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Diktatur in China: Die neue Stasi schlägt zu


Tagesanbruch
Die neue Stasi schlägt zu

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 21.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Grenzkontrolle in der chinesischen Stadt Huichun.Vergrößern des Bildes
Grenzkontrolle in der chinesischen Stadt Huichun. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

alle Welt schaut in diesen Stunden auf New York: In einem Wolkenkratzer am East River treffen sich Staats- und Regierungschefs zur Generalversammlung der Vereinten Nationen. Auch Olaf Scholz hat vor wenigen Stunden vor dem Plenum gesprochen. Er warf Putin "blanken Imperialismus" vor, sprach angesichts des Ukraine-Krieges von einem "Desaster für die globale Friedensordnung" und schwor, "keinen russischen Diktatfrieden zu akzeptieren". Was er noch zu sagen hatte, berichten Ihnen unser Reporter Johannes Bebermeier, der den Bundeskanzler begleitet, und unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.

Wenn alle Welt auf einen Ort schaut, geraten andere Ereignisse aus dem Blick. Weil der Tagesanbruch aber den Anspruch hat, auch Entwicklungen abseits des Nachrichtenstroms aufzuspüren, schauen wir heute Morgen nicht nach New York. Sondern nach Tibet.

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Tibet? denken Sie nun vielleicht, hm, lange nichts von gehört. Keine Sorge, da ergeht es Ihnen nicht anders als wohl den meisten Menschen hierzulande. Das Autonomiegebiet im Himalaja sorgt schon länger kaum noch für Schlagzeilen. Anders als früher: Vor 15 Jahren war der Freiheitskampf des vom chinesischen Zentralstaat unterdrückten Bergvolks in deutschen Medien und Fußgängerzonen ein großes Thema. Bei seinem Deutschland-Besuch 2007 wurde der Dalai Lama gar wie ein Weltstar empfangen, Zehntausende Fans versammelten sich mit leuchtenden Augen zu seinen Vorträgen. "Free Tibet!"-Plakate klebten an Unterführungen und Häuserwänden, und auf Balkonen zwischen Flensburg und Füssen flatterten bunte tibetische Gebetsfähnchen zwischen den Geranien.

Mittlerweile scheint sich unser Horizont verengt zu haben. Jetzt schauen wir über die Ukraine eigentlich nur noch hinaus, wenn anderswo etwas ähnlich Katastrophales droht, etwa weil die Chinesen sich vor ihrer Haustür mit Taiwan und über den Pazifik hinweg mit den USA anlegen und dabei immer lauter mit dem Säbel rasseln.

Aus dem abgelegenen Tibet jedoch hört man nicht mehr viel. Bei dem Getöse von Kampfjets und Kanonen ist ein leises "Aua" schließlich kaum wahrzunehmen. Dabei kann man das in Tibet jetzt öfter hören – aber nur, wenn man angestrengt lauscht. Denn der winzige Piks, auf den das Aua folgt, ist blitzschnell wieder vorbei: Ein Tröpfchen Blut, fachmännisch abgenommen, routiniert mit den Daten des Spenders versehen, wandert in eine große Kiste – fertig, das war's schon, war doch gar nicht schlimm! Das weitere Prozedere bleibt sowieso schmerzfrei und geräuschlos: erst der Weg der Probe ins Labor, dann die Erfassung der DNA, schließlich deren digitale Endlagerung in einer riesigen Datenbank. Mindestens 25 Prozent, möglicherweise auch ein Drittel der gesamten tibetischen Bevölkerung haben ihren genetischen Fingerabdruck dem chinesischen Apparat bereits überantwortet. Alte, Junge, Männer, Frauen, Kinder, jeder soll mitmachen. Eine besondere Erwähnung haben die tibetischen Mönche verdient, in deren Reihen der Widerstand gegen die chinesischen Herren besonders groß gewesen ist und die nun mit einem Tröpfchen Blut dafür bezahlen.

Natürlich ahnen die Tibeter, die seit Generationen mit härtesten Repressionen aufwachsen, dass sich nichts Gutes hinter der staatlichen Blutabnahme verbirgt. Das Zähneknirschen der Betroffenen schafft es sogar bis in die Erfolgsberichte der Polizeibehörden hinein, wo der Widerstand als "Verwirrung und Zweifel" vermerkt wird. Sodann werden die versammelten Bauern, Händler, Arbeiter oder Nomaden aber durch "geduldige und akribische Erläuterungen" der Uniform- und Knüppelträger zur Mitwirkung "mobilisiert". Im Klartext: Die Staatsmacht wünscht, dass die Datensammlung flott voranschreitet. Und dieser Wunsch ist allen anderen Befehl.

Eine flächendeckende Erfassung selbst des letzten Hirten in der tibetischen Steppe wäre allerdings sogar für den mächtigen Pekinger Sicherheitsapparat eine gewaltige Herausforderung. Das menschliche Erbgut liefert jedoch Informationen in solcher Fülle, dass die Überwacher sich große Lücken leisten können. Versucht man zum Beispiel, einem unbekannten politischen Unruhestifter auf die Spur zu kommen, genügt ein kleiner Schnipsel seiner DNA, um ihn zu enttarnen – selbst dann, wenn er dem Schleppnetz der Blutproben zuvor entgangen und in keiner Datenbank erfasst ist. Denn einige seiner Verwandten werden dort schon zu finden sein. Die genetische Familienähnlichkeit reicht aus, um die chinesische Stasi dicht an den Gesuchten heranzuführen. Vielleicht gerät auch gleich die ganze Familie in Sippenhaft, wie man es von den brutalen Repressalien in der Nachbarprovinz Xinjiang nur zu gut kennt.

China hat unter der Führung des kontrollversessenen Xi Jinping schon oft die Grenzen dessen verschoben, was man an totalitärer Überwachung für möglich hielt. Am schlimmsten geht es in den "unbequemen" Provinzen im Westen des Reiches zu, wo Tibeter und Uiguren leben und es dem Herrscher im fernen Peking gegenüber an Loyalität mangeln lassen. Dort haben Xis Statthalter nun den nächsten Schritt eingeleitet: den zur Bio-Diktatur. Das Netz aus allgegenwärtiger Videoüberwachung, automatisierter Bildauswertung, Dauerbelauschung von Telefonen und Internet, Verhaltensdokumentation, Straßenkontrollen, Profilen und Dossiers wird noch einmal dichter gewoben: mit einem Merkmal, das niemals offline geht, das unter keiner Maske zu verstecken ist und jeden Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitet. Vor dem Erbgut gibt es kein Entrinnen.

Für Diktator Xi, der sich auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei in dreieinhalb Wochen zum Herrscher auf Lebenszeit küren lassen will, ist das ein gewaltiger Erfolg: Er hat China in ein Land ohnegleichen verwandelt. Sein Zukunftslabor in Tibet und Xinjiang findet sich auf dieser Erde kein zweites Mal, solange man nicht Bücher aus der Romanabteilung aufschlägt und sich in die Dystopien von Science-Fiction-Autoren versenkt. In seinem Streben nach nationaler Größe und totaler Kontrolle ist Herr Xi im Begriff, keine Weltmacht, sondern ein Monster zu erschaffen.

Demokratien wie Deutschland haben deshalb keine Wahl: Sie müssen China, solange es seinen gegenwärtigen Kurs beibehält, auf Abstand halten. Diktaturen, das haben wir mittlerweile auf die harte Tour gelernt, können kein verlässlicher Partner für uns sein – der Putin mit seinem Gas nicht und das Überwachungsregime in Peking schon gar nicht. Kein lukratives Geschäft darf uns darüber hinwegtäuschen. Jede Lieferkette sollte uns daran erinnern, dass man an eine solche Kette auch gelegt werden kann.

Zumal am Ende so einer Kette auch eine Nadel hängen kann. Zum Beispiel dann, wenn man irgendwann nach Ende der Corona-Beschränkungen zu einer Geschäfts- oder Urlaubsreise nach Peking, Shanghai oder Hongkong aufbricht und an der Passkontrolle einem chinesischen Beamten begegnet, der höflich, aber bestimmt um den Zeigefinger bittet: ein kleiner Piks, schon fertig!

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Ja, es ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass die Chinesen beizeiten beginnen, die Bürger anderer Staaten ebenfalls in ihre DNA-Dateien aufzunehmen. Falls sie das nicht ohnehin schon tun. Bis zur Vollidentifizierung jedes Deutschen ist es dann zwar noch ein umständlicher, aber beileibe kein unmöglicher Weg. Falls Sie nun erstens denken: Oh, gut, dass ich von diesen chinesischen Praktiken mal erfahre!, und falls Sie zweitens meinen: Mensch, damit müssten sich die Außenpolitiker in Berlin und Brüssel doch mal beschäftigen!, dann wissen Sie, warum wir heute Morgen nicht nach New York geschaut haben. Sondern nach Tibet.


Termine des Tages

Wie soll Europa weiter mit China umgehen? Das Land schottet sich mit seiner Null-Covid-Strategie immer weiter ab, während die westlichen Demokratien mit dem Virus leben und immer kritischer auf die aggressive Diktatur blicken. Kürzlich hat eine Studie ergeben: Nur noch einige große Konzerne aus der EU investieren in China. Der Mittelstand dagegen hat sich abgewandt und sucht andere Märkte, in denen die Herrscher vertrauenswürdiger sind. Wenn die EU-Handelskammer heute ihr Positionspapier zur Entwicklung Chinas veröffentlicht, dürfte das Wort Abstand dort also wohl eine Rolle spielen.

In New York geht die Generaldebatte der UN-Vollversammlung weiter. Reden werden unter anderem die Präsidenten der USA, der Ukraine und Ungarns. Insgesamt haben sich mehr als 150 Staats- und Regierungschefs für das Treffen angekündigt. Hauptthema ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.

In Washington entscheidet die amerikanische Notenbank über den weiteren Kurs in der Geldpolitik. Falls die Federal Reserve den Leitzins nochmals erhöht, wächst der Druck auf die Europäische Zentralbank, es ihr gleichzutun.

In Berlin veröffentlicht das Bundeskriminalamt seinen Lagebericht zur Organisierten Kriminalität. BKA-Chef Holger Münch wird von Bundesinnenministerin Nancy Faeser flankiert.

Im Pariser Prozess um den islamistischen Terroranschlag in Nizza 2016 beginnen die Aussagen der Überlebenden und Hinterbliebenen. Auch eine Berliner Schulklasse war damals vor Ort, zwei Schülerinnen und eine Lehrerin wurden getötet, als der Attentäter mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge raste. 86 Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt. Angeklagt sind acht mutmaßliche Unterstützer.


Was lesen?

Welch ein Appell! Generalsekretär António Guterres hat zum Auftakt der UN-Generalversammlung die weltweiten Missstände gebrandmarkt und zu entschlossenem Gegensteuern aufgerufen. Hier lesen Sie seine wichtigsten Sätze.

Deutschland und die USA knöpfen sich in New York den türkischen Präsidenten Erdoğan vor. Es gibt viel zu besprechen – und eine Gemeinsamkeit, schreiben unsere Reporter Bastian Brauns und Johannes Bebermeier.


Altern wird immer teurer: Die Kosten für einen Platz in einem Pflegeheim sind jetzt schon hoch – nun steigen sie drastisch. Meine Kolleginnen Annika Leister und Lisa Becke gehen der Frage nach, warum die Bundesregierung das Problem verdrängt.


Deutschlands schwerstes Chemieunglück richtete Verwüstung an. Wann und wo, das lesen Sie auf unserem Historischen Bild.


Was amüsiert mich?

Deutschland hat schon wieder ein neues Problem.

Ich wünsche Ihnen einen problemfreien Tag. Morgen schreibt Camilla Kohrs den Tagesanbruch.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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