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Weltklimagipfel (COP26) in Glasgow: Sehenden Auges in die Katastrophe


Tagesanbruch
Sehenden Auges in die Katastrophe

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.10.2021Lesedauer: 6 Min.
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Wolkenhimmel nahe Hannover: Die Natur wird sich radikal verändern.Vergrößern des Bildes
Wolkenhimmel nahe Hannover: Die Natur wird sich radikal verändern. (Quelle: Julian Stratenschulte/dpa-bilder)

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Jetzt sind alle gefordert

Wir kennen das von uns selbst: Unbequeme Pflichten verschieben wir gern in die Zukunft. Die Steuererklärung muss gemacht werden? Ah, stimmt, mach ich nächstes Wochenende. Der Keller bräuchte dringend mal eine ordnende Hand? Ja, kommt in den nächsten Ferien dran. Im Garten modert der Zaun vor sich hin, die Nachbarn gucken schon missmutig? Ja, ja, weiß ich doch, kümmere mich demnächst drum! Wir schreiben uns eine dicke Notiz in den Kalender, unterstreichen sie zweimal, setzen noch ein Ausrufezeichen dahinter – und wenden uns zufrieden angenehmeren Dingen zu. Schließlich haben wir ja nun einen Plan. Und wenn dann das nächste Wochenende oder der nächste Ferientag gekommen ist, sehen wir die Notiz, denken daran, wie lästig so eine Steuererklärung, wie anstrengend ein ganzer Nachmittag im stickigen Keller und wie ermüdend die Gartenarbeit ist – und verschieben die guten Vorsätze abermals. Das ist im Alltag glücklicherweise keine Katastrophe, wir sind ja alle nur Menschen, und irgendwann ruckeln sich die Dinge schon zurecht.

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Exakt dasselbe Verhalten legen wir alle miteinander auch bei einem anderen Thema an den Tag – doch leider lösen sich die Probleme dabei nicht einfach in Wohlgefallen auf. Dort hat unsere kollektive Aufschieberitis katastrophale Folgen. Die Menge an Treibhausgasen in der Erdatmosphäre wächst und wächst, Corona hin oder her, und alle halbherzigen Bemühungen zum Schutz des Klimas gleichen nur dem berühmten Tropfen auf dem heißen Stein. Kraftwerke, Fabriken, Autos, Lkw, Flugzeuge, Schiffe und die Massentierhaltung heizen den Planeten auf, als gäbe es kein Morgen. Die zaghaften Fortschritte beim Umbau der Energieversorgung in Europa und Nordamerika reichen vorne und hinten nicht und werden durch eine gegenläufige Entwicklung andernorts konterkariert: China, Indien, Südafrika, Russland, Brasilien und andere Länder setzen trotz vollmundiger Sonntagsreden weiterhin voll auf fossile Brennstoffe. Sie bauen neue Kohlekraftwerke, verkaufen Kohle, Öl und Gas, holzen Urwälder ab und bauen gigantische Sojafelder an.

Die Vereinten Nationen haben soeben alle bisherigen Anstrengungen im globalen Klimaschutz neu bewertet und kommen zu einem ernüchternden Fazit: Die globale Durchschnittstemperatur wird bis zum Ende des Jahrhunderts 2,7 Grad Celsius wärmer. Das mag nach wenig klingen, doch die Folgen sind dramatisch. Ganze Weltregionen, vor allem in Afrika und Asien, werden wohl unbewohnbar. Wissenschaftler rechnen mit Millionen von Klimaflüchtlingen, die globale Wirtschaftsleistung dürfte sich um ein Zehntel verringern. Im Vergleich dazu wird der Corona-Schock ein Klacks sein. "Der menschliche Einfluss erwärmt das Klima in einem Tempo, das in den vergangenen mindestens 2.000 Jahren beispiellos ist", schreiben die Autoren des letzten Weltklimaberichts. Nur dass sich damals eben nicht fast acht Milliarden Zweibeiner auf der Erde tummelten.

Wir laufen sehenden Auges in eine Situation hinein, die wir weder überblicken noch kontrollieren können: Das ist in einem Satz die Übersetzung der wissenschaftlichen Prognosen. Und das ist die Ausgangslage, wenn am Sonntag die 26. Weltklimakonferenz im schottischen Glasgow beginnt, von der unsere Reporterin Theresa Crysmann berichten wird. Der Gipfel soll das Forum sein, auf dem die Staaten der Welt ihre Bemühungen für den Klimaschutz koordinieren. In Wahrheit ist er vielleicht der letzte Rettungsanker, den wir noch werfen können. "Wir sind auf dem Weg zu einer katastrophalen globalen Erwärmung", sagt UN-Generalsekretär António Guterres, und seine Kollegin Inger Andersen fügt hinzu, worum es jetzt geht: "Die Welt braucht das Siebenfache der zuletzt geäußerten Ambitionen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen."

Das Siebenfache. Lassen Sie das einfach mal sacken. Dann beginnen Sie vielleicht zu ahnen: Es ist nicht damit getan, dass Sie und ich einmal in der Woche das Auto stehen lassen, dass wir in den nächsten Urlaub mit der Bahn fahren, statt zu fliegen, oder dass wir uns seltener ein Steak auf den Teller legen. Das Siebenfache der bisherigen Klimaschutzbemühungen bedeutet vor allem, dass alle Menschen auf diesem schönen, zerbrechlichen Planeten ein anderes Bewusstsein von den Prioritäten ihres Lebens entwickeln.

Dafür kann man sich ein paar einfache Fragen stellen: Was ist uns wirklich wichtig? Wollen wir in einer halbwegs intakten Natur leben? Was gedenken wir unseren Kindern und Enkeln zu hinterlassen – eine liebenswerte Heimat oder einen Sauhaufen? Brauchen wir wirklich Turnschuhe aus Vietnam, Rindfleisch aus Argentinien und Rotwein aus Australien? Finden wir es gut, dass zentrale Komponenten unseres Autos, unseres Smartphones und unseres Kleiderschranks aus China kommen? Sind wir bereit, in Europa irgendwann mehrere Millionen Afrikaner und Araber aufzunehmen, deren Zuhause unbewohnbar wird? Sind wir gerüstet für die Verteilungskämpfe, die absehbar um Trinkwasser und Nahrung ausbrechen werden? Und vor allem: Interessieren wir uns wirklich für die unangenehmen Fragen, die der Klimaschutz mit sich bringt? Sprechen wir mit Verwandten, Freunden, Kollegen darüber? Verstärken wir das öffentliche Bewusstsein, dass sich schleunigst etwas ändern muss, dass wir alle miteinander entschlossener und konsequenter vorgehen müssen?

Eigentlich ist die Antwort gar nicht so schwer, fast wie im Alltag: Die Steuererklärung muss jetzt gemacht, der Keller jetzt aufgeräumt und der morsche Gartenzaun jetzt sofort repariert werden. Beim Klimaschutz fängt am besten jeder bei sich selbst und seiner Umgebung an: mitdenken, umdenken, Fragen stellen. "Alle wollen die Welt verändern, aber keiner sich selbst", hat der russische Schriftsteller Leo Tolstoi notiert. Beginnen wir doch, ihn zu widerlegen!


Geldhahn zu!

Angesichts der drängenden Klimaschutzziele darf man schon einmal darüber staunen, dass es dieses Phänomen überhaupt noch gibt: die sogenannten umweltschädlichen Subventionen. Staatliche Unterstützung also für Praktiken und Produkte, die eigentlich mit einer Strafe belegt gehören, weil sie Natur und Klima schaden. Beispiele dafür sind die Flächenprämien in der EU-Agrarförderung, das Dieselprivileg, die Energiesteuerbefreiung für Kerosin, Pendlerpauschalen ohne ökologische Lenkungswirkung und die niedrigere Besteuerung tierischer Lebensmittel wie Eier, Milch und Fleisch. Zuletzt seien hierzulande jährlich etwa 67 Milliarden Euro in umweltschädliche Aktivitäten geflossen, meldet der Naturschutzbund.

Heute präsentiert das Umweltbundesamt seine neueste Studie "Umweltschädliche Subventionen in Deutschland". Die potenziellen Ampelkoalitionäre sollten sich das Zahlenwerk genau anschauen. Schon klar, dass Politik immer auch Übergänge gestalten, abfedern und ausgleichen muss. Wer aber hier die richtigen Streichpotenziale identifiziert, schlägt mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er erspart dem Staat Ausgaben, verringert die Kosten, die in der Zukunft durch Umwelt- und Gesundheitsfolgeschäden entstehen – und beseitigt ein Hemmnis für klimafreundliche Produkte und Prozesse am Markt.

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Immer wieder Polen

Erst hielt er vergangene Woche eine Brandrede vor dem Europaparlament in Straßburg, dann schwadronierte Polens nationalkonservativer Premierminister Mateusz Morawiecki in einem Interview mit der britischen Zeitung "Financial Times" von einem "Dritten Weltkrieg" und warf der EU-Kommission vor, sie stelle "mit einer Pistole an unserem Kopf" Forderungen an sein Land. Gestern zeigte sich der Europäische Gerichtshof in Luxemburg von all dem Geplapper unbeeindruckt und verurteilte Polen zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro, weil das Land sich weigert, Urteile zu umstrittenen Justizreformen umzusetzen.

Und was geschieht derweil in Polen? Heute befasst sich das Parlament in Warschau mit einem Gesetzentwurf, der Demonstrationen für die Gleichstellung nicht-heterosexueller Menschen verbieten will. Öffentliche Versammlungen sollen nicht das "Infragestellen der Ehe als Beziehung zwischen Frau und Mann" sowie das "Propagieren der Ausweitung der Ehe auf Personen des gleichen Geschlechts" zum Ziel haben dürfen. Unser Nachbarland ist drauf und dran, sich aus der europäischen Wertegemeinschaft zu verabschieden.


Hello Joe!

US-Präsident Joe Biden bricht heute zu einer mehrtägigen Europareise auf: Morgen bekommt der Katholik eine Audienz bei Papst Franziskus, am Samstag beginnt in Rom der zweitägige G20-Gipfel, von dem unser Reporter Patrick Diekmann berichten wird. Und ab Montag will Biden in Glasgow am Weltklimagipfel teilnehmen. Es ist erst die zweite Auslandsreise seit seinem Amtsantritt im Januar – schon die erste hatte ihn nach Europa geführt.


Was lesen?

"Wird die Dominanz der Münchner nicht langsam langweilig?" Diese Frage zum FC Bayern habe ich Ihnen gestern Morgen im Tagesanbruch gestellt. Gestern Abend sind die Bayern mit 0:5 in Mönchengladbach untergegangen, schon nach der zweiten Runde ist Schluss für den Topfavoriten. Wie das passieren konnte, berichtet Ihnen mein Kollege Andreas Becker.


Kein einziges Intensivbett ist im Klinikum in Mühldorf am Inn noch frei, die Corona-Inzidenz kratzt an der 600er-Marke: In dem bayerischen Landkreis zeigt sich, dass die Pandemie in Deutschland noch lange nicht vorbei ist, berichtet unsere Reporterin Liesa Wölm.



Seit Wochen kommen immer mehr Flüchtlinge über Polen nach Deutschland. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen hat den Kollegen der "FAZ" erklärt, warum er den Kreml hinter der organisierten Migrationswelle sieht.


Was amüsiert mich?

Kreativität hat noch nie geschadet.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Sven Böll den Tagesanbruch, am Montag Johannes Bebermeier. Von mir lesen Sie am Dienstag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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