben den friedlichen Demonstranten auch ein Mob unterwegs, Menschen wurden angegriffen, geschlagen und gehetzt, eine deutsche Innenstadt erlebte zeitweise den Ausnahmezustand. Aber der deutsche Innenminister und der Präsident des Bundesverfassungsschutzes halten sich beide Augen und Ohren zu, blasen wilde Sprüche und unbelegte Mutmaßungen in die Welt und verunsichern die Bevölkerung, statt ihren Job zu tun: Straftäter kompromisslos verfolgen zu lassen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und in klaren, nüchternen Worten zu sagen, was los ist. Sie agieren offenkundig ideologisch und wahlkampftaktisch, statt nüchtern, transparent und unparteiisch. Sie liefern mit ihren Übertreibungen und ihrem Geraune rechten Verschwörungstheoretikern Stoff für deren gefährliche Märchen. Sie beleidigen den Verstand jedes aufrechten Demokraten. Dass Rechtsradikale erstarken, weil es im Sicherheitsapparat zu wenige gibt, die sie in die Schranken weisen, liegt auch am Versagen dieser beiden Männer. Und das ist ein Skandal.

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Bisher hatte Seehofer bekräftigt, Maaßen habe sein volles Vertrauen, sein Informationsstand zu den Vorfällen in Chemnitz sei mit jenem des obersten Verfassungsschützers identisch. Gestern Abend ruderte Seehofer zurück und forderte von Maaßen: "Er hat bis morgen einen Bericht an das Bundesinnenministerium zu erstatten. Ich erwarte eine Begründung, auf die er seine These stützt." So klingt es, wenn ein Minister merkt, dass er sich vergaloppiert hat – und versucht, den Schwarzen Peter weiterzureichen.

Es ist ein Jammer, dass Thomas de Maizière nicht mehr im Innenministerium sitzt. Dieses Land wäre mit ihm so viel besser dran.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Bisher ist António Guterres kaum durch wegweisende Initiativen aufgefallen, heute könnte sich das ändern: Der UN-Generalsekretär will die Staaten der Welt mit einer Rede zu mehr Klimaschutz drängen. Am kommenden Mittwoch können die Vertreter der Staaten ihm antworten: Da beginnt der Klimagipfel in Kalifornien.

Das Institut der Deutschen Wirtschaft stellt heute eine Studie zum Pflegenotstand in Deutschland vor. Die Wissenschaftler haben analysiert, wie sich die Situation bis ins Jahr 2035 entwickeln wird. So viel kann ich Ihnen jetzt schon verraten: Wenn wir so weitermachen wie bisher, sieht es nicht gut aus.

In Braunschweig beginnt das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Volkswagen AG. Besitzer von VW-Aktien werfen dem Konzern vor, sie nach Bekanntwerden des Abgasskandals und dem folgenden Kursrutsch falsch informiert zu haben. Wir werden berichten.

Ab heute sind die Sommerferien auch in Bayern und Baden-Württemberg vorbei – und damit in allen Bundesländern die Schüler zurück in den Klassenzimmern. Alles gut also? Nix ist gut. Lehrermangel, Unterrichtsausfall, fehlende Technik, bröckelnde Schulgebäude, wechselhafte Unterrichtsqualität, mancherorts Probleme mit Gewalt: An Deutschlands Schulen gibt es viele Baustellen. Meine Kollegen Benjamin Springstrow und Claudia Hamburger zeigen die Knackpunkte in einer Grafik.

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Uff! Die ersten Länderspiele nach der WM sind überstanden – und wir haben erste Erkenntnisse, wie Bundestrainer Löw die Nationalmannschaft wieder in die Spur bringen will. Eine zentrale Entscheidung betrifft Joshua Kimmich, der nun mit dem legendären Philipp Lahm verglichen wird. Zu Recht? Unsere Experten Heiko Ostendorp und Florian Wichert vertreten im "Zweikampf der Woche" sehr unterschiedliche Meinungen.

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WAS LESEN?

In Chemnitz wurde ein Mensch erstochen, das ist schrecklich. Im Internet wird seitdem fälschlicherweise behauptet, es hätte ein zweites Todesopfer gegeben, beispielsweise von einer AfD-Politikerin. Und uns Journalisten wird vorgeworfen, dies zu verschweigen. Mein Kollege Lars Wienand hat den Versuch unternommen, einen Leser von der Wahrheit zu überzeugen.

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In der amerikanischen Politik gilt ein ungeschriebenes Gesetz: Ein früherer Präsident hat den amtierenden Staatschef nicht zu kritisieren. Punkt. Das hat etwas mit der Achtung vor dem Amt zu tun. Punkt. Und damit, dass man nach dem Abschied aus dem Oval Office als überparteiliche Leitfigur dienen soll. Punkt. Barack Obama hat dieses Gesetz peinlichst beachtet, seit sein Nachfolger ins Amt gewählt wurde – bis er am Wochenende seinen Nachfolger Donald Trump plötzlich heftig angriff. Welches Kalkül steckt hinter Obamas Attacke? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold hat dazu eine lesenswerte Analyse geschrieben.

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WAS FASZINIERT MICH?

Nicht jedes angsterregende Tier eignet sich zur Verniedlichung. Gut, den mächtigen Braunbären haben wir erfolgreich eingeschrumpft; seiner Gewalt beraubt, ruht er nun als Teddy in Kinderbetten. Vom wilden, gefährlichen Eber hört man auch nicht mehr viel, eher von Schweinchen Dick. Aber bei Haien? Wir gönnen uns den Grusel in Schockern wie "Der weiße Hai", lassen uns aus sicherer Entfernung auch ganz gerne faszinieren. Aber zum Kuscheltier taugt er weiß Gott nicht. Warum? Schauen Sie doch mal hier.

Ich wünsche Ihnen einen beherzten Start in die Woche.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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