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Tagesanbruch: G20-Gipfel – eine historische Chance


Was heute wichtig ist
Eine historische Chance

MeinungVon Florian Harms

28.06.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
G-20-Politiker Merkel, Tusk, Trump.Vergrößern des Bildes
G-20-Politiker Merkel, Tusk, Trump. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Ein Drama in fünf Sätzen: 42 Menschen irren seit mehr als zwei Wochen auf dem Seenotrettungsschiff "Sea-Watch 3" durchs Mittelmeer. Die italienische Regierung lässt sie nicht an Land. Und die Europäische Union schaut zu. Wie auch immer man zur Flüchtlingspolitik steht: Schutzbedürftige Menschen so im Stich zu lassen, ist ein moralisches Versagen. Europa verrät seine eigenen Werte.


WAS STEHT AN?

Politisches Handeln unterliegt nicht nur Sachzwängen, sondern auch Stimmungen. Vor ziemlich genau einem Jahr war die Stimmung hierzulande aufgebracht: Der Mord an der Schülerin Susanna F., mutmaßlich von einem irakischen Asylbewerber begangen, sorgte für riesige Schlagzeilen, empörte viele Menschen, setzte die Bundesregierung unter Druck. Wenig später wurde in Chemnitz Daniel H. erstochen, auch dort sollen die Täter Flüchtlinge gewesen sein. Das Wort von der Flüchtlingskriminalität beherrschte wochenlang die Debatten in Politik, Talkshows und Medien. So schlimm die Taten waren, zeitweise konnte man den Eindruck gewinnen, da gehe jedes Maß verloren.

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Aus der Stimmung erwuchsen Folgen: Die Regierungsparteien schmiedeten im Eiltempo Gesetze, die das Asylrecht verschärfen, Abschiebungen erleichtern, zugleich die Einwanderung von Fachkräften erleichtern sollen. Anfang Juni verabschiedete der Bundestag das Paket, heute stimmt der Bundesrat darüber ab. Knapp ein Jahr von der Initiative bis zur Umsetzung: Das ist im parlamentarischen Prozess ein vergleichsweise zügiges Tempo – und zeigt doch, wie sehr das politische Handeln der gesellschaftlichen Stimmung hinterherhechelt.

Denn in diesen Sommertagen dominiert ein ganz anderes Thema die Debatten: In den Talkshows, an den Küchentischen und heute wieder auf den Straßen drehen sich die Diskussionen vor allem um den Klimaschutz. Dort sowie bei Pflege und Rente sieht die Mehrheit der Bürger gegenwärtig die drängendsten Probleme, wie auch der Deutschland-Puls auf t-online.de zeigt. Und wie schon vor einem Jahr drängt sich auch jetzt wieder der Eindruck auf: Die Regierenden haben kein langfristig vorbereitetes Konzept, das die Probleme löst, statt sie zu verwalten. Stattdessen suchen sie hektisch nach schnellen Lösungen, um der Stimmung zu entsprechen. Die Kanzlerin verspricht ein Klimaschutzgesetz bis Herbst, verlangt “disruptive Veränderungen“ statt “Pillepalle“. So spricht eine Getriebene. Getrieben von den eigenen Versäumnissen – und der gesellschaftlichen Stimmung.

Ersteres kann man ihr vorwerfen, letzteres nicht. Es zeigt uns nur, wie schwer Politiker sich heute tun, strategisch statt taktisch zu handeln und zugleich mit dem Stakkato der öffentlichen Emotionen Schritt zu halten. Meinungsbildung und Gesetzgebungsprozesse brauchen in der Demokratie Zeit. Das ist gut so. Zugleich wirken die Entscheidungen in den Regierungsparteien und Ministerien zu oft überhastet. Und wenn sie Pech haben, können sie bald gar nichts mehr entscheiden. “Die große Koalition wird Weihnachten nicht mehr erleben“, soll Vizekanzler Olaf Scholz laut “Focus“ in einer SPD-Sitzung gesagt haben. Spätestens dann wird sich die Stimmung aufs Neue drehen – und wir haben das nächste Aufregerthema.


Heute werden wir die üblichen Bilder sehen. Merkel begrüßt Xi. Putin reicht Macron die Hand. Abe flüstert Modi einen Scherz zu. Und alle schielen sie mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung auf den Mann mit der Föhnfrisur aus Washington. So oder ähnlich haben wir das schon mal gesehen. Trotzdem ist der heute beginnende G20-Gipfel der großen Wirtschaftsnationen im japanischen Osaka anders. Speziell. Prekär. Wohl noch nie in der Geschichte des Gipfelreigens war die Stimmung so angespannt, die Lage so heikel. Donald Trump hat Chinesen und Europäern den Handelskrieg erklärt. Peking schlägt mit allen Tricks zurück, die Europäer versuchen es mit einer Mischung aus Stoizismus und gutem Zureden. Im Nahen Osten verschärft der von Amerika geschürte Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran die ohnehin brandgefährliche Lage. Die Atomgespräche mit Nordkorea sind festgefahren. Beim Klimaschutz gefallen sich die meisten G20-Staaten in vagen Versprechen (mehr über die Gipfelthemen hier).

In den vergangenen Stunden raunten die Sherpas, dass es beim Handelskrieg vielleicht einen “vorläufigen Burgfrieden“ geben werde – aber bei den meisten anderen Streitthemen kaum mit Durchbrüchen zu rechnen sei. Das wäre umso tragischer, da die latenten Ungerechtigkeiten dieser Welt so erst recht aus dem Blick geraten. Dabei könnten die G20-Länder sie beheben. Zum Beispiel die Tatsache, dass ein Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des weltweiten Vermögens besitzt. "Das ist ein unglaublicher Skandal", sagt der Chef der Entwicklungsorganisation Oxfam. Es sei unmoralisch, ökonomisch unsinnig und gefährde den Zusammenhalt der Gesellschaften. "Extreme Ungleichheit ist der Nährboden für Gewalt und diktatorische Strömungen." Ein Grund für diese Ungleichheit seien ungerechte Steuersysteme: "Reiche Personen und multinationale Unternehmen drücken sich um ihren fairen Beitrag für das Gemeinwohl." Internationale Konzerne zahlen demnach heute immer noch weniger Steuern als vor der Finanzkrise 2008. 40 Prozent ihrer Auslandsprofite bringen sie in Steueroasen. So gehen allein den Entwicklungsländern jährlich 100 Milliarden US-Dollar verloren.

Ein unhaltbarer Zustand, das hat auch den Chefs der G20-Staaten gedämmert. Deshalb könnte es heute doch noch eine zweite Einigung geben, wenn sie sich in Osaka auf eine globale Mindeststeuer für international agierende Großkonzerne verständigen. Auch die mächtigsten Unternehmen der Welt – Google, Facebook, Amazon – würden dann endlich angemessener besteuert. Es wäre ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit auf unserem Globus. Und ein Erfolg für Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt, die seit Jahren einen automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten fordern. Denn nur so lassen sich Steueroasen eindämmen. “Viele Staaten könnten sich Schulen, Krankenhäuser und soziale Sicherungssysteme leisten und wären dafür nicht auf Entwicklungshilfe angewiesen, wenn es keine legalen Steuervermeidungsmöglichkeiten mehr gäbe“, sagt eine Sprecherin.

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Klingt so einfach und so logisch. Bleibt zu hoffen, dass auch die G20-Chefs logisch denken können.


Es gibt Ereignisse von solch symbolischer Wucht, dass sie ihre Zeit in neue Bahnen lenken. Beschlüsse, deren bloße Erwähnung die Gemüter erhitzt und manchen die Zornesröte ins Gesicht treibt. Weichenstellungen, die für die Demagogen unter uns ein gefundenes Fressen sind. Die als nationaler Ausverkauf gebrandmarkt, politisch ausgeschlachtet und so lange mit Fake News aufgebauscht werden, bis die extremen Kräfte an den Rändern der Politik schließlich in die Mitte vordringen. Sie wissen schon, worauf ich anspiele? Klar, es geht um… den Vertrag von Versailles.

Heute vor hundert Jahren erschien der frischgebackene deutsche Außenminister Hermann Müller im prächtigen Spiegelsaal von Versailles, beugte sich mit hochrotem Kopf über die dort ausgebreiteten Dokumente und tat, was er tun musste, denn er hatte keine Wahl. Er unterschrieb. Es war nicht einfach gewesen, überhaupt jemanden zu finden, der diesen demütigenden Gang auf sich nehmen wollte – sein Vorgänger hatte gerade unter Protest hingeschmissen, nur der Verkehrsminister war noch mit dabei. Frieden! Ein großes Wort nach dem unfassbaren Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Nichts weniger als dieses große Werk sollte der Vertrag vollbringen, und wenn man es wörtlich nimmt, tat er das auch: Denn ein französisches Bataillon stand schon bereit, die Kampfhandlungen wieder aufzunehmen, sollten die Deutschen die Unterschrift verweigern. Der Geist der Milde und der Nächstenliebe durchflutete jedenfalls nicht den Saal, als die Siegermächte von Frieden parlierten.

Man kann das verstehen. Auf dem Weg zur Unterzeichnung wurde die deutsche Delegation per Sonderzug durch die verwüsteten Regionen Frankreichs gefahren, um ihr das Ausmaß der Zerstörung vor Augen zu führen. Jetzt war die Stunde der Abrechnung gekommen: Die Sieger drückten den Verlierern immense Reparationsforderungen und Gebietsabtretungen auf. Mit seinem Wunsch einer Zerschlagung Deutschlands konnte sich der französische Premierminister Georges Clemenceau zwar nicht durchsetzen, aber die ungeteilte Schuld am Krieg sahen die Alliierten nur bei einer Partei. Die deutsche Öffentlichkeit, zerrissen im Ringen um eine neue Ordnung nach dem Ende des Kaiserreichs, reagierte darauf mit seltener Einigkeit: entsetzt. Und empört.

In Deutschland geschah daraufhin etwas, das wir uns auch heute wieder vor Augen führen sollten: Erst kamen die Worte, dann kamen die Taten. Das Wort vom "Schandfrieden". Die "Erfüllungspolitiker", die es gewagt hatten, ihn zu unterschreiben. Das Ganze gewürzt mit dem "Dolchstoß", mit dem die "Vaterlandsverräter" den sicheren deutschen Sieg im Krieg hintertrieben hätten: eine Verschwörungstheorie, die von den Strippenziehern im Militär gestreut wurde und sich hartnäckiger hielt als alles, was heute an wirren Theorien via Facebook in die Köpfe gekippt wird. Der Sprache der Gewalt folgten die Gewalttaten. Politische Morde wurden Routine. Zu den bekanntesten Opfern gehörte Matthias Erzberger, der den Waffenstillstand unterzeichnet hatte und dafür mit anhaltender Hetzpropaganda überzogen wurde. Rechtsterroristen ermordeten ihn drei Jahre später. Ja, so war das mit dem Vertrag von Versailles, dem Reizthema Nummer eins vor einhundert Jahren. Aber das ist ja alles lange her. Oder nicht?


WAS LESEN?

Die Klimaschutzdebatte beschäftigt viele Leserinnen und Leser des Tagesanbruchs. Könnte Atomenergie vielleicht doch eine Alternative zum massenhaften CO2-Ausstoß sein, so wie am Mittwoch an dieser Stelle diskutiert wurde? Aber was ist dann mit dem Atommüll? Die ausgemusterten Brennstäbe strahlen doch noch viele Jahre lang! Berliner Physiker wollen eine Lösung für das Problem gefunden haben: Sie haben einen Reaktor entworfen, der effektiv arbeitet, nur wenig Abfall produziert und obendrein ziemlich sicher sein soll. Die Umsetzung wäre allerdings aufwendig. Auf der Website des Forscherteams erfahren Sie mehr über die Technologie, im Portal “Ingenieur.de“ lesen Sie eine kurze Erläuterung.


WAS AMÜSIERT MICH?

Bei dieser Hitze kommen manche schon mal ins Zittern. Andere kommen auf die verrücktesten Ideen.

Welche Idee auch immer Sie heute haben, baden Sie sie aus! Ich wünsche Ihnen einen kreativen Freitag. Wenn Sie den Tagesanbruch abonniert haben, bekommen Sie morgen früh die Wochenendausgabe geschickt.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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