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Lockdown und Corona-Regeln: Ausgangssperren brauchen wir nicht


Was heute wichtig ist
Ausgangssperre bedeutet Versagen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.01.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Kontrolle der Ausgangssperre in Worms: Die Stadt hat den zweithöchsten Inzidenzwert in Rheinland-Pfalz.Vergrößern des Bildes
Kontrolle der Ausgangssperre in Worms: Die Stadt hat den zweithöchsten Inzidenzwert in Rheinland-Pfalz. (Quelle: imago-images-bilder)

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WAS WAR?

Als ich gestern den Briefkasten öffnete, flatterte mir ein Zettel entgegen. "ZWANG ZUR IMPFUNG DROHT" schrien mich Großbuchstaben an, darunter das Bild eines Kindes mit Spritze im Oberarm und schmerzverzerrtem Gesicht. Ein Professor Dr. Sowienoch warnte vor "80.000 Toten und vier Millionen Impfgeschädigten durch eine Corona-Zwangsimpfung in Deutschland". Wieder so ein Spinner, dachte ich und wollte den Flyer gerade in den Eimer schnipsen, da stutzte ich und blickte auf die andere Straßenseite. Dort hatte ein Nachbar gerade den gleichen Zettel aus dem Briefkasten gezogen, las ihn aufmerksam und nahm ihn mit ins Haus. Da mir der Herr bisher nicht als meschugge aufgefallen war, entschloss ich mich, die Sache genauer anzusehen. Also guckte ich im Internet, was über Herrn Professor Dr. Sowienoch zu erfahren ist.

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Das Ergebnis war erstaunlich. Der Mediziner hat zwar früher ein Institut an einer Universitätsklinik geleitet, ist aber seit vielen Jahren nicht mehr in der Forschung tätig. Trotzdem verbreitet er seit Ausbruch der Corona-Pandemie unermüdlich seine Ansichten über das Virus, die ganz anders sind als die Erkenntnisse der Virologen, denen wir täglich in Podcasts und Talkshows lauschen. Er brandmarkt die Seuche als "Fake-Pandemie“, in der "Politiker und Medien alles tun, um Angst zu verbreiten, die Menschen einzuschüchtern und die Gesellschaft zu spalten." In den Krankenhäusern herrsche "Normalbetrieb", die Wirtschaft werde "durch unnötige Einschränkungen abgewürgt". So lautet sein Vorwurf, der von unzähligen Gegnern der Corona-Politik in Foren, Chats und Postings beklatscht und weitererzählt wird, geadelt vom Professorentitel.

Man könnte darüber lachen, wäre es nicht so beklemmend. Besitzt man einen gefestigten Charakter und sperrt Augen und Ohren auf, statt nur das zu sehen und zu hören, was einem selbst ins Weltbild passt, vertraut man seriösen Medien eher als irgendwelchen Parolen auf Facebook, WhatsApp und Co., dann ist es ein Leichtes, die Behauptungen eines Professor Dr. Sowienoch als Unsinn zu entlarven. Aber je länger uns die Pandemie im Griff hält, desto schwerer scheint das vielen Leuten zu fallen. Sie sind zermürbt von der sozialen Isolation, von den täglichen Hiobsbotschaften, vom Winter – und werden anfällig für das Gift einer kleinen, aber lauten Minderheit, die im Internet und in Briefkästen ihre Spuren hinterlässt, die den Regierenden Panikmache vorwirft und dabei selbst mit irrationalen Behauptungen Ängste schürt. So trägt sie dazu bei, viele Bürger genau in dem Moment zu verunsichern, in dem diese eigentlich besonders standhaft sein müssten.

Das hat Folgen. Die Skepsis gegen die Corona-Impfung wird nicht kleiner, sondern größer. Damit droht unsere schärfste Waffe gegen das Virus stumpf zu werden. Eigentlich müssten wir angesichts der Mutationen aus England, Südafrika und Garmisch-Partenkirchen unsere Anstrengungen verstärken, Tag und Nacht impfen. Doch vielerorts wollen Menschen die Spritze gar nicht haben, und in ihren Befürchtungen werden sie von dubiosen Sowienoch-Medizinern bestärkt. Man kann es ja gar nicht oft genug wiederholen: Es gibt keinerlei Hinweise auf bleibende Schäden durch die Impfung gegen Covid-19, und sie verändert auch nicht das Erbgut. Wer solche Ängste schürt, verschlimmert die Folgen der Pandemie.

Doch wir wären nicht objektiv, würden wir den Schwarzen Peter nur den Quacksalbern im Internet und im Briefkasten zuschieben. Auch die Regierenden tragen eine Mitverantwortung für die mangelnde Impfbereitschaft vieler Bürger.

Da ist erstens die mangelnde Aufklärung: Der Flut an hanebüchener Panikmache stehen erstaunlich wenige Informationen der Ministerien und Behörden entgegen. Vor allem in den sozialen Medien bräuchte es eine wirksame Aufklärungskampagne gegen all die Gerüchte, Lügen und Verschwörungen.

Zweitens verdient der Impfplan ein Fragezeichen: Ist es wirklich sinnvoll, die Spritzen ausnahmslos nach Alter und Gefährdung gestaffelt zu verteilen? Wäre es nicht besser, Spitzenpolitiker würden wie in Israel und Polen mit gutem Beispiel vorangehen und dadurch vielen Bürgern die Furcht nehmen? Wenn die Merkel und der Scholz sich piksen lassen, na, dann mache ich das auch.

Drittens preschen Regierende zu oft mit Versprechen vor und müssen später zurückrudern. Die monatelange Debatte um Lockdowns und Lockerungen hat viel Vertrauen zerstört, ebenso die voreilig bejubelte Corona-App und nun die Ankündigung, dass es für Geimpfte keinerlei Privilegien geben werde. Also Lockdown für alle bis zum Herbst oder wie? Will man nicht den endgültigen Kollaps ganzer Branchen und Proteststürme in der Bevölkerung riskieren, lässt sich das nicht durchsetzen. Auch das Grundgesetz stünde dem wohl entgegen. Stellt sich in der Forschung heraus, dass Geimpfte nicht nur geschützt, sondern zudem nicht mehr ansteckend sind, spricht nichts dagegen, dass sie wieder in Restaurants spazieren, Reisen unternehmen und Partys feiern. Außenminister Heiko Maas hat das als Erster in der Bundesregierung erkannt, aber er dürfte nicht der Einzige bleiben.

Aufklärung, Weitsicht und Wahrhaftigkeit sind in diesem Corona-Winter dringend nötig. Damit die Sowienochs nicht noch mehr Leute verunsichern.


WAS STEHT AN?

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern im Berliner Regierungsviertel: Heute Nachmittag geht es zur Sache. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten werden auf ihrer Videokonferenz um noch härtere Schritte gegen das Coronavirus ringen. Die Verlängerung des Lockdowns gilt als ausgemacht – nur dass der Lockdown, Hand aufs Herz, bisher eigentlich keiner ist. Die gähnende Leere auf den Straßen kennen wir aus dem Frühjahr, aus diesem Winter aber nicht. Das passende Symbolbild zum Mogel-Lockdown hat uns der neue Berliner Hauptstadtflughafen BER beschert, wo sich vor der Passkontrolle die Passagiere drängeln. Kein Wunder, dass im Vorfeld der heutigen Beratungen jede Stellschraube unter die Lupe genommen wird, an der man zur Infektionsbekämpfung noch drehen kann. Überdrehen geht aber leider auch.

Bisher haben nur einige Bundesländer ortsweise zu Ausgangsperren gegriffen, meine Kolleginnen Sandra Simonsen und Melanie Weiner zeigen Ihnen, wo. Nun aber wird über einen breiteren Einsatz diskutiert: alle Bürger stundenlang zu Hause einsperren. Das erinnert uns an Frankreich und Spanien – ist zugleich aber symptomatisch für eine Debatte, die zu entgleisen beginnt. Denn anders als bei vielen anderen Fragen, vor die das Virus uns stellt, ist die Sachlage in diesem Fall einfach: Draußen zu sein tut nicht nur gut, es ist auch gut. Solange Menschen grundlegende Regeln befolgen und ihre Bewegungsfreiheit nicht dazu nutzen, die Kontaktbeschränkungen zu unterlaufen, braucht man niemanden nach drinnen zu verbannen. Das Virus jedenfalls erfordert es nicht, auch nicht seine mutierten Varianten. Im Gegenteil: Abends noch rasch in den Supermarkt zu huschen, statt sich während beschränkter Öffnungszeiten an der Kasse zu drängen, ist sogar wünschenswert.

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Warum dann eine Ausgangssperre? Um die kommt man nur dann nicht mehr herum, wenn Scharen von Menschen nicht an die frische Luft, sondern schnurstracks zur gemeinsamen Kaffeetafel oder dem geselligen Feierabendbier huschen. Eine Ausgangssperre ist eine Bankrotterklärung. Sie teilt uns mit, dass wir als Gesellschaft im Kampf gegen Covid-19 versagt und Grundlegendes nicht verstanden haben. Zum Beispiel, dass die Schlacht gegen das Coronavirus keine Open-Air-Veranstaltung ist, sondern drinnen ausgetragen wird. Nicht die Bewegung an der frischen Luft gehört ins Visier, sondern die Orte, zu denen die Bewegung führt. Und da gibt es vieles, was auf den Prüfstand gehört:

Erstens versammeln sich noch immer zu viele Kinder in den Schulen. Zwar ist die Anwesenheit dort nicht länger Pflicht, doch als Kür ist sie immer noch erlaubt. "Notbetreuung“ heißt die Veranstaltung offiziell, doch viele Eltern lassen die drei ersten Buchstaben weg und schicken ihre lieben Kleinen auch dann in die Schule, wenn Heimunterricht zwar möglich wäre, aber lästig ist.

Zweitens sind die öffentlichen Verkehrsmittel immer noch zu voll. Anders als im ersten Lockdown drängeln sich in U-, S- und Straßenbahnen, in Bussen, Bahnhöfen und Flughäfen zu den Stoßzeiten vielerorts die Leute. Anderthalb Meter Abstand halten? Oft gar nicht möglich. Dass es das Hochtechnologieland Deutschland, Heimat der Ingenieure, Verkehrsplaner und Autokonzerne, in zehn Monaten nicht geschafft hat, den öffentlichen Nahverkehr so zu organisieren, dass Fahrgäste überall einigermaßen sicher vor Ansteckungen sind, bleibt rätselhaft.

Drittens haben sich die Entscheider noch nicht an das heißeste Eisen der Pandemiebekämpfung herangetraut: Das Arbeitsleben – eben nicht nur in den Büros, sondern auch in den Fabriken – ist die größte Auslassung im Maßnahmenkatalog, und wir wissen alle, warum das so ist. Die Gefahr für die Arbeitsplätze. Die immensen Kosten. Die Pleiten.

Doch das ist es, worüber wir jetzt reden müssen. Nicht über Ausgangssperren, nicht über die Schlittenfahrer am Wochenende, nicht über das Kleinklein. Aufmerksame Tagesanbruch-Leser wissen, was ich meine: Wir müssen das Virus mit einem Kraftakt vollständig besiegen, statt uns in einem endlosen Abnutzungskrieg zu verschleißen.So beschädigen wir die Wirtschaft nicht. So retten wir sie. So erhalten wir unsere Freiheiten zurück. Das verlangt jetzt eiserne Disziplin, aber es gibt uns auch ein klares Ziel. Ausgangssperren? Brauchen wir nicht.


Morgen endet Donald Trumps Amtszeit. Sein früherer Nationaler Sicherheitsberater John Bolton zieht ein klares Fazit: "Trump wird definitiv als der schlechteste US-Präsident in die Geschichte eingehen", sagt der erzkonservative Republikaner im Interview mit unserem Washington-Korrespondenten Fabian Reinbold – und prophezeit dann, was Trump nun droht.


"Enthemmt" nennt Adam Tooze den Regierungsstil Trumps. Der Wirtschaftshistoriker kann aber auch erklären, was der enthemmte Präsident Gutes getan hat – und zwar für die ganze Welt, wie er meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir erklärt hat.


WAS LESEN?

Statt die Täter des Mordanschlags zu verfolgen, drangsalieren die russischen Sicherheitsbehörden das Opfer: Zu 30 Tagen Gefängnis ist Alexej Nawalny nach seiner Wiedereinreise verknackt worden. Der Oppositionelle schwebe nun in Lebensgefahr, sagt die Russland-Expertin Sarah Pagung meinem Watson.de-Kollegen Lukas Weyell."


Plötzlich reden alle über "Clubhouse“. Was kann die neue Social-Media-App und was ist so toll daran? Unser Digitalchef Jan Mölleken erklärt es Ihnen.


WAS AMÜSIERT MICH?

Viele Leute hocken derzeit allein zu Hause. Dass das nicht langweilig sein muss, beweisen uns einige fröhliche Gesellen im Internet: Sie haben die alte Tradition der Walfänger-Shantys wiederbelebt. Das Gewerbe ist brutal – aber die Musik ist berührend.

Ich wünsche Ihnen einen frohen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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