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Tagesanbruch – Brexit-Abstimmung in London: Hochmut kommt vor dem Knall


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.01.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Brexit-Anhänger Boris Johnson.Vergrößern des Bildes
Brexit-Anhänger Boris Johnson. (Quelle: Brian Lawless/PA via AP)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Aus Polen kommen zwei Nachrichten, die uns aufrütteln. Der während einer Benefizveranstaltung angegriffene Bürgermeister von Danzig, Pawel Adamowicz, ist an seinen Verletzungen gestorben. Einer der populärsten Politiker des Landes, der sich dem Nationalismus entgegenstellte, erstochen auf offener Bühne. Eine Tat, die fassungslos macht. Und viele Fragen aufwirft: Wie kann so etwas geschehen, woher rührt solcher Hass? Was schlussfolgern andere Lokalpolitiker aus der Gewalttat – in Polen, aber auch hierzulande, wo es ebenfalls schon brutale Angriffe auf Amtsträger gegeben hat? Die Antworten werden Zeit brauchen.

In Krakau hat unser Recherche-Chef Lars Wienand einen Prozess verfolgt, in dessen Verlauf ein brisanter Vorwurf aufgekommen ist: Ein Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten soll einen Brandanschlag in der Ukraine in Auftrag gegeben haben. Mein Kollege ist den Spuren gemeinsam mit Jonas Mueller-Töwe, Jonas Schaible und Sara Orlos nachgegangen.

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WAS STEHT AN?

Today is the day. Heute entscheiden 650 Menschen über Wohl und Wehe von 66 Millionen Menschen. So ist das in der repräsentativen Demokratie. Die 66 Millionen hatten ja schon die Wahl, und sie haben sich mit einer Mini-Mehrheit entschieden: Raus aus der EU! Jetzt sind die Abgeordneten des ehrwürdigen House of Commons dran. Nach monatelangen Verhandlungen, wilden Debatten und absurden Querelen zwischen Tories und Labour-Leuten, zwischen Brexit-Anhängern und -Gegnern, zwischen London und Brüssel stimmen sie heute Abend über das entscheidende Abkommen ab. Premierministerin Theresa May hat es den verbleibenden 27 EU-Ländern abgerungen, und bei aller Kritik (auch von mir): Es ist vermutlich der beste unter allen schlechten Deals, den die EU-Partner ihr zugestehen konnten, ohne Absetzbewegungen weiterer Länder zu riskieren.

Wenn nicht im letzten Moment noch ein Wunder geschieht, wird May heute Abend trotzdem eine krachende Niederlage erleiden. Weil die mit tonnenschwerer Symbolik aufgeladene Nordirland-Frage ungelöst bleibt. Weil die Unterhändler diese und weitere Knackpunkte ausgeklammert und auf später vertagt haben. Weil harte Brexit-Fans im dann drohenden Backstop den Beelzebub höchstpersönlich sehen. Weil Boris Johnson und andere Krachmacher offenbar nur eines noch lieber sehen wollen als den Vollzug des Brexits: dass Frau May krachend scheitert und aufgeben muss. Der Brexit ist auch eine Geschichte der politischen Eitelkeiten und Winkelzüge, der Rache und der Niedertracht.

Und des Niedergangs. "Diese Auseinandersetzung hat das Land vergiftet", analysiert unser Kolumnist Gerhard Spörl, der die internationale Politik seit Jahrzehnten beobachtet. "Sie gibt uns eine Ahnung davon, was einer alten, stabilen Demokratie widerfahren kann, wenn sie sich entlang eines fundamentalen Problems halbiert."

Und was geschieht, wenn sich der Rauch heute Abend verzogen hat? Ich habe Carsten Volkery gefragt, der für das "Handelsblatt" aus London berichtet und die Abgründe der britischen Politik seit Jahren analysiert. "Niemand zweifelt an Mays Niederlage; die einzige Frage ist, wie hoch sie ausfällt", schreibt er mir. "Zu normalen Zeiten würde eine Premierministerin dann zurücktreten, doch das wird nicht passieren. Der Brexit hat eine neue Normalität geschaffen, und May wird weitermachen, als sei nichts geschehen. Das Spiel wird in die nächste Runde gehen: Man guckt, ob bei den Europäern noch was zu holen ist. Und dann stimmt man eben noch mal ab. Der Druck im Kessel ist noch nicht groß genug. Für die Unternehmen und die Bevölkerung ist diese Hängepartie eine Zumutung. Sie lesen jeden Tag No-Deal-Horrorgeschichten und verzweifeln angesichts des kollektiven Versagens in Westminster. Das Empörende ist: Alle Beteiligten wissen, dass sie am Ende einem Kompromiss zustimmen müssen, um einen ungeordneten Brexit zu verhindern. Trotzdem verfolgen sie alle noch ihre Maximalziele."

Hochmut kommt vor dem Knall. Bei dem Drama, das die Briten da oben auf ihrer Insel veranstalten, bleibt uns hierzulande nur ein Kopfschütteln – oder sollten wir ihnen noch lauter sagen, dass wir sie gern weiterhin in unserer Gemeinschaft hätten? Im erfolgreichsten Staatenbund, den die Welt je gesehen hat, der gerade deshalb so stark ist, weil er so viele unterschiedliche Interessen vereint? Laut einer repräsentativen Umfrage von t-online.de wünschen sich mehr als 73 Prozent der Deutschen, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt. Hallo da oben, habt ihr das gehört?

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424 Euro monatlich für Alleinstehende. Zweimal 382 Euro für Paare. 339 Euro für Erwachsene ohne eigenen Haushalt. 322 Euro für Kinder zwischen 14 und 17 Jahren. 302 Euro für 6- bis 13-Jährige. 245 Euro für Kinder bis 6 Jahre. So viel (oder so wenig) bekommen die knapp sechs Millionen Menschen in Deutschland, die Hartz IV beziehen – wenn, ja wenn sie alle Anträge vollständig ausgefüllt haben (was Stunden dauern kann), sie sich penibel an die bürokratischen Vorschriften halten (was manchmal einem Hexenwerk gleicht) und die Sachbearbeiter bei der Berechnung keinen Fehler machen (was oft vorkommt). Laut Bundesagentur für Arbeit waren 2018 mehr als ein Drittel aller Klagen und Widersprüche gegen Hartz-IV-Bescheide erfolgreich.

Was aber, wenn die Antragsteller selbst einen Fehler machen oder – wie es in nüchternem Bürokratendeutsch heißt – "ihren Pflichten nicht nachkommen", zum Beispiel indem sie einen Termin beim Jobcenter versäumen? Dann reagieren die Behörden mit saftigen Strafen. In der Bürokratensprache heißt das: "Sanktionen". In der Realität heißt es: zehn Prozent weniger Geld, bei mehrmaligem Fehlverhalten noch weniger. Das mag man a) für eine notwendige Erziehungsmaßnahme eines effektiven Behördenapparats halten, der sich nicht von Faulpelzen ausnehmen lässt. Oder b) für eine erbarmungslose Schikane gegen wehrlose Bürger, die ohnehin nicht vom Glück geküsst sind. Oder für etwas dazwischen. In jedem Fall ist die Praxis umstritten. Deshalb ist es gut, dass das Bundesverfassungsgericht heute darüber verhandelt, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

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Bundeskanzlerin Merkel trifft sich heute mit den Ministerpräsidenten der Kohle fördernden Länder, um über den Ausstieg aus der Braunkohle zu beraten. Entschieden wird da noch nix, erst muss die Kohlekommission im Februar ihren Vorschlag vorlegen, wie viel Geld noch in die betroffenen Regionen gepumpt werden soll. Das ist ein altes Lied mit neuem Text. Wenn ich jetzt schreibe, dass die Förderung des "Strukturwandels" (typischer Politikerbegriff) in ehemaligen Stein- und Braunkohlerevieren seit den 1960er-Jahren schon mehr Geld verschlungen hat als die gesamte Aufbauhilfe für die neuen Bundesländer, blicken Sie vielleicht ein wenig ungläubig von Ihrem Smartphone auf. Ist aber so. Und es wird noch teurer.

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Der französische Präsident Macron ist immer noch mächtig unter gelbem Druck. Um den loszuwerden, reist er ab heute durchs Land und beginnt eine "nationale Debatte" (noch so ein Politikerbegriff). Sprich: Er will mit möglichst vielen Bürgern diskutieren, wie man nötige Reformen so anpacken kann, dass niemand übervorteilt wird und alle sich mitgenommen fühlen. Die Bürger können Vorschläge zu Themen wie Steuern, Ökologie, Migration und Staatsorganisation mitbringen. Die Bundesregierung praktiziert ein ähnliches Format schon länger bei ihrem "Bürgerdialog" – aber in Frankreich ist ein entscheidender Punkt anders: Die Regierung hat versprochen, aus der Debatte sofort Schlüsse zu ziehen und bis Anfang April konkrete Entscheidungen zu treffen. Merke: Wer unter Druck gerät, entscheidet schneller. Können wir von unseren Nachbarn etwas lernen?

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Bahnchef Richard Lutz muss heute bei Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) antanzen und erklären, warum er die mindestens 195 Probleme der Bahn nicht in den Griff kriegt. Wenn er mutig ist, gibt er ihm genau eine Antwort: Weil die Bundesregierung sich nicht entscheiden kann, ob die Bahn in erster Linie Passagiere befördern oder im weltweiten Logistikgeschäft Geld scheffeln soll.

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Auf den Flughäfen Frankfurt, Hamburg, München, Hannover, Bremen, Leipzig, Dresden und Erfurt streikt heute das Sicherheitspersonal. Wohl dem, der ab Köln fliegt.

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WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Das Vertrauen der Bürger in die Sicherheits- und Justizbehörden ist ein hohes Gut, vielleicht das wertvollste überhaupt. Am Beispiel der deutschen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts, aber auch in heutigen Unrechtsregimen in vielen Ländern lässt sich ablesen, wie schnell Misstrauen, Angst und Hass eine Gesellschaft zersetzen können, wenn die Menschen den Eindruck bekommen, dass der Staat sie nicht mehr schützt; wenn Polizisten wegsehen und Richter lieber beide Augen schließen, statt offenkundige Gesetzesbrüche zu entlarven.

Ich hänge dieses Thema bewusst so hoch auf und ziehe den möglicherweise gewagten Vergleich zur deutschen Vergangenheit, weil ich überzeugt bin, dass jede noch so scheinbar kleine Entwicklung in diese Richtung unterbunden werden muss. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich den Artikel von Annette Ramelsberger in der "Süddeutschen Zeitung" las. Was die Gerichtsreporterin dort beschreibt, klingt ebenso haarsträubend wie alarmierend.

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Ein Thema droht bei all den Schnee-/Brexit-/Trump-Dramen dieser Tage aus dem Blick zu geraten, dabei treibt es immer noch viele Menschen um. Jedenfalls alle, die einen Diesel besitzen und seit Monaten mehr oder weniger fassungslos zusehen, wie sie aus immer mehr Städten ausgesperrt, von den Autoherstellern im Stich und von der Bundesregierung im Unklaren gelassen werden. Unter den deutschen Konzernen weigert sich BMW besonders hartnäckig, seinen Kunden entgegenzukommen und ihnen ein Hardware-Update einzubauen. Weil das technisch nicht möglich sei, tönt es aus München. Nicht möglich? Dieser kurze Beitrag der Kollegen vom ZDF entlarvt solche Behauptungen.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Was macht eigentlich Horst Seehofer da unten im südbayerischen Schneechaos? Ach so:

Ich wünsche Ihnen trotz (oder gerade wegen) Schnee, Eis und Kälte einen behaglichen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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