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Kampf gegen Corona: China hat das nächste Problem


Tagesanbruch
Corona: China hat das nächste Problem

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.05.2021Lesedauer: 8 Min.
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China hat ein Impfproblem.Vergrößern des Bildes
China hat ein Impfproblem. (Quelle: imago images)

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Das große Rennen

Die Ersten werden die Letzten sein. So steht es im Neuen Testament, das sich an dieser Stelle den drohenden Unterton nicht verkneifen kann und uns vor der saturierten Selbstgefälligkeit warnt, wenn es gar zu gut läuft und die wirklich wichtigen Ziele aus dem Blick geraten. Eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme, heißt es dort weiter, damit auch der Letzte kapiert, dass erst am Ende abgerechnet wird. In unseren Tagen könnte der biblische Tritt in den Hintern manche Regierungschefs inspirieren – zum Beispiel am anderen Ende der Welt, im fernen Australien.

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Denn in Down Under durfte man sich bisher eigentlich selbstzufrieden auf die Schulter klopfen. Schotten dicht, harte Kante, alles richtig gemacht mit Corona: Das Virus wird sofort niedergeknüppelt, wo immer es sich zeigt. Der Erfolg des entschlossenen Vorgehens kann uns gebeutelte Mitteleuropäer vor Neid erblassen lassen. In manchen Landstrichen haben die Aussies noch nie eine Maske aufgesetzt und kennen den Dresscode der Pandemie nur aus dem Fernsehen. Man kann also die Dinge dort locker angehen. Erst mal was auf dem Grill nachlegen, während überall sonst auf der Welt die Leute panisch nach besseren Strategien und rettenden Impfdosen rufen. Ach ja, apropos, die Impfung. Da müssen wir uns irgendwann auch mal drum kümmern. Bierchen? Cheers!

Es ist diese entspannte Haltung, die sich nun rächt, nicht nur in Australien. Dort sind beim gegenwärtigen Impftempo alle Erwachsenen gegen Covid geimpft bis zum... Moment... August. Nein, nicht 2021. Sondern 2023. In Japan wiederum, wo anderthalbmal so viele Menschen leben wie in Deutschland, aber lediglich Zehntausend von ihnen an Covid-19 gestorben sind, kommt die Impfkampagne ebenfalls nicht in Gang. In der Bevölkerung wächst die Nervosität, je näher die Olympischen Spiele rücken. Teams aus aller Welt schleppen womöglich bald nicht nur ihre Sportklamotten, sondern auch das Virus in die japanischen Quartiere. Besonders schwierig stellt sich die Situation jedoch in Taiwan dar. Das Land hat bisher ganz oben auf dem Corona-Siegertreppchen gestanden. Ohne Übertreibung kann man sagen: Covid-19 hat dort überhaupt nicht stattgefunden. Die Impfkampagne allerdings auch nicht. Kaum wahrnehmbare 0,3 Prozent der Bevölkerung haben bisher Bekanntschaft mit der Nadel gemacht.

Die strategische Bedeutung dieses Rückstands hat man vor allem dort erkannt, wo sowieso ununterbrochen über Macht, Strategie und das Ringen der Systeme sinniert wird: in Peking. "Wer zuerst die Herdenimmunität erreicht, wird sich als Erster der Welt wieder öffnen können", fasst Chinas Chef-Epidemiologe das Wettrennen nüchtern zusammen. Anders gesagt: Herdenimmunität ist gut fürs Geschäft, und eine hervorragende Machtoption. Die Gesundheit? Ja, schon, auch.

Entsprechend laut ist das patriotische Getöse, mit dem das Volk zu den Impfstationen gerufen wird. Parteikomitees machen Druck in der Nachbarschaft. Geschäfte werden mit einem grünen Zertifikat am Eingang belohnt, sobald sich die Belegschaft hat impfen lassen. Und beim Shoppen gibt es Prozente für Geimpfte. Die Zahlen, die das Riesenreich präsentieren kann, sind auf den ersten Blick beeindruckend: Schon 285 Millionen Dosen haben das nationale Immunsystem stimuliert. Im April hat China die USA vom ersten Platz verdrängt.

Aber angesichts der schieren Masse von Menschen, die den Weg ins Impfzentrum finden muss, sind das nur kleine Brötchen. Selbst in Deutschland liegen wir im prozentualen Vergleich weit vorn und haben inzwischen fast das doppelte Niveau an Injektionen erreicht. Schlimmer noch für Peking: Um die Wirksamkeit der chinesischen Impfstoffe ist es nicht gut bestellt. Dem Exportschlager Sinovac haben brasilianische Behörden lediglich einen fünfzigprozentigen Schutz vor dem Erreger bescheinigt, nur um Haaresbreite über der Mindestanforderung der Weltgesundheitsorganisation. Um die ersehnte Herdenimmunität mit einem solchen Serum zu erreichen, muss man noch mehr Menschen impfen als ohnehin schon.

Seit einem Jahr läuft die chinesische Propagandamaschinerie auf Hochtouren, um die Erinnerung an die schlimmen, frühen Wochen der Pandemie auszulöschen, an die Bilder aus Wuhan, die Vertuschung, das Chaos. Als Corona-Besieger will Präsident Xi Jinping in den Geschichtsbüchern stehen, und nicht nur in denen, die seine Partei selbst druckt. Die Botschaft: Selbst die Seuche muss sich der großen historische Linie beugen, die China an die Weltspitze führt. Aber jetzt? Impfen sich die Pandemieversager aus Europa und den USA auf einmal den Weg aus der Quarantäne frei? Überholen doch glatt China?? Alarm!!

Wir halten fest: Das Rennen darum, wer aus der Pandemie gestärkt hervorgeht, ist noch nicht entschieden. Es gibt überraschende Wendungen. Und manchmal sind die Letzten die Ersten.


Transusen bitte abtreten

Trägheit, die: Eigenschaft jeder Masse, einer Änderung des Bewegungszustandes einen Widerstand entgegenzusetzen – so definiert die Physik den Begriff. Wörterbücher geben als Synonyme Langsamkeit an, außerdem Schwerfälligkeit, Passivität, Desinteresse und Gleichgültigkeit. Erlesene Werke nennen auch mangelnden Elan, Saumseligkeit und, besonders treffend, die Transusigkeit.

Wir können die Definitionen getrost allesamt auf die Politik übertragen. Alle diese Begriffe treffen zu, um die deutsche Klimapolitik der vergangenen Jahrzehnte zu beschreiben. Da wurden auf Konferenzen und Gipfeln, in Parlaments- und Sonntagsreden oft und gerne die längst bekannten Probleme angeprangert (Erderhitzung, schmelzende Gletscher, Meeresspiegelanstieg, auftauende Permafrostböden, Extremwetter, Missernten, Artensterben etc. pp.) und ebenso wortreich Gegenmittel beschworen (Energiewende, Agrarwende, Verkehrswende, Sowienochwende etc. pp.), doch konkret geschehen ist viel zu lange viel zu wenig. Schon vor 30 Jahren prognostizierten Wissenschaftler ziemlich genau, in welche riskante Lage die Menschheit auf ihrem Ausbeutungskurs hineinschlittert, allen voran die Industrieländer, darunter der Kohleförderungsweltmeister Deutschland. Doch die meisten Politiker stellten sich taub, und auch in der breiten Gesellschaft erlangte das Thema selten größere Relevanz.

Das änderte sich erst mit den zunehmenden Dürresommern und Hitzetoten, mit dem Wald- und Insektensterben und natürlich mit den Schülerprotesten vor zwei Jahren, Greta Thunberg, "Fridays for future" und so weiter. Der Druck hat gewirkt, inzwischen haben auch die trägsten Entscheidungsträger verstanden, dass sehr schnell etwas passieren muss – eigentlich. Weil Regierende in der Regel aber nur einen Planungshorizont von wenigen Jahren haben, verhedderten sie sich im Parteienzank; so wurde das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 im Grabenkrieg zwischen Peter Altmaiers CDU-Wirtschaftsministerium und Svenja Schulzes SPD-Umweltministerium zerrieben.

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Erst der Donnerschlag der Karlsruher Verfassungsrichter in der vergangenen Woche hat den trägen Ministern Beine gemacht, und weil die SPD immer noch händeringend nach einem Wahlkampfthema sucht, schwingt sich ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz nun auf den letzten Metern der Legislaturperiode noch rasch zum Klimaaktivisten auf: Bis 2030 soll Deutschland nun 65 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen als 1990, nicht wie bisher geplant nur 55 Prozent, verkündeten Herr Scholz und Frau Schulze gestern. Außerdem wollen sie den vollständigen Verzicht auf CO2-Ausstoß bereits im Jahr 2045 statt 2050 erreichen. Schon kommende Woche soll das Bundeskabinett die neuen Ziele abnicken. Wie genau sie zu erreichen sind und wer den dafür nötigen Umbau der gesamten deutschen Energieversorgung wann und wie organisieren und bezahlen soll, sagten die beiden Minister nicht. Aber das ist ja das Schöne an Zielen: Sie klingen erst mal gut. Und um das Kleingedruckte darf sich dann die nächste Bundesregierung kümmern.

Dabei dürften wir eigentlich keinen einzigen Tag mehr verlieren. Denn die aktuellen Klimaschutzpläne von Regierungen rund um den Globus reichen nicht aus, um die Erderwärmung wie gewünscht bis zum Jahr 2100 auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Stattdessen würde vermutlich ein Anstieg um 2,4 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit erreicht, haben Forscher soeben berechnet. 0,9 Grad Unterschied: Was klingt wie eine Petitesse, verändert unsere Welt grundlegend. Ein knappes Grad kann den Unterschied bewirken, ob Millionen Menschen und Tiere in einer halbwegs stabilen Natur leben können – oder eben nicht.

Wenn wir es mit dem Klimaschutz wirklich ernst meinenund die Bevölkerung verlangt genau das – müssen wir sofort und entschieden handeln. Das wird teuer, schmerzhaft und konfliktreich. Wir werden unseren Lebensstil überdenken und unsere Wirtschaft in großen Teilen neu ausrichten müssen. Wir werden viele gute Ideen brauchen und ja, wir werden auch Verzicht üben müssen. Eine gewaltige Aufgabe für die gesamte Gesellschaft, vor allem aber für die Politik. Von der jetzigen Bundesregierung ist bis auf vage Versprechungen nicht mehr viel zu erwarten, sie hat sich zu lange der Transusigkeit hingegeben. Daran ändert auch der heutige Petersberger Klimadialog nichts, auf dem sich Frau Schulze, Frau Merkel, UN-Generalsekretär António Guterres und der britische Premier Boris Johnson mal wieder gegenseitig beteuern werden, wie unheimlich ernst sie dieses Klimathema nehmen. Ob es eine künftige grün-schwarze oder schwarz-grüne Regierung besser macht? Immerhin stehen die Grünen bereits in den Startlöchern; Annalena Baerbock erwägt laut einem Bericht der "Zeit", ein Super-Umweltministerium zu schaffen. Klingt nach einem großen Plan. Ob er konkret wird, bleibt abzuwarten.


Wiedergewonnene Freiheit

Wenn alle wollen, kann es tatsächlich auch mal zügig gehen: Am Dienstag hat das Bundeskabinett Lockerungen für Corona-Geimpfte beschlossen, heute steht die Verordnung von Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) im Bundestag zur Abstimmung, schon morgen soll sie den Bundesrat passieren. Und dann, ja dann könnten ab dem Wochenende vollständig Geimpfte und Genesene tatsächlich ein Stück Normalität wiedererlangen: Rechtlich gleichgestellt mit negativ Getesteten, dürfen sie wieder ohne vorherigen Test in Geschäfte, Zoos oder zum Friseur gehen, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gehören dann für sie der Vergangenheit an. Lediglich Maskenpflicht und Abstandsgebot im öffentlichen Raum sollen weiterhin für alle gelten.

So erfreulich diese wiedergewonnenen Freiheiten für derzeit rund sieben Millionen Menschen sind, so wünschenswert wäre es auch, dass die Regierenden in Bund und Ländern sich gleich der nächsten Aufgabe zuwenden: der Einführung eines digitalen Impfpasses, mit dem die Bürger per Handy nachweisen können, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Wäre doch schön, wenn daraus mal keine organisatorische Blamage würde.


Briten haben die Wahl

Parlamentswahlen in Schottland und Wales, Lokalwahlen in England: Erstmals seit Beginn der Pandemie und dem Brexit-Vollzug werden die Briten heute an die Urnen gerufen. Besonders spannend ist der Wahlausgang in Schottland, wo die Zustimmung für Regierungschefin Nicola Sturgeon als Gradmesser für deren Unabhängigkeitskurs gilt.


Was lesen?

Täglich erreichen uns viele Zuschriften. Darunter finden sich Gedanken, Lob und Anregungen, häufig aber auch Unmut. Immer wieder äußern Leserinnen und Leser den Wunsch, dass die Artikel auf t-online "neutraler" sein sollten. Höchste Zeit, mit einem Missverständnis aufzuräumen.


Vor gut einem Jahr war Lothar Wieler quasi unbekannt – heute rät ihm die Polizei davon ab, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen: zu gefährlich. Wie viele Politiker und Journalisten wird auch der Chef des Robert Koch-Instituts angefeindet und bedroht. Unsere Kolumnistin Nicole Diekmann zeigt, wie Facebook und Twitter unseren gesellschaftlichen Frieden zerstören.


Was amüsiert mich?

Gestern habe ich mich versehentlich auf Facebook verirrt. Bin schnell wieder gegangen.

Informieren Sie sich lieber in anständigen Medien. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gut informierten Tag. Morgen greift Florian Wichert für Sie in die Tasten, der Wochenend-Podcast pausiert. In den kommenden Tagen schreiben meine Kollegen Sven Böll, Camilla Kohrs, Peter Schink, Janna Halbroth und Johannes Bebermeier den Tagesanbruch; ich bin ab 19. Mai wieder für Sie da.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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